Kann man aus den sinnlichen Dingen intellektuelle Erkenntnis gewinnen?

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Transkript:

Technische Universität Darmstadt Institut für Philosophie PS / LK Thomas von Aquin: Von der Wahrheit Dozent: Dr. Jens Kertscher Sommersemester 2009 Kann man aus den sinnlichen Dingen intellektuelle Erkenntnis gewinnen? Thomas von Aquin: Summa Theologica, Teil 1, Quaestio 84, Artikel 6 Christina Dost Anschrift Telefon e-mail Adresse Matrikelnummer Studiengang Fächer / Fachsemester Modul

Die Summa Theologica ist eines der Hauptwerke von Thomas von Aquin. Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Anschauungen und Lehrmeinungen. In dieser Sammlung bezieht Thomas von Aquin den Glauben und das Wissen seiner Zeit aufeinander. Als Quellen werden die Bibel, wichtige Theologen, aber auch Philosophen herangezogen. Neben der Bibel kann Aristoteles als wichtigste Quelle gelten. 1 Thomas von Aquins theologisch-philosophisches Werk ist in drei Teile untergliedert, wobei der dritte Teil unvollendet blieb. Die Teile der Summa Theologica sind in Quaestionen unterteilt und diese wiederum in Artikel, die eine bestimmte These oder Fragestellung verfolgen. Im Folgenden soll ein kurzer Textabschnitt aus der Summa Theologica genau untersucht werden. Es handelt sich um den Artikel 6 der Quaestio 84, innerhalb des ersten Teils des Werks von Thomas von Aquin. Die Quaestionen 84-88 werden als besonders wervoll erachtet, da sich Thomas von Aquin hier mit der geistigen Erkenntnis auseinandersetzt. 2 Im Artikel 6 der Quaestio 84 soll nun die Frage beantwortet werden: Kann man aus den sinnlichen Dingen intellektuelle Erkenntnis gewinnen? Untersucht wird im Folgenden, wie Thomas von Aquin den Zusammenhang zwischen sinnlicher Wahrnehmung und intellektueller Verstandeserkenntnis darstellt. Die einzelnen Schritte der Argumentation werden herausgearbeitet. Hierbei soll ein besonderes Augenmerk darauf gelegt werden, von welcher Anfangsthese ausgegangen wird und zu welchem Ergebnis Thomas von Aquin kommt. In diesem Zusammenhang wird der besondere Aufbau des Artikels und die Methodik der Vermittlung Thomas von Aquins dargestellt. Eingegangen wird des Weiteren auf die philosophischen Quellen, auf die Thomas von Aquin bei seiner Argumentation zurückgreift. Hier sind vor allem Aristoteles, Augustinus und Platon zu nennen. Es wird untersucht, inwiefern die Lehrmeinungen dieser Philosophen zur Beantwortung der Frage nach dem Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und intellektueller Verstandeserkenntnis beitragen. Der 6. Artikel der Quaestio 84 trägt als Überschrift die Frage: Ob man die intellektuelle Erkenntnis aus den sinnlichen Dingen gewinnt 3. Durch die vorangestellte Fragestellung hat der Leser das Thema des Artikels von Anfang an vor Augen. Dies führt zur Verständlichkeit des Argumentationsverlaufs für den Leser. Der Artikel beginnt mit der These: Es scheint, daß man die intellektuelle Erkenntnis nicht aus den sinnlichen Dingen gewinnt. 4. Thomas von Aquin begründet diese These nun durch drei Argumente des Philosophen und Theologen Augustinus. Die Argumente sind von 1 bis 3 nummeriert. Das erste Argument beginnt mit: Es scheint... 5 und der These. Die beiden weiteren Argumente beginnen jeweils mit 1 Vgl. Schönberger, Ralf: Thomas von Aquin. Zur Einführung, Hamburg 1998, S. 28f. 2 Vgl. ebda, S. 104f. 3 Thomas von Aquin: Fünf Fragen über die intellektuelle Erkenntnis, Hamburg 1986, S. 20. 4 Ebda, S. 20. 5 Ebda, S. 20.

