Professionelle Lebensgemeinschaften und Pflegefamilien unterschiedliche Arrangements und unterschiedliche Probleme?

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Transkript:

Professionelle Lebensgemeinschaften und Pflegefamilien unterschiedliche Arrangements und unterschiedliche Probleme? Früher, als die Welt insgesamt noch übersichtlicher schien, waren die beiden großen Fremdunterbringungsformen auf einen Blick zu unterscheiden: Heimerziehung fand in Heimen statt, die schon auf den ersten Blick als Heime häufig anstaltsartiger Architektur und Umgangsformen zu erkennen waren und in Pflegefamilien, die offensichtlich Familien waren, als Form des privaten Zusammenlebens von mindestens zwei Generationen in einem gemeinsamen Haushalt. Heute bedarf es schon recht genauer Rechtskenntnisse, um zum Beispiel eine Erziehungsstelle nach 34 KJHG also ein Heimerziehungsarrangement - von einer nach 33 KJHG - also einer Pflegefamilie - zu unterscheiden. Die beiden Felder der Fremderziehung haben sich eindrucksvoll ausdifferenziert und in beiden Feldern eine erhebliche Formenvielfalt entwickelt (Freigang & Wolf 2001: Niederberger & Bühler-Niederberger 1988). Dabei ist ein Überschneidungsbereich entstanden, in dem der Phänotypus der Arrangements sich kaum noch unterscheidet. Dies ist das vorläufige Ergebnis zweier Entwicklungslinien, die man als Familialisierung der Heimerziehung und Professionalisierung des Pflegekinderwesens bezeichnen kann. Zwar hat die Bezeichnung familienähnliche Heimerziehung schon lange Hochkonjunktur und sie kann wohl als von außen betrachtet: merkwürdiger - Versuch verstanden werden, sich von der Anstaltserziehung abzugrenzen, mit der die meisten Heime allerdings wirklich nichts mehr gemein haben. Aber die Betreuung in einer Lebensgemeinschaft, also im unmittelbaren Zusammenleben von professionellen Erzieherinnen und Kindern, hat doch erst in den letzten 25 Jahren an Bedeutung gewonnen, obwohl Pestalozzi ja schon ein allerdings nicht nur verführerisches Beispiel gegeben hat. Auch gibt es schon lange spezielle Pflegekinderdienste und die Notwendigkeit, Pflegepersonen vorzubereiten und zu schulen ist nicht neu, aber die systematische Ausbildung, eine Bezahlung, die sich an anderen beruflich ausgeübten Tätigkeiten orientiert, und die Etablierung eines organisatorischen Rahmens für systematische Fortbildungen und Supervision (vgl. Lutter 1999) sind so relativ neue Entwicklungen, wie das Erwachen der Pflegekinderdienste, die manchenorts aus ihrer professionellen Nische herausgelockt wurden. Dies kann man als - sicher nicht abgeschlossene - Professionalisierung des Pflegekinderwesens verstehen. Beide Entwicklungslinien zusammen führen zu der oben konstatierten Überschneidung. Interessanterweise bleiben die jeweiligen fachlichen Diskurse aber weitgehend getrennt. Die Tagungen im Pflegekinderwesen und die in der Heimerziehung verfolgen in der Regel ihre alten konzeptionellen Leitideen weiter und nehmen kaum Anregungen aus dem Nachbarfeld auf. Eher hat man den Eindruck, dass gegenseitig stereotype Vorstellungen tradiert werden. Dies ist bedauerlich, weil es irritierende und Entwicklungen auslösende Anregungen verhindert. Ich möchte für eine höhere gegenseitige Aufmerksamkeit werben. Vielleicht ist die Zeit dafür ganz günstig, weil freie Träger manchenorts die Aufgaben der vorher kommunalen Pflegekinderdienste übernehmen (vgl. z.b. Krumbholz 2003) und weil Kostenträger sich vielleicht jetzt systematischer dafür interessieren, was die