Ältere Migrantinnen und Migranten: Eine neue Zielgruppe für Alters- u. Pflegeheime? CURAVIVA-Impulstagung, 7. Mai 2014, Zürich H. Hungerbühler, Ethnologin und Gerontologin, SRK, Dep. Gesundheit und Integration, Leiterin Stab Grundlagen und Entwicklung Übersicht Teil I:Einführung ins Thema Demografische Fakten Ökonomische, gesundheitliche und soziale Situation Bedürfnisse Ressourcen Teil II: Vielfältige Migrationsbiografien Vielfältiges Altern: Ergebnisse aus der Studie Hungerbühler/Bisegger, 2012: und so sind wir geblieben. Ältere Migrantinnen und Migranten in der Schweiz Einige Schlussfolgerungen für die Betreuung und Pflege älterer Migrantinnen und Migranten 22.05.2014 Seite 2 1
Ältere Migrantinnen und Migranten: ein neues Thema? So neu nicht, nur das Altern im Migrationskontext ist neu Annahme der mehrheitlichen Rückkehr ins Herkunftsland = nicht bestätigt Interesse am Thema erst in Anfängen Gründe dafür: Zielgruppe ist statistisch noch nicht relevant Andere Prioritäten in der Altersarbeit u. politik sowie der Integrationsarbeit und politik In der Forschung erst ein marginales Thema Aus Sicht der Politik = (noch) kein Handlungsbedarf Handlungsdruck aus der Praxis = Erkenntnisinteresse wächst Erhebungen und Situationsanalysen zu Pflegesituation und bedarf (Modelle) Perspektive auf ältere MigrantInnen = eher defizit- als ressourcenorientiert Perspektivenwechsel ist gefragt! 22.05.2014 Seite 3 1. Zahlen und Fakten zur älteren Migrationsbevölkerung 2008: über 250'000 Menschen über 65 Jahren mit Migrationshintergrund (inkl. Eingebürgerte) in der Schweiz 2020: etwa 400'000 Personen (inkl. Eingebürgerte) Ausländische Staatsangehörige (65+) Ende 2010: - aus rund 160 Ländern - ein Zehntel der Wohnbevölkerung in diesem Alter - etwa gleich viele eingebürgerte Migrantinnen und Migranten Ausländische Staatsangehörige (80+) Ende 2010: - Die Mehrzahl ist weiblich 22.05.2014 Seite 4 2
Ständige ausländische Wohnbevölkerung nach Nationalität, Altersgruppe und Geschlecht Quelle: Bundesamt für Statistik (Stand 31.12.12) Grafik: SRK / Gesundheit und Integration Verbleib in der Schweiz oder Variante Pendeln: Gründe Ehemalige Heimat hat sich verändert (Risiko von Desintegration bei Rückkehr) Einstige Fremde (Schweiz) ist neues Zuhause Familiäre Banden (Kinder u. Grosskinder) Gesundheitsversorgung und soziale Sicherung im Alter Zunehmend: Nutzung der Personenfreizügigkeit im Rahmen der bilateralen Verträge durch saisonales Pendeln Rückkehrentscheid: emotionale und materielle Herausforderung 3
Materielle Situation als Folge der Arbeits- und Lebensbiografie (Quellen: BSV, 2010 und Pro Senectute Schweiz, 2009) Beschäftigung als unqualifizierte ArbeiterInnen zu tiefen Löhnen; hoher Anteil an Working Poor Häufig Frühpensionierung wegen Invalidität Tiefe Altersrenten Ergänzungsleistungen - Schweizer RentnerInnen: 11% - Ausländische RentnerInnen: 24% Erhöhtes Risiko der Altersarmut bei der Migrationsbevölkerung Im Durchschnitt schlechtere Gesundheit im Alter Schlechtere Gesundheit (Subjektive Einschätzung gemäss Gesundheitsbefragungen und GMM, 2011) Folge der Arbeitsbiografie: Beschäftigung in gesundheitsschädigenden und invalidisierenden Sektoren des Arbeitsmarktes Psychische Belastungen: Trennung von Familie, Diskriminierungserfahrung durch Überfremdungsinitiativen, Lebensbedingungen als ehemalige Saisonniers, Traumatisierung als Flüchtlinge) Kumulative Wirkung ungünstiger sozialer Gesundheitsdeterminanten Erhöhtes Risiko gesundheitlicher Mehrfachbelastung 4