Außerdem... 6. Im ersten Argument erklärt Augustinus die These damit, dass man von Sinneswahrnehmungen keine unverfälschte Wahrheit erwarten darf. Als Beispiel führt er das Sehen von Bildern im Schlaf oder im Wahnsinn an. Das wichtigste Moment dieser Überlegung ist, dass man mit den Sinnen nicht unterscheiden kann, ob man... das Sinnliche selbst oder falsche Bilder von ihm... 7 wahrnimmt. Man kann also nicht mit Sicherheit sagen, ob eine sinnliche Wahrnehmung wahr oder falsch ist. Augustinus schließt daraus, dass man von der sinnlichen Wahrnehmung keine Wahrheit erwarten kann. Da man aber durch die intellektuelle Erkenntnis die Wahrheit erfasst, kann man zu dieser Verstandeserkenntnis nicht durch sinnliche Wahrnehmung gelangen. Auf dieses Fazit von Augustins folgt dessen zweites Argument. Hier erklärt er, dass der Körper nicht auf den Geist einwirkt,... als ob der Geist dem werktätigen Körper wie ein Stoff unterworfen wäre... 8. Der Geist steht dementgegen über dem Körperlichen und arbeitet nur... selbst in sich selbst. 9. Daraus schließt Augustinus wiederum, dass die geistige Erkenntnis nicht aus der körperlichen Sinneswahrnehmung gewonnen werden kann. Im dritten Argument führt Augustinus an, dass der Verstand Dinge erkennt, die mit den Sinnen nicht erfasst werden können. Daraus folgert er zum dritten Mal, dass sich die intellektuelle Erkenntnis nicht von den Sinnen ableitet. In diesem erten Teil des Artikels wird die Ausgangsfrage durch die Ansichten des Philosophen Augustinus in eine bestimmte Richtung beantwortet. Das Fazit aus Augustinus drei Argumenten ist jeweils, dass man die intellektuelle Erkenntnis nicht aus der sinnlichen Wahrnehmung gewinnen kann. Auf diesen Abschnitt folgt eine Gegenthese zu Augustinus Antwort: Aber dem steht entgegen, daß der Philosoph (...) den Satz begründet, daß der Anfang unserer Erkenntnis in der sinnlichen Wahrnehmung liegt. 10. Hier wird deutlich ausgedrückt, dass es eine Gegenargumentation zu Augustinus Sichtweise gibt. Diese Gegenargumentation wird als besonders wichtig herausgestellt, da sie durch den Philosophen Aristoteles legitimiert wird. Auf das Gegenargument des Aristoteles wird zunächst nicht näher eingegangen. Zum ersten Mal spricht nun Thomas von Aquin den Leser direkt in der Ich-Form an. Er erklärt, dass es seiner Meinung nach unter den Philosophen drei verschiedene Anschauungsweisen zum Verhältnis von intellektueller Erkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung gibt. Diese stellt Thomas von Aquin nun nacheinander dar. Zunächst geht er nocheinmal kurz auf die zuvor schon dargestellte Sichtweise des Augustinus ein, indem er sich auf den Philosophen Demokrit bezieht. Für Demokrit ist die... Ursache für jede Erkenntnis (...) daß von den uns umgebenden Körpern, die wir denken, Bilder kommen und in unsere Seelen eintreten... 11. Hier ist gemeint, dass der Verstand sich direkt durch eine Veränderung der wahrgenommenen 6 Thomas von Aquin, S. 21. 7 Ebda, S. 21. 8 Ebda, S. 21. 9 Ebda, S. 21. 10 Ebda, S. 21. 11 Ebda, S. 21.

