Reviewed by Manfred Hettling. Published on H-Soz-u-Kult (July, 2001)

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Transkript:

Jin-Sung Chun. Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit: Die westdeutsche "Strukturgeschichte" im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962. München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2000. 277 S. DM 128.00, gebunden, ISBN 978-3-486-56484-6. Reviewed by Manfred Hettling Published on H-Soz-u-Kult (July, 2001) Eines der spannendsten - und schwierigsten - Probleme in der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Debatte liegt darin, nach der Bedeutung des Nationalsozialismus für die Entwicklung der Bundesrepublik zu fragen. Das trifft ebenso für die DDR zu, für welche aber andere Konstellationen zu untersuchen wären. Denn in dem Maße, wie für die nach 1945 Geborenen die demokratische Gegenwart selbstverständlich geworden ist, rückt die undemokratische Vergangenheit der Älteren, der "Aufbaugeneration", zunehmend ins Blickfeld. Weder "Stunde Null"-Mythen noch simple Enthüllungsgeschichten, die das Fortwirken und Fortleben ehemaliger Nationalsozialisten und völkischer Ideen aufdecken, werden der Herausforderung gerecht, die sukzessive Transformation von Akteuren und Ideen zu beschreiben und theoretisch zu fassen. Diese Frage wird in den letzten Jahren intensiv am Beispiel des Verhältnisses von Volksgeschichte (vor 1945) und Struktur- und Sozialgeschichte (seit 1945) diskutiert. Seit öffentlich bekannt und bewußt geworden ist, daß zentrale Figuren der frühen bundesdeutschen Historiographie (Otto Brunner, vor allem aber Werner Conze und Theodor Schieder) ihre akademischen Wurzeln in der "Volksgeschichte" der Zwischenkriegszeit hatten und als "Volkshistoriker" willig an bevölkerungspolitischen Aktivitäten des Nationalsozialismus im Osten teilgenommen haben, seither tobt ein heftiger deutscher Interpretationskampf über die Bewertung dieser Personen und der durch sie in der Bundesrepublik geförderten fachwissenschaftlichen Methoden. Nur zu begrüßen ist es deshalb, wenn ein Blick von außen sich in diese Debatte einmischt. Jin-Sung Chun, Dozent in Korea, hat die historiographischen Positionen bis in die frühen 60er Jahre intensiv rezipiert. So gründlich und beeindruckend seine Arbeit in einer fremden Sprache ist, so wenig Respekt wurde dieser Arbeit vom akademischen Betreuer und dem Lektorat entgegengebracht. Denn eine sorgfältige Lektüre hätte viele sprachliche und stilistische Ungereimtheiten ausbügeln können. Auch angesichts des Buchpreises hätten Käufer und Leser das erwarten dürfen. Chuns Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Verhältnis von zeitgenössischem Konservativis

mus und Historikerschaft nach 1945. Mehr als es bisher meist wahrgenommen wurde, stellt er die intellektuelle Bedeutung der Konservativen heraus. Damit kann genauer differenziert werden, nicht alles erscheint sofort und zwangsläufig als "nationalsozialistisch". Zu begrüßen wäre es, wenn die Arbeit dazu anregte, das schillernde Spektrum des "Jungkonservatismus" bzw. der "konservativen Revolution" intensiver als bisher zu untersuchen. Personen wie Hans Freyer würden damit in ihrer nicht zu überschätzenden Bedeutung für junge Bürgerliche in der Weimarer Zeit genauer faßbar. Auch wenn Freyer um 1933 sich eindeutig auf den Nationalsozialismus eingelassen hat - spannend wird diese Frage vor allem dann, wenn man das Augenmerk darauf richtet, inwiefern "konservative Revolutionäre" wie Freyer (aber auch wie Heidegger oder