Anteil der Personen mit sehr gutem oder gutem Gesundheitszustand nach nationaler Herkunft unter und über 50 Jahren (GMM II, 2011) Soziale Situation im Alter Verwitwete und Alleinstehende = erhöhtes Risiko der Vereinsamung Familie als soziales Stützsystem mit positiver Wirkung auf Wohlbefinden; Rolle als Grosseltern Vergemeinschaftung in eigenen sozialen Netzwerken/Organisationsstrukturen: ethnischen Migrationsvereinen, kirchliche Missionen, Gewerkschaften, Altersgruppen, etc. Im 3. Lebensalter: Hohes Selbstorganisations- und Handlungspotenzial; Selbsthilfeinitiativen (vgl. www.altermigration.ch) 4. Lebensalter: Unterstützungsbedarf wächst 5
Bedürfnisse älterer MigrantInnen Gesellschaftliche Würdigung ihrer Leistungen für die Schweiz Interesse für ihre Biografie und Lebenssituation im Alter Interesse für ihre Aktivitäten Finanzielle und infrastrukturelle Unterstützung ihrer eigenen Aktivitäten (in Vereinen, etc.) Mitsprache, Mitwirkung und Mitentscheidung bei Themen und in Lebensräumen, die sie betreffen. Teilweise auch demokratische Rechte (Stimm- und Wahlrecht) sowie automatische oder erleichterte Einbürgerung Bedürfnisse älterer MigrantInnen Muttersprachliche Information zur rechtlichen Situation nach der Pensionierung (AHV, EL, Aufenthaltsrechtliches etc.) Muttersprachliche Information zu Fragen von Gesundheit und Krankheit im Alter Muttersprachliche Information zu den Dienstleistungen im Altersbereich Ihren Bedürfnissen entsprechende vielfältige Wohn-, Betreuungs- und Pflegemodelle 6
Ressourcen älterer MigrantInnen Migrationsbiografie im Falle einer geglückten Integration = Ressource für die Lebensgestaltung im Alter Widerstandsfähigkeit (Resilienz) aufgrund der Entwicklung von erfolgreichen Strategien im Umgang mit Krisensituationen Kompetenter Umgang mit Verlustprozessen im Alter Vergemeinschaftung in eigenen sozialen Netzwerken = Potenzial der Selbstorganisation und Identitätsstiftung im Alter; Mobilisierung von Ethnizität als Ressource für kollektive Interessensvertretung Familiäre Solidarität als soziale Sicherung Download unter www.ekm.admin.ch 7
Bilder über die ältere Migrationsbevölkerung Wahrnehmung und Beschreibung als homogene Gruppe mit folgenden Merkmalen: Bildungsfern Herkunfsorientiert Traditionell und konservativ Rückkehrorientiert Keine Kenntnisse der deutschen Sprache Nicht oder schlecht integriert Eigene Netzwerke als Zeichen der Nicht-Integration Isoliert Krank Frauen = zurückgezogen und schwer erreichbar 22.05.2014 Verletzliche Menschen als Zielgruppe der SRK-Dienstleistungen Seite 15 Erkenntnisse aus der Studie des SRK (im Auftrag EKM u. Nat. Forum Alter u. Migration, 2012) Die ältere Migrationsbevölkerung gibt es nicht! Hohe Vielfalt nach: Migrationsgrund Nationaler Herkunft Bildungs- und Arbeitsbiografie Zivilstand Politischer Überzeugung Religionszugehörigkeit Integration / Partizipation in der Schweiz / Selbstorganisation (eigene Netzwerke) Alter(n) ist auch bei der Migrationsbevölkerung vielfältig! Ältere Migrantinnen und Migranten = PionierInnen ihrer Generation 22.05.2014 Seite 16 8
Altern - ein Spiegelbild der Migrationsbiografie? Vielfältige Migrationsgründe und biografien vielfältiges Altern vielfältige Bedürfnisse, aber auch Ressourcen: Arbeitsmigration (aus Italien, Spanien, Portugal, Ländern des früheren Jugoslawien) Fluchtmigration: Asyl oder humanitäre Aufnahme (Kontingentsflüchtlinge: z.b. aus Vietnam, Iran, Bosnien, Kosova) in verschiedenen politischen Zusammenhängen Familienzusammenführung (Kriegsflüchtlinge) Prekäres Altern als Sans-Papiers Auszug aus einer Arbeitsmigrationsbiografie Arben S., ehemaliger Saisonnier aus dem Kosovo, 63 Jahre An einem Tag mussten wir einen Kanal graben, 10 Meter lang, 1 Meter breit und 1 Meter tief. Alle anderen sagten Nein, ich sagte Ja. Mit einer grossen Familie musste man. Das war schwierig. Wir mussten alles geben, gut arbeiten, damit wir im nächsten Jahr wieder eine Garantie erhielten. Die Familie lebte im Kosovo und konnte erst kommen, wenn wir eine B-Bewilligung hatten. ( ) Die Jahre, in denen wir alleine hier gelebt haben, sahen so aus: Den Tag durch arbeiten, dann waren wir müde und der Kühlschrank war leer. ( ) Als dann die Familie nach Jahren endlich in die Schweiz kommen durfte, war das die schönste und glücklichste Zeit für mich. 9