Gemeinsamkeiten und was die Unterschiede ausmachen. Da sich die Evangelische Jugendhilfe vorrangig an Einrichtungen richtet, die auch stationäre Unterbringung betreiben, möchte ich einige Debatten aus dem Pflegekinderwesen kurz skizzieren und daraus Fragen an die stationäre Jugendhilfe ableiten. Zunächst sollen aber einige Annahmen relativiert werden, die ich in Gesprächen mit Kolleginnen aus der Heimerziehung häufig höre zum Beispiel die, dass Kinder im Heim ja nur relativ kurz blieben, während sie in Pflegefamilien über lange Zeiträume aufwüchsen. Schon 1988 (S. 312) haben B. Biermann und D. Wälte ihre Untersuchungsergebnisse so zusammengefasst: Die Annahme und die Forderung, dass Heime, im Unterschied zur Pflegefamilie, ihre besondere Aufgabe im Bereich der Interimsfunktion haben (...) wird durch (diese) Untersuchung nicht bestätigt. Eher zeigt sich das genaue Gegenteil: Es sind nicht die Heime, sondern tendenziell die Pflegefamilien, aus denen die Kinder relativ oft bereits nach kurzem Aufenthalt wieder ausscheiden und zwar, wiederum im Unterschied zu den Heimen, verhältnismäßig oft mit denn Ziel der Rückführung in die Herkunftsfamilie. Auch im europäischen Vergleich fällt die deutsche Heimerziehung durch relativ lange Betreuungszeiten auf (vgl. Trede 2003). Dies kann auch als Beleg gedeutet werden, dass es hier 1

Heimerziehungsarrangements gibt, die als attraktive Lebensorte auf Dauer erlebt werden. Damit ist der Effekt aber sicher nicht ganz erklärt. Es bleibt die Frage, ob wir nicht erst einmal die Kinder aufnehmen, sie versuchen in die Heimgruppe zu integrieren und uns erst nach ein bis zwei Jahren wieder ernsthafter der Frage zuwenden, ob und wie eine Rückkehr ins Elternhaus möglich ist. In anderen Ländern kümmert man sich um den Erhalt und die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern vom ersten Tag der Aufnahme im Heim intensiver. Für eine vergleichende Forschung ist die durchschnittliche Unterbringungsdauer also zu undifferenziert. Was auch immer wir dabei herausfinden werden, die Annahme, in Pflegefamilien kämen vorrangig die Kinder mit langer Betreuungsperspektive und die Heimerziehung betreibe in erster Linie das schwierige Geschäft der kurzfristigen Krisenintervention ist zweifelhaft. Allerdings gibt es gute Gründe (unverändert eindrucksvoll das Plädoyer von M. Bonhoeffer 1980), für die Betreuung insbesondere jüngerer Kinder mit langer Betreuungsperspektive andere Arrangements zu suchen als große Schichtdienstgruppen. Die Einwände gegen die andauernde Betreuung in einem so instabilen, dauerhafte Bindungen erschwerenden Sozialisationsfeld haben auch zur Entwicklung von professionellen Lebensgemeinschaften beigetragen, und dies ist eine sinnvolle Antwort der Heimerziehung auf die Kritik. Kontinuitätssichernde Planung Noch grundlegender ist ein Entscheidungsgrundsatz, den Erwin Jordan aus der amerikanischen Fachdiskussion zur Fremdunterbringung in Pflegefamilien in die deutsche Fachdiskussion eingeführt hat. Er schreibt (Jordan 1996, S. 36): Gegenüber der vor allem bei uns nicht seltenen Praxis, Kinder erst einmal in eine Pflegestelle zu bringen, um Entlastung in einer Drucksituation zu erlangen, und dann mehr oder minder passiv abzuwarten, wie die Dinge sich weiter entwickeln, steht bei»permanency planning«wir würden in einer deutschen Übersetzung hier von»kontinuitätssichernder Planung«sprechen wollen die Sicherung der Zukunftsperspektive der Kinder im Vordergrund, was entweder bedeuten kann, die Rückkehroption möglichst