Bilder, wandelt und entwickelt. Thomas von Aquin erklärt den Fehler dieser Ansicht Demokrits durch Aristoteles. Aristoteles tellt fest,... daß sowohl Demokrit selbst wie die anderen alten Naturphilosophen den Verstand nicht vom Sinn verschieden sein ließen... 12. Durch diese Vermischung der Begriffe Sinn und Verstand kann die Frage nach der Abhängigkeit von intellektueller Verstandeserkenntnis und sinnlicher Wahrnehmung nur damit beantwortet werden, dass die Erkenntnis direkt aus der Sinneswahrnehmung folgt. Die Ansicht Demokrits wird hier also wegen der fehlenden Begriffsdifferenzierung als falsch herausgestellt. Auf die Betrachtung der Meinung Demokrits folgt die Darstellung der Anschaungsweise von Platon. Dieser... behauptet im Gegenteil, der Verstand sei von dem Sinne verschieden... 13. Nach Platon ist der Verstand ein unstoffliches Vermögen, das sich keines körperlichen Organs bedient. Daher könne die intellektuelle Verstandeserkenntnis auch nicht von der sinnlichen Wahrnehmung abhängen. Der Verstand ist für Platon eine für sich wirkende geistige Kraft. Auch den Sinn selbst sieht Platon als geiste Kraft, die nicht durch sinnliche Wahrnehmung verändert werden kann. Eine gewisse Beeinflussung des Verstandes und des Sinnes durch die sinnliche Wahrnehmung ist allerdings nach Platon möglich. Er erklärt, dass... das Sinnliche (...) die sinnliche Seele zur sinnlichen Wahrnehmung... 14 anregt und dass... die Sinne die intellektive Seele zum Denken... 15 anregen. Im Gegensatz zu Demokrits Ansicht, die besagt, dass man die intellektuelle Erkenntnis aus der Sinneswahrnehmung gewinnt, sind bei Platon Verstand und sinnliche Wahrnehmung deutlich getrennt. Die Sinneswahrnehmung kann den Verstand lediglich anregend beeinflussen. Als dritte Ansicht zum Thema stellt Thomas von Aquin nun die Meinung des Philosophen Aristoteles dar. Thomas von Aquin ordnet die Ansicht des Aristoteles als mittleren Weg zwischen Demokrit und Platon ein. Aristoteles unterscheidet ebenfalls Verstand und Sinn. Ähnlich wie Demokrit behauptet Aristoteles, dass der Sinn... keine eigene Tätigkeit ohne Mitbeteiligung des Leibes... 16 habe. Die Wahrnehmung ist für ihn ein Akt des Ganzen aus Leib und Seele. Der Sinn wird daher von der sinnlichen Wahrnehmung beeinflusst. Im Gegensatz zu Demokrit sagt Aristoteles aber über den Verstand, dass dieser... seine Tätigkeit ohne Beteiligung des Körpers habe. 17. Daher kommt es nach Aristoteles durch die sinnliche Wahrnehmung allein nicht zur intellektuellen Verstandeserkenntnis. Die Verstandeserkenntnis wird jedoch auch nicht durch die bloße Einwirkung gewisser höherer Dinge verursacht. Der wirkende Verstand (...) macht die von den Sinnen empfangenen Phantasiebilder, in Weise einer gewissen Abstraktion, aktuell intelligibel. 18. Aristoteles spricht hier von einer Synthese 12 Thomas von Aquin, S. 22. 13 Ebda, S. 22. 14 Ebda, S. 22f. 15 Ebda, S. 23. 16 Ebda, S. 23. 17 Ebda, S. 23. 18 Ebda. S. 23.

