Zukunftsgenese. Können sozialwissenschaftliche Theorien des Wandels die Zukunft erklären? Berlin, 20.06.2016. Dr. Dr.



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Transkript:

Zukunftsgenese Können sozialwissenschaftliche Theorien des Wandels die Zukunft erklären? Berlin, 20.06.2016 Dr. Dr. Victor Tiberius

Erkenntnisziele der Zukunftsforschung deskriptiv pragmatisch metatheoretisch normativ theoretisch Ziel: Beschreibung multipler Zukunftsvorstellungen (Szenarien) Methoden: Trendextrapolation, Cross-Impact-Analyse, Simulation, Delphistudie,

Erkenntnisziele der Zukunftsforschung deskriptiv pragmatisch metatheoretisch normativ theoretisch Ziel: Bewertung multipler Zukunftsvorstellungen (Szenarien) Methoden: Orientierung an ethischen Leitvorstellungen, (demokratisch-partizipative) Abstimmung,

Erkenntnisziele der Zukunftsforschung deskriptiv normativ pragmatisch theoretisch metatheoretisch Ziel: Aufzeigen von Handlungs- und Gestaltungsplänen zur Erreichung der gewünschten Zukunft Methoden: Planungsmethoden, Sozialtechnologie/Social Engineering,

Erkenntnisziele der Zukunftsforschung deskriptiv normativ pragmatisch theoretisch metatheoretisch Ziel: Selbstreflexion der Zukunftsforschung Methoden: Wissenschaftstheorien

Erkenntnisziele der Zukunftsforschung deskriptiv normativ pragmatisch theoretisch metatheoretisch Ziel: Erklärung des Zustandekommens von Zukunftspfaden Methoden: sozialwissenschaftliche Theorien des Wandels (im Idealfall empirisch validiert)?

Beschreiben von Zukunftsszenarien Zukunft 1 Zukunft 2 Gegenwart Zukunft 3 Zukunft 4 statisch Zukunft n

Erklären von Zukunftspfaden Zukunft 1 Zukunft 2 Gegenwart Zukunft 3 Zukunft 4 dynamisch Zukunft n

Beispiele für genuin zukunftsgenetische Erklärungsmodelle und -theorien: Weltmodelle, z. B. World3 Model, Bariloche Model, UNO Model, MOIRA Model (1970er) S-Kurven-Modell (Molitor 1977) Makrohistorische Modelle (Galtung/Inayatullah 1997) Integral Studies (Hines 2003) Naturwissenschaftliche/psychologische Ansätze (Peck 2009)

Beispiele nicht zur Erklärung genutzter, etablierter sozialwissenschaftliche Theorien des Wandels: Pfadabhängigkeitstheorie (inkl. Pfadbrechung und Pfadkreation) Symbolischer Interaktionismus Luhmanns nächste Gesellschaft Technologischsoziales Kreislaufmodell Struktureller Netzwerkansatz Strukturationstheorie Soziologie der flüchtigen Moderne Theorie der normativen Integration Theorie reflexiver Modernisierung Lebensweltliche Pathologien Postmoderne Theorie der Praxis Zivilisationstheorie / Strukturgenetische Soziologie

Fragen an die Theorien: Erklärt die Theorie die Vergangenheit oder ist sie auch für die Erklärung von zukünftigen Entwicklungen geeignet? Führt die Theorie zu einer singulären Zukunft oder zu alternativen Zukünften? Welche Rolle spielen mögliche, wahrscheinliche, wünschenswerte und vermeidenswerte Zukunftsvorstellungen? Welche Rolle spielt Unsicherheit? Inwiefern werden Offenheit und Gestaltbarkeit der Zukunft konzeptualisiert? Wodurch wird die Zukunft beeinflusst oder gar bestimmt?