rasch unter optimaler Unterstützung des Herkunftsmilieus zu realisieren oder aber eine auf Dauer gesicherte Lebensperspektive des Kindes in der Pflegefamilie oder was in den Vereinigten Staaten häufiger angestrebt wird in einem Adoptionsverhältnis zu sichern. Und er setzt fort (Jordan 1996, S. 37):»Rückführung«ist nicht die zentrale Leitnorm dieses Ansatzes, sondern die Sicherung eines dauerhaften Lebensortes für das Kind. Wenn also im Rahmen der Planung eine Rückkehr als unrealistisch angesehen wird, sollen alle Aktivitäten darauf gerichtet werden, dem Kind eine neue Eltern-Kind-Beziehung (Adoption oder Pflegefamilie) dauerhaft abzusichern und dann auch dieses Ziel durch begleitende Elternarbeit (Ablösung, Bewältigung der Trauer, Möglichkeit der Kontakte bzw. Beziehungen unter Respektierung, dass die Elternverantwortung nun auf andere Personen übergegangen ist) abzustützen. Wir wissen seit langem, dass häufige Wechsel des Lebensortes für die Entwicklungschancen der Kinder und Jugendlichen außerordentlich ungünstig sind. Trotzdem beobachten wir immer wieder, dass die zeitliche Perspektive der Fremdunterbringung nicht hinreichend geklärt wird und dass es in der Biographie einzelner Jugendlicher Serien an Ortswechseln innerhalb der Jugendhilfe, zwischen Jugendhilfe und Psychiatrie und manchmal zwischen Jugendhilfe und Elternhaus gibt, die fast immer zu einer weiteren Eskalation führen. Kontinuitätssicherung ist daher ein zentrales Qualitätsmerkmal für das Hilfeplanverfahren und die Bewertung der Leistungsfähigkeit von Einrichtungen. Pathogenes Beziehungsdreieck Die Diskussionen im Pflegekinderwesen waren lange durch eine geradezu fundamentalistisch geführte Auseinandersetzung um Ersatz- oder Ergänzungsfamilienkonzepte geprägt und blockiert. Insbesondere viele Texte von Nienstedt und Westermann lesen sich als ob eine die Besonderheiten des Einzelfalls abwägende Prüfung gar nicht notwendig wäre, sondern das richtige Ergebnis a priori feststehe. Diese Position verfehlt somit einen zentralen Qualitätsstandard der Erziehungshilfen. Hingegen anregend für die Jugendhilfediskussion ist die Beschreibung eines pathogenen Beziehungsdreiecks zwischen Kind, Herkunftsfamilie und Pflegefamilie, das man auf Konstellationen in der Heimerziehung leicht übertragen kann. Das pathogene Dreieck wird von M. Schumann (1987, S. 62) so definiert: 2

Das Pflegekind kann also auch in dieser Situation in ein "pathogenes Dreieck" geraten: interessiert es sich für seine abwesenden leiblichen Eltern, kränkt dies die Pflegeeltern und/oder es muss befürchten, dass die fernen Eltern seine Zuneigung zu den Pflegeeltern missbilligen. Es entsteht, wenn es nicht gelingt, die Rivalität zwischen den erwachsenen Bezugspersonen zu vermeiden: Unsere Hypothese lautet: Es sind vielleicht weniger die einzelnen Reaktionen von Pflegeeltern oder Herkunftseltern, die sich belastend auf das Kind auswirken, sondern der Dauerstress, unter dem das Kind steht, wenn es in die Situation des "pathogen Dreiecks" gerät. Dies entsteht dann, wenn sich zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern keine einigermaßen tragbare Beziehung entwickelt, sondern beide Parteien in erster Linie um das Kind rivalisieren (Schumann 1987, S. 61) Das Dilemma für die Kinder wird in dem folgenden Zitat deutlich: Selbst in Pflegeverhältnissen, in denen lange der Kontakt zwischen dem Pflegekind und seinen leiblichen Eltern unterbrochen war und die Pflegeeltern zu faktischen Eltern geworden sind, zeigen Pflegekinder