Auszug aus einer Flüchtlingsbiografie Lan N., Flüchtling aus Vietnam, 78 Jahre Lan N. kam erst mit 55 Jahren in die Schweiz. Auf der Flucht wurde ihre Familie auseinandergerissen. Nicht alle ihrer Kinder überlebten. In der Schweiz pflegt sie ihren von der Flucht psychisch schwer angeschlagenen Mann, der dann bald stirbt. Sie führt ein aktives Leben im Alter. Gefragt, wie es ihr gehe, meint sie: Ich bin gesund, eine strake Frau und schön, habe viele Kinder, die erfolgreich sind, nichts ist schief gelaufen. Alles, was ich mir gewünscht habe, ist in Erfüllung gegangen. Das macht mich stolz auf mich und mein Leben. Betreuung und Pflege Innerfamiliäre Pflege: immer schwerer realisierbar (Vereinbarkeitsproblematik work & care bei 2. Generation) Stationäre Betreuung/Pflege als sozial zunehmend tolerierte Option Trotz früherer Alterung und schlechterer Gesundheit erst ca. 1 Zehntel in Alters- und Pflegeeinrichtungen (BfS) Künftig vermutlich Zunahme 10
Vielfältige Modelle Wohnen, Betreuung und Pflege Vielfältige und individuell unterschiedliche Vorstellungen und Bedürfnisse benötigen entsprechend mehrere nebeneinander bestehende Angebote/Betreuungsmodelle wie z.b. eine transkulturelle Öffnung der Regelversorgung (Gezielte Massnahmen zur Senkung der Zugangshürden) Ethnopezifische Sonderdienste ( mediterrane Abteilungen ) als für die 1. Generation sinnvolle Dienstleistungen Architektonisches Symbol der Öffnung 11
Kulinarisches Symbol der Öffnung Kochen, Essen und Reden...... ein Stück biografische Heimat! Manfred Hielen Statements älterer Migrantinnen und Migranten zum Thema Alter und Wohnen in der Schweiz Vielfältige Bedürfnisse an Wohnen, Betreuung und Pflege im höheren Alter: «Eine mediterrane Wohnabteilung in einem Altersheim reizt mich nicht so. Ich glaube, ich würde mich an einem andern Ort gut anpassen. Klar wäre es schön, wenn dort noch eine spanisch sprechende Person wäre. Normalerwiese gibt es ja auch immer mindestens eine.» Carmen G., Arbeitsmigrantin aus Spanien, 72 Jahre «Ich lebe seit 2007 in einem Alters- und Pflegeheim. Ich habe für meinen Sohn eine Stelle hier gefunden. Nun sehe ich ihn jeden Tag. Ich fühle mich wohl hier und bin dankbar, dass ich hier leben kann. In Sri Lanka müssen auch alte Menschen noch arbeiten. Hier hat es eine sehr gute Versorgung und Pflege. Ich geniesse die Sauberkeit, das Essen schmeckt mir und das Personal ist nett zu mir. Meine Kinder hätten keine Zeit, sich jeden Tag um mich zu kümmern.» Varathan, S., Flüchtling aus Sri Lanka, 85 Jahre 12
Statements älterer Migrantinnen und Migranten zum Thema Alter und Wohnen in der Schweiz Vielfältige Bedürfnisse an Wohnen, Betreuung und Pflege im höheren Alter: «Ich möchte - solange ich noch gehen kann - gemeinsam mit meiner Frau zu Hause wohnen bleiben. Nur wenn wir beide krank sind oder ich alleine übrig bleibe, ist das Altersheim eine Option für mich. Ich habe keine Angst wegen der Verständigung dort. Ich kann mir nicht vorstellen, dort einmal nur mit anderen Kosovaren zusammen zu leben. Mein ganzes Leben habe ich mit Menschen verschiedener Herkunft zusammen gearbeitet, mit Italienern, Spaniern, Schweizern. Ich bin eine offene Person und interessiere mich für andere.» Arben S,. Ehemaliger Saisonnier aus dem Kosovo, 63 Jahre Empfehlung: Vielfältige ältere Menschen haben vielfältige Bedürfnisse. Es benötigt verschiedene nebeneinander bestehende Modelle des Wohnens, der Betreuung und Pflege. Kompetenz im Umgang mit Vielfalt! 22.05.2014 Verletzliche Menschen als Zielgruppe der SRK-Dienstleistungen Seite 26 13
Vernetzung und good practice www.alter-migration.ch Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 14