Jünger) zu Weichenstellern für eine breite Akzeptanz des Nationalsozialismus in bürgerlichen Kreisen wurden. Chuns Arbeit kann hier durchaus Neues und Anregendes aufweisen. Nach zwei gewissermaßen das Problem aufbereitenden Kapiteln über das Verhältnis von Historikern und Konservativismus sowie über die unterschiedliche Auffassungen der Moderne bilden zwei größere Kapitel den eigentlichen Kern der Arbeit. Zuerst wird die "Strukturgeschichte" (nach 1945) als neue Methode skizziert, danach wird das Bild der "modernen Welt" in 'strukturgeschichtlichen' Arbeiten untersucht. Hierbei liegt die Konzentration zu Recht vor allem auf den Mitgliedern des Conzeschen "Arbeitskreises für Sozialgeschichte". Ob jedoch die Zeitgeschichte so pauschal der Strukturgeschichte zugerechnet werden kann, wie es hier geschieht, muß mehr als bezweifelt werden. Differenzierter in dieser Hinsicht Sebastian Conrad, Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945-1960, Göttingen 1999. Chuns zentrales Argument lautet, daß eine konservativ motivierte "ambivalente" Sicht der Moderne nach 1945 einerseits theoretisch fruchtbar gemacht und in neue historische Methoden umgesetzt worden sei, andererseits eine fortbestehende Kritik der Moderne ausschließlich aus diesen konservativen Wurzeln resultiere. Die Bedeutung, die dem bürgerlichen Konservativismus in intellektueller Hinsicht zukam, dürfte kaum zu überschätzen sein. In diesem Argument liegt das anregende Potential der Arbeit. Doch ist die Pauschalität der Argumentation in mehrfacher Hinsicht zu differenzieren und einzuschränken. 1. Erstens vernachlässigt Chun die Radikalität der "konservativen Revolution". Ob sie nur eine "Umsetzung ihrer konservativen Ideale in der modernen Welt" (Chun, S. 28) wollte, ist zu bezweifeln. In Freyers "Revolution von rechts" (1931) wird ein radikaler Wandel der Gesellschaft postuliert. Das Attraktive des Volksbegriffs lag für viele damals darin begründet, daß er eine Abkehr vom "alten Volk" der Vormoderne wie von der Interessenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft verhieß. "Volk" erlangte eine eschatologische Dimension. "Volk" war im traditionellen Verständnis noch "so etwas wie eine Weihnachtsbescherung" - zwar eine "Substanz unser selbst", doch unabhängig vom Willen der einzelnen, so Freyer 1931 in der "Revolution von rechts" (S. 52). Nun aber sei es "nicht mehr bloß" dieser allumfassende "Grund", sondern "Stoßkraft im Tageslicht des Geschehens". Überholt seien die alten Modelle - "sei s Ständestaat, sei s Körperschaftsidee, sei s nachbarschaftliche Aufgliederung" (Freyer, Revolution, 53). Deshalb auch sei es unmöglich, die "Struktur" des "werdenden Volkes" vorherzubestimmen. Das revolutionäre Prinzip des Zeitalters sei "keine Struktur... sondern es ist reine Kraft" (S. 53). An Freyer ließe sich auch zeigen, wie diese kulturkritische Diagnostik (ohne ihre eschatologische Aufladung) nach 1945 weiterlebte und in eine mehr oder weniger kritische Analyse der industriellen Gesellschaft mündete, wie aber die metaphysische Konstruktion des Volkes als Gegenkraft und Gegenbewegung hierzu seit 1945 weg 2