häufig in der Pubertät ein großes Interesse an ihren leiblichen Eltern und an einem Kontakt mit ihnen. Pflegeeltern sollten auf diese Entwicklung vorbereitet sein, damit es nicht zu der belastenden Situation kommt, von der ein Pflegekind (16 Jahre) auf einer Tagung berichtete: Es hatte sich jahrelang hinter dem Rücken der Pflegemutter heimlich mit seiner leiblichen Mutter getroffen, um der Pflegemutter nicht weh zu tun, weil es deren emotionale Betroffenheit hinsichtlich der anderen' Mutter spürte (ARBEITSGEMEINSCHAFT FÜR JUGENDHILFE, 1981). (Schumann 1987, S. 89) In der Untersuchung zu Machtprozessen im Heim (Wolf 1999: XX - XX) habe ich ausführlich beschrieben, wie gerade die besonders engagierten Erzieherinnen im Heim in der Gefahr stehen mit den Müttern der Kinder um deren Zuneigung zu rivalisieren und für ihr ungewöhnliches Engagement auch eine besondere Gratifikation zu erwarten. Das zentrale Argument in dieser Auseinandersetzung ist das Kindeswohl. Tatsächlich kommen die Kinder aber in einen schwer erträglichen Loyalitätskonflikt. Auch hierzu habe ich in der Heimerziehungsuntersuchung vergleichbare Beobachtungen gemacht. So berichtet eine Jugendliche, sie habe es ihrer Erzieherin gegenüber nicht übers Herz gebracht, den Kontakt zu ihrer Mutter zu halten. Während der letzten Jahre im Heim lehnt sie jeglichen Kontakt zu ihr ab, als sie das betreute Wohnen aus Altersgründen verlassen muss, zieht sie selbstverständlich zu ihrer Mutter. Die Leistungsfähigkeit Sozialpädagogischer Institutionen hängt daher auch von der Frage ab, ob und wie es dort gelingt diese Gefahr zu begrenzen. Ermahnungen sind wie fast immer nicht hilfreich. Es kommt darauf an, den Mitarbeiterinnen selbst Möglichkeiten zu geben, dieses Dilemma zu erkennen und professionelle Strategien zu erarbeiten, mit ihm konstruktiv umzugehen. Dann kann die Selbstreflexion über die tieferen Schichten solcher Konkurrenzbeziehungen zu einem Professionalitätsvorteil werden. Abbruchbegünstigende Faktoren Das Thema Abbruch also die ungeplante Beendigung von Pflegeverhältnissen spielt im Pflegekinderwesen eine wichtige Rolle, weil solche Abbrüche für Erwachsene und Kinder erhebliche zusätzliche Belastungen und Enttäuschungen hervorbringen können. Betrachtet man die empirischen Untersuchungen in einer Zusammenschau, erhöhen folgende Merkmale die Wahrscheinlichkeit des Abbruchs (Jordan 1996). Abbruchbegünstigende Faktoren im Hilfesystem 1) mangelnde Information der Pflegefamilie über das Kind, 2) unzureichende Vorbereitung der Pflegefamilie, 3) zu wenig sorgfältige und zu kurze Vermittlungsphasen, 4) Mängel in der Vermittlungspraxis; Fehlvermittlungspraxis, 5) unzureichende fachliche Beratung und Begleitung, 6) fehlendes Krisenmanagement, 7) unzulängliche Zusammenarbeit der verschiedenen professionellen Dienste untereinander, 8) mangelnde Perspektivklärung, 3

9) Missachtung der Wünsche von Pflegeeltern und Kindern, 10) in Entscheidungssituationen steht keine Teamberatung zur Verfügung 11) die Vermittlung von Kindern geschieht aufgrund objektiver Notlagen und/ oder subjektiver Fehleinschätzungen unter Zeitdruck und ohne vorherige Kommunikation bzw. Kooperation mit Herkunfts- und Pflegefamilie 12) während des Bestehens des Pflegeverhältnisses werden seitens der Sozialen Dienste keine regelmäßigen Kontakte und Gespräche mit allen Beteiligten durchgeführt 13) Trennung von Geschwistern bei der Inpflegegabe. In der Heimerziehung wird die Debatte unter der Überschrift Verlegen und Abschieben (Freigang 