des sinnlich Wahrgenommenen durch den Verstand. Die Bilder aus der Sinneswahrnehmung werden durch einen Prozess im Verstand abstrahiert und intelligibel also geistig erkennbar gemacht. Thomas von Aquin zieht nun ein Fazit zu Aristoteles Ansicht. Er fasst als Ergebnis zusammen, dass die wahrgenommenen Bilder den Verstand nicht verändern können, sondern dass diese Bilder erst durch den wirkenden Verstand intelligibel gemacht werden müssen. Daher, so schließt Thomas von Aquin,... kann man nicht sagen, daß die sinnliche Erkenntnis die ganze und vollkommene Ursache der Verstandeserkenntnis sei, sondern sie ist vielmehr gewissermaßen die Materie der Ursache. 19. Die intellektuelle Verstandeserkenntnis ist also nicht direkt aus den sinnlichen Dingen zu gewinnen, da diese sinnlichen Dinge erst durch den wirkenden Verstand ungewandelt werden müssen. Die sinnliche Wahrnehmung lliefert aber den Stoff für die Erkenntnis und kann die Verstandeserkenntnis demnach eindeutig beeinflussen. Auf der Grundlage der drei dargestellten philosophischen Meinungen von Demokrit, Platon und Aristoteles zur Frage Kann man aus den sinnlichen Dingen intellektuelle Erkenntnis gewinnen? geht Thomas von Aquin nun auf die drei zu Beginn des Artikel aufgeführten Argumente des Philosophen Augustinus ein. Zu jedem der drei Argumente gibt es hier einen kurzen Abschnitt. Die von Augustinus gemachten Aussagen werden nun in gewisser Weise weiterentwickelt, sodass sie leicht korrigiert, nun doch darauf hinweisen, dass die intellektuelle Verstandeserkenntnis durch die sinnliche Wahrnehmung beeinflusst wird. Hier gewinnt der Beginn des Artikels: Es scheint, daß man die intellektuelle Erkenntnis nicht aus den sinnlichen Dingen gewinnt. Denn Augustinus sagt... 20 nocheinmal eine ganz neue Bedeutung. Nach Thomas von Aquin scheint es also nur so, als würde Augustinus diese These vertreten. Betrachtet man die Aussgagen des Augustiuns auf der Grundlage der Darstellungen von Demokrit, Platon und Aristoteles aus einem anderen Blickwinkel, finden sich auch hier Hinweise darauf, dass die Verstandeserkenntnis durch die sinnliche Wahrnehmung beeinflusst werden kann. Auf Augustinus drittes Argument, dass man mit dem Verstand Dinge erkennen kann, die man mit den Sinnen nicht erfassen kann, antwortet Thomas von Aquin wie folgt. Dies ist in gewisser Weise richtig, da... die sinnliche Erkenntnis nicht die vollständige Ursache der Verstandeserkenntnis ist. 21. Daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn die Verstandeserkenntnis sich über das Sinnliche hinaus erstreckt. Dies ist die letzte von Thomas von Aquin festgehaltene Aussage dieses Artikels. Sie gilt als Fazit und als Antwort auf die Ausgangsfrage Kann man aus den sinnlichen Dingen intellektuelle Erkenntnis gewinnen? Nachdem nun der Inhalt des Artikels untersucht wurde, wird jetzt auf die Methodik eingegangen. Sehr wichtig für den Inhalt des Artikels und für das Verständnis des Lesers ist der Aufbau bzw. die Struktur des Artikels. Beginnend mit der Frage Ob man die intellektuelle 19 Thomas von Aquin, S. 24. 20 Ebda, S. 20. 21 Ebda, S. 25.