fiel. Für die Historiker hat Conze diese Position 1957 programmatisch zusammengefaßt und dafür plädiert, die "Wirklichkeit der modernen Daseinszerlegung anzuerkennen". Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe für Forschung und Unterrreicht, Köln 1957, hier S. 21. Verkürzt ist es überdies, jede Kritik der Moderne als konservativ zu bezeichnen. So spricht die gesamte linke Kulturkritik seit Adorno (die hier nicht erwähnt wird Wenn als Beleg für die konservative Sicht der Moderne die Gefahr der "Massendemokratie" beschrieben wird, die die Strukturhistoriker beschrieben hätten, dann würde auch Jürgen Habermas zum Strukturhistoriker und Konservativen. Denn im "Strukturwandel der Öffentlichkeit" verwendet er dasselbe Argument. ) gegen diese Reduktion. So ist es kaum plausibel, Broszat als "für die westdeutschen Strukturhistoriker typische, modernitätskritische Sicht" (S. 230) zu nehmen. 2. Das weist auf die zweite Schwäche der Arbeit. Der Begriff der "Moderne" ist viel zu amorph, um ein sinnvolles Leitkriterium abzugeben, zumal er in Chuns Arbeit nie präzise definiert und entwickelt wird. Das macht es möglich, Wolfgang Köllmann einerseits eine "durchaus positive Haltung zur Moderne", gleichzeitig aber auch eine "kritische Beschreibung der gesellschaftlichen Modernisierung" zuzuschreiben (S. 199, 200f.) - und hierin die für die Strukturgeschichte im Geiste des Konservativismus typische Ambivalenz gegenüber der Moderne zu erkennen. Was dann eigentlich noch an Positionen jenseits dieser dem Konservativismus zugeschrieben Ambivalenz bliebe, bleibt offen. Wahrscheinlich nur noch die heute so populäre kulturalistische Werteindifferenz. Ebenso vage und unpräzise wandert der Generationenbegriff durch die Arbeit. 3. Ungenau ist drittens die weit gefaßte Verwendung des Begriffs "Strukturhistoriker". Fast scheint es, als ob die westdeutschen Historiker nach 1945 generell "Strukturhistoriker" gewesen seien. Auf diese Art wird eine Konformität intellektueller Positionen unterstellt, die so nicht gegeben war. Ebenso ist es unverständlich, wenn Franz Schnabels Technikkritik durch den diagnostizierten Verlust von individueller Freiheit charakterisiert wird und er deshalb als "Liberaler" und nicht als konservativer Modernitätskritiker erscheint - während Conze eine ganz analoge Position nicht ebenfalls zum "Liberalen" macht. Conze beschreibt in Umformulierung von Freyers sekundären Systemen (oder Webers "Rationalisierung") ebenfalls in dramatischen Worten die Gefährdungen von individueller Freiheit, die durch die Moderne im Gegensatz zu früheren Epochen gegeben seien: "Auch und gerade eine Gesellschaft, die den Menschen weithin zum funktionalisierten Teilhaber unüberschaubarer Kreisläufe und Apparaturen werden läßt, bedarf in erhöhtem Maße der schöpferischen, zu relativ freier und verantwortlicher Entscheidung fähigen und bereiten Persönlichkeit. Zwingende Strukturen legen den Menschen nicht nur fest, sondern fordern den sie verändernden und gestaltenden Menschen heraus. Erfolgt auf diese Herausforderung keine Antwort mehr, so treibt die politische Ordnung zur Auflösung und verfällt einem geschichtlich Stärkeren, der im technisch-funktionalen Zwang nicht nur effektvoller, sondern auch moralisch kräftiger zu handeln versteht. Darin liegt der Kern der weltgeschichtlichen Auseinandersetzung unserer Tage im Kampfe zwischen den Machtblöcken, Wirtschaftssystemen und Ideologien." Conze, Die Strukturgeschichte, S. 17. 4. Viertens stellt Chun sich nicht die Frage, inwiefern auch andere Wurzeln der Strukturgeschichte nach 1945 gegeben sind als nur die in einer ungebrochenen Kontinuität beschriebene konservative Deutung der Ambivalenz der Moderne. So bleibt ungeklärt, inwiefern Personen wie Conze oder Schieder nach 1945 einen Wandel an politischen Wertideen vollzogen haben, es bleibt ebenfalls offen, inwiefern es ein "Lernen" aus der eigenen Geschichte im Nationalsozialismus gegeben hat. Die Möglichkeit von "Erfahrungswandel und Methodenwechsel" (Koselleck), die Chance zu 3