Plädoyer für ein eklektizistisches Vorgehen: Ziel: Nicht nur Einzelbeitrag der jeweiligen Theorie herausarbeiten, sondern bei gegebener Kommensurabilität Integration der Partikularperspektiven zu holistischer Theorie Gleichnis: Die blinden Männer und der Elefant : Elefant als Wand (Seite), Speer (Zahn), Schlange (Rüssel), Baum (Knie), Fächer (Ohr) oder/und Seil (Schwanz) Perspektivismus (Sismondo 1996) Perspektivischer Realismus (Giere 2006, Brante 2010)

Ergebnis: 16+1 Thesen zur Zukunftsgenese

In Einzelnen: These 1: Zukunftsgenese ist ein Prozess mit sowohl quasi-naturwüchsiger als auch gestalterischer Komponente. Die Quasi-Naturwüchsigkeit ist der dominierende Prozess, wenn und solange bewusste Zukunftsgestaltung unterbleibt. These 2: Gruppen bzw. Gemeinschaften werden im Gegensatz zu Individuen und ganzen Gesellschaften (Nationalstaaten) als diejenigen kohäsiven Akteursentitäten betrachtet, die am ehesten den Wandel gestalten können. These 3: Die Vergangenheit (genauer: historisch gewachsene soziale Strukturen) kanalisiert die Zukunftsgenese, determiniert sie aber nicht. Ein Ausbrechen ist möglich. Wandel geschieht jedoch eher evolutionär als revolutionär.

Unterthese 3a: Die Zukunftsgenese einschränkende Handlungsrestriktionen sind objektiver, sehr viel häufiger jedoch psychischer Natur. These 5: These 4: Soziale Strukturen, welche die Zukunftsgenese beeinflussen, verlieren grundsätzlich an Verbindlichkeit. Die Zukunftsgenese ist in Teilen auch ein zufälliger Prozess. These 6: Die proaktive Zukunftsgenese ist ein Prozess, dessen Beginn psychischer (bewusster oder unbewusster) Natur ist.

These 7: Die in die Zukunft gerichteten Denkoperationen verschiedener Akteure stehen in einem rekursiven Verhältnis zueinander (Self-fulfilling oder Self-altering Prophecies). These 8: Die Findung des Bildes einer idealen Gesellschaft oder allgemeiner: eines idealen Zukunftszustandes ist ein Kommunikations- und Abstimmungsproblem, für das bislang keine vollkommene Lösung gefunden wurde. These 9: Zukunftsgenese ist ein politischer Prozess. [Im Sinne von politics, nicht policy.]

These 10: Der Kognition bei der Zukunftsgestaltung schließt sich die entweder auf die Persistenz des aktuellen Status quo oder die Veränderung in der Zukunft gerichtete Handlung an. These 11: Die intentionale Zukunftsgestaltung unterliegt keiner Erfolgsgarantie. These 12: Zukunftsgestaltung ist ein Lernprozess. These 13: Die Gesellschaft wird dynamischer.

These 14: Es ist von einer zunehmenden funktionalen Differenzierung der Gesellschaft und damit einer sozialen und technologischen Komplexitäts- sowie Kostensteigerung auszugehen. These 15: Durch die zunehmende Dynamik, Komplexität und Emergenz nehmen insgesamt Diskontinuitäten und damit auch die Unsicherheit zu. Standardprobleme, für die gesellschaftliche bzw. politische Routinelösungen bestehen könnten, verlieren an Bedeutung, der Bedarf an idiosynkratischen Speziallösungen wächst. These 16: Der Modernisierungsprozess ist beendet oder befindet sich zumindest in einer Krise.

Kritische Aspekte: Theorie mittlerer Reichweite statt Supertheorie, insbesondere bei Makrodimension (Gesellschaft) Methodologischer Individualismus, Relationalismus oder Kollektivismus als axiomatische Grundannahme beeinflusst Theorieformulierung stark Frage nach Menschenbild (aktiv vs. passiv, generalisiert vs. differenziert) Erklärung von Geschichte ist nicht zur Erklärung von Zukunftspfaden verlängerbar (vgl. Extrapolation) Diskontinuitäten und nicht vorstellbare Zukünfte kaum konzeptualisierbar

Fazit: Sind Theorien des Wandels auch Theorien der Zukunftsgenese? Nein. Sie können jedoch als Ausgangsbasis dienen und zu diesen weiterentwickelt werden. Die Berücksichtigung von sozialwissenschaftlichen Theorien des Wandels in der ZF ist unbedingt empfehlenswert.

Vielen Dank!