Erkenntnis aus den sinnlichen Dingen gewinnt 22 stellt Thomas von Aquin zunächst drei Argumente des Philosophen Augustinus vor. Diese sind übersichtlich von 1 bis 3 durchnummeriert. Das erste Argument beginnt mit Es scheint... 23. Die beiden weiteren Argumente beginnen mit Außerdem... 24. Durch die Argumente, die alle die These begründen, dass die intellektuelle Erkenntnis nicht aus den sinnlichen Dingen gewonnen werden kann, wird die Frage scheinbar schon in eine bestimmte Richtung beantwortet. Auf die drei Argumente des Augustinus folgt aber eine Gegenthese, die durch den Philosophen Aristoteles legitimiert wird. Im weiteren Verlauf des Artikels stellt Thomas von Aquin nacheinander die Ansichten der Philosophen Demokrit, Platon und Aristoteles dar und entwickelt daran seine eigene Lehrmeinung. 25 Als Abschluss des Artikels geht Thomas von Aquin nocheinmal auf die drei Argumente des Augustinus ein, widerlegt bzw. korrigiert diese. 26 Er kommt somit zur Antwort auf die Ausgangsfrage, die lautet, dass die sinnliche Wahrnehmung und Erkenntnis zwar nicht die vollständige Ursache der Verstandeserkenntnis ist. Die sinnliche Wahrnehmung beeinflusst die intellektuelle Verstandeserkenntnis jedoch, indem sie den Stoff liefert, der durch den wirkenden Verstand verarbeitet wird. Der sehr strukturierte Aufbau des Artikels ist typisch für Werke wie die Summa Theologica. Die Summa Theologica ist in Quaestionen unterteilt. Bei den Quaestionen handelt es sich um eine wissenschaftliche Abhandlung in einer bestimmten literarischen Form. Diese Form der wissenschaftlichen Abhandlung ist als Lehr- und Lernpraxis an mittelalterlichen Universitäten weit verbreitet. Quaestionen beinhalten mehrere Artikel. Die Artikel stehen jeweils unter einer bestimmten Fragestellung und beginnen mit einer These, die durch mehrere Argumente belegt wird. Diese These gibt bereits eine Antwort auf die Ausgangsfrage, die aber nicht die Lehrmeinung des Autors darstellt. Auf diese Argumente folgt eine Gegenargument, hier durch Aristoteles. Im Artikelkern wird dann anahnd weiterer Philosophen eine Analyse vorgenommen, durch welche sich die Lehrmeinung des Autors herausgestellt wird. Zum Abschluss des Artikels folgt eine Stellungnahme zu den Anfangsargumenten. 27 Dieser Artikelaufbau kann als eine Art Textsorte in solchen Werken gesehen werden. Thomas von Aquin sagt im Prolog zur Summa Theologica ausdrücklich, dass sich das Werk an Anfänger richtet. Thomas von Aquin fungiert hier also als Lehrender. Dies erklärt den systematisch geordneten Aufbau, der zum Verständnis der Gedankengänge für den Leser beitragen soll. 28 Neben dem Inhaltlichen, sowie dem Aubau bzw. der besonderen Methodik des Textes, ist die Verwendung der philosophischen Quellen ein wichtiges Moment. Thomas von Aquin greift 22 Thomas von Aquin, S. 20. 23 Ebda, S. 20. 24 Ebda, S. 21. 25 Vgl. Höffe, Otfried: Aristoteles. München 2006, S. 186. 26 Vgl. Schönberger, S. 116f. 27 Vgl. Pieper, Josef: Thomas von Aquin. Leben und Werk. München 1990, S. 141ff. 28 Vgl. ebda, S. 134f.