Lernprozessen wird hier vernachlässigt. Wenn außerdem behauptet wird, eine "methodologische Neuorientierung" (S. 235) habe nach 1945 stattgefunden und die fortbestehenden konservativen Positionen nun historiographisch fruchtbar gemacht, so kann man das gerade nicht mit Brunners Begriffsgeschichte oder Aubins Ostforschung belegen, denn deren begriffs- und sozialgeschichtliche Ansätze sind schon lange vor 1945 konzipiert und praktiziert worden. Zur Unterscheidung der Begriffsgeschichte à la Brunner und der vor allem von Koselleck konzipierten, für die "Geschichtlichen Grundbegriffe" maßgebend werdenden Begriffsgeschichte vgl. Christoph Dipper, Die "Geschichtlichen Grundbegriffe". Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: HZ 270.2000, 281-308, hier 288f. Das machte ja nicht zuletzt die Attraktivität der "Volksgeschichte" für viele Zeitgenossen aus, die eben nicht nur aus den politischen Implikationen, sondern auch aus dem theoretischen Potential resultierte. Die "Strukturgeschichte" der 50er Jahre war auch deshalb keine historiographische Innovation aus dem Geist geläuterter konservativer Modernitätskritik allein. Nicht nur, daß sozial- und begriffsgeschichtliche Methoden bereits im Kontext der Volksgeschichte in der Zwischenkriegszeit angewandt wurden - der Strukturbegriff, aber ebenso die kulturalistische Fundierung des begriffsgeschichtlichen Ansatzes wurde im Kern in der Theoriediskussion der Jahrhundertwende gelegt. Freyer ist hier wiederum die nicht zu vernachlässigende Figur - über Lamprecht und die Leipziger Zirkel wanderte (in modifizierter Begrifflichkeit) das theoretische Potential von Max Weber und anderen in die Kreise der Historiker der 20er und 30er Jahre. Knapp dazu Manfred Hettling und Andreas Suter, Struktur und Ereignis - Wege zu einer Sozialgeschichte des Ereignisses, in: dies. Hg., Struktur und Ereignis, Göttingen 2001, S. 7-32. speziell der "konservativen Revolution" verankert war, ist zuzustimmen. Doch bleibt ungeklärt, welche politischen Wandlungen Autoren wie etwa Freyer oder Brunner nach 1945 nicht gemacht haben, welche Lernprozesse und Adaptionen an die Demokratie Historiker wie Conze und Schieder nach 1945 durchlaufen haben und ob es dabei Grenzen gab und wo gegebenefalls die Grenzen in einem solchen Lernprozeß lagen. So überzeugend und wichtig die Frage der Beziehungen zwischen "konservativer Revolution" und "Volksgeschichte" einerseits ist, so geht doch die Entwicklung der "Strukturgeschichte" nach 1945 nicht ausschließlich in den von Chun beschriebenen Kontinuitäten auf. Diese waren gebrochener, als sie hier erscheinen. Doch darauf hingewiesen zu haben und jenseits moralischer Verurteilungen intellektuelle Kontinuitäten zu untersuchen, das ist das Verdienst dieser Arbeit. Chuns These, daß das spezifische Erkenntnisinteresse der Volks- und Strukturhistoriker nicht im machtpolitischen Terrain des Nationalsozialismus, sondern im deutschen Konservativismus, 4

If there is additional discussion of this review, you may access it through the network, at http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ Citation: Manfred Hettling. Review of Chun, Jin-Sung. Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit: Die westdeutsche "Strukturgeschichte" im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962. H-Soz-u-Kult,. July, 2001. URL: https://www.h-net.org/reviews/showrev.php?id=16325 This work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 3.0 United States License. 5