1986) geführt oder eben häufig auch nicht geführt. Die oben zusammengestellte Liste kann dazu dienen, in den Einrichtungen Punkt für Punkt zu diskutieren, wie sie es hinsichtlich der Unterbringung im Heim mit dem jeweiligen Merkmal halten. Die Stärken von Familien werden besonders wirksam, wenn neben den Risiken dichter emotionaler Beziehung, hoher gegenseitiger Abhängigkeit auch deren Risiken in den Blick genommen werden und so abgemildert werden können. Die Bindungsaspekte und exklusiven dyadischen Beziehungen sollten erweitert werden auf andere zentrale Dimensionen und damit auf Handlungsfelder, in denen Ressourcen für die Lösung von Entwicklungsaufgaben zugänglich gemacht werden (vgl. Wolf 2005). Mitarbeiterinnen, die mit den Kindern zusammenleben, müssen dabei in ihren schwierigen Balancierungen durch andere Mitarbeiterinnen unterstützt werden. Dies gilt sowohl im Pflegekinderwesen - und wird dort auch allmählich anerkannt - als auch in professionellen Lebensgemeinschaften, in denen es seit längerem ein zentrales Qualitätsmerkmal darstellt. Ich halte es für sinnvoll, zwischen diesen beiden Fremdunterbringungsformen die Fachdiskussion zu intensivieren. Dabei werden Unterschiede deutlich werden - manchmal in anderen Merkmalen als erwartet - und Gemeinsamkeiten. Ein solch vergleichender Blick kann schließlich auch für die Begründung von Kostenunterschieden wichtige sozialpädagogisch begründete Kriterien hervorbringen. Literatur Biermann, B.; Wälte, D.: Erziehung außerhalb der eigenen Familie. Münster (Votum) 1988. Bonhoeffer, Martin; Widemann, Peter (Hrsg.): Kinder in Ersatzfamilien. 2. Aufl. Stuttgart (Klett) 1980. Freigang, Werner: Verlegen und Abschieben. Zur Erziehungspraxis im Heim. Weinheim, München (Juventa) 1986. Freigang, Werner; Wolf, Klaus: Heimerziehungsprofile. Sozialpädagogische Portraits. Weinheim (Beltz) 2001. Jordan, Erwin: Vorzeitig beendete Pflegeverhältnisse. Aus: Gintzel, Ullrich (Hrsg.): Erziehung in Pflegefamilien. Auf der Suche nach einer Zukunft. Münster (Votum) 1996. S. 76-119. Krumbholz, Monika: Hoffnungen und Hürden - Bremen hat den Pflegekinderdienst und die Tagespflege privatisiert. In: Forum Erziehungshilfen, Jg. 2003, H. 3, S. 153-156. Lutter, Elisabeth: Das Wiener Modell: Schulung und Beratung im Pflegekinderwesen. Aus: Colla, Herbert; Gabriel; Milham u.a. (Hrsg.): Handbuch Heimerziehung und Pflegekinderwesen in Europa. Handbook Residential and Foster Care in Europe. Neuwied, Kriftel (Luchterhand) 1999. S. 773-777. Niederberger, Josef Martin; Bühler-Niederberger, D.: Formenvielfalt in der Fremderziehung. Zwischen Anlehnung und Konstruktion. Stuttgart (Enke) 1988. Schumann, Marianne: Herkunftseltern und Pflegeeltern: Konfliktfelder und Brücken zur Verständigung. Aus: Deutsches Jugendinstitut (DJI) (Hrsg.): Handbuch Beratung im Pflegekinderbereich. München (DJI Verlag) 1987. S. 60-99. 4

Trede, Wolfgang: Heimerziehung in Europa. Fakten und Trends Aus: Struck, Norbert; Galuske, Michael; Thole, Werner (Hrsg.): Reform der Heimerziehung. Eine Bilanz. Opladen (Leske + Budrich) 2003. (=Blickpunkte Sozialer Arbeit. Band 2) S. 69-87. Wolf, Klaus: Machtprozesse in der Heimerziehung. Müchen (Juventa) 1999. Wolf, Klaus: Mitarbeiterinnen als Potenziale im Lebens- und Lernfeld von Kindern - Pädagogische Anfragen an professionelle Erziehung in Lebensgemeinschaften In: Forum Erziehungshilfe, Jg. 2005, im Erscheinen Autor: Prof. Dr. Klaus Wolf Universität Siegen Adolf-Reichwein-Str. 2 57068 Siegen Email: Klaus.Wolf@uni-siegen.de 5