auf Ansichten und Meinungen der Philosophen Augustinus, Demokrit, Platon und Aristoteles zurück. Hierdurch kann er verschiedene Antworten auf die Ausgangsfrage darstellen und legitimieren. Besonders wichtig und anerkannt ist der Rückgriff auf Aristoteles. Die Lehren des Aristoteles gelten, zur Zeit als Thomas von Aquins Werk entsteht, als allgemein richtige und anerkannte Lehrmeinungen. Aristoteles gilt als überragende intellektuelle Autorität. 29 Thomas von Aquin verwendet die Ansichten des Aristoteles daher um seine eigenen Anliegen durch dessen Argumente zu unterstützen und um seine Beantwortung der Ausgangsfrage zu legitimieren. 30 Der Artikel 6 der Quaestio 84 beantwortet also die Ausgangsfrage durch eine sehr strukturierte Abhandlung und Analyse, mittels dem Rückgriff auf die Meinungen verschiedener Philosophen. Zunächst ist zu sagen, dass der untersuchte Textabschnitt aus Thomas von Aquins Werk Summa Theologica, sehr systematisch aufgebaut ist. Es handelt sich um eine an mittelalterlichen Universitäten übliche literarische Form einer wissenschaftlichen Abhandlung, die in Quaestionen und Artikel unterteilt ist. Der Aufbau des Artikels zielt darauf, den Lesern, bei denen es sich um Lernende handelt, die Analyse und die schließliche Beantwortung der Ausgangsfrage verständlich zu machen. Der konsequente Aufbau des Artikels ist sehr bemerkenswert und weist deutlich darauf hin, dass Thomas von Aquin hier als Lehrender fungiert. Die Untersuchung des Inhaltes des Artikel 6 der Quaestio 84 führt zu folgenden Ergebnissen. Der Artikel beginnt mit der Ausgangsfrage Ob man die intellektuelle Erkenntnis aus den sinnlichen Dingen gewinnt. Zunächst wird die These aufgestellt, dass man die intellektuelle Erkenntnis nicht aus den sinnlichen Dingen gewinnt. Diese These wird durch drei Argumente des Philosophen Augustinus begründet. Es folgt die Gegenthese des Philosophen Aristoteles, der sagt, dass der Anfang der intellektuellen Erkenntnis in der sinnlichen Wahrnehmung liegt. Es folgt nun eine gründliche Analyse durch Thomas von Aquin. Dazu untersucht er die Meinungen der Philosophen Demokrit, Platon und Aristoteles. Demokrit ist der Meinung, dass die intellektuelle Verstandeserkenntnis durch die Sinne verursacht wird. Die Falschheit dieser Annahme belegt Thomas von Aquin durch die Aussage des Aristoteles, nach der Demokrit Verstand und Sinn nicht unterscheidet. Die Betrachtung der Meinung des Philosophen Platon zeigt, dass dieser Verstand und Sinn unterscheidet und die These vertritt, dass die sinnliche Wahrnehmung die sinnliche Seele und die intellektuelle Seele zum Denken anregt. Zuletzt stützt sich Thomas von Aquin auf die Anschauungsweise von Aristoteles. Das Fazit aus dieser Betrachtung ist, dass die sinnlich wahrgenommenen Bilder im wirkenden Verstand abstrahiert werden müssen, um sie intelligibel zu machen. Dadurch wird klar, dass die sinnliche Wahrnehmung nicht die vollkommene Ursache der Verstandeserkenntnis sein kann. Die sinnliche Wahrnehmung liefert aber den Stoff, der durch dessen Verarbeitung im 29 Vgl. Höffe, S. 284. 30 Vgl. Schönberger, S. 36f.

Verstand zur Erkenntnis führen kann. Die sinnliche Wahrnehmung hängt also durchaus mit der Verstandeserkenntnis zusammen. Auf der Basis dieser Erkenntnisse widerlegt und korrigiert Thomas von Aquin dann, die drei Argumente des Augustinus. Durch diese Widerlegung kann seine eigene Lehrmeinung als legitimiert gelten. Eine weitere wichtige Feststellung bei der Untersuchung des Artikels ist die Hervorhebung der Lehren des Philosophen Aristoteles. Es ist auffällig, dass sich Thomas von Aquin deutlich auf Aristoteles bezieht, indem er durch dessen Argumente zur Antwort auf die Ausgangsfrage kommt. Aristoteles übernimmt daher eine tragende Rolle in der Analyse und Beantwortung der Ausgangsfrage. Er wird für die Leser als derjenige Philosoph dargestellt, der die richtige und wahre Lehrmeinung repräsentiert. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Thomas von Aquins theologisches Werk Summa Theologica hier sehr interessante philosophische Fragestellungen verfolgt und wissenschaftlich analysiert. Niedernberg, 25. Juni 2009 Christina Dost