Anmerkungen zur Theorie und methodischen Praxis der Dispositivforschung im Feld von Bildung und Schule Werner Schneider Augsburg, 6.7.2011
Allein die Tatsache, wie man einen Begriff definiert und in welcher Bedeutungsnuance man ihn verwertet, enthält bereits bis zu einem bestimmten Grade eine Vorentscheidung über den Ausgang des auf ihn aufgebauten Gedankenganges. (Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, 3. Aufl., Frankfurt/Main 1952, S.173) Eine Sage ist keine Tue. Betrachten wir das in aller Ruhe (Kurt Tucholsky, 1920)
Gliederung: Zum Einstieg: Bildungsdiskurse Bildungsdispositiv Diskurs und Dispositiv vom Diskurs zum Dispositiv: Kurze Begriffsklärungen/-problematisierungen Grundlagen der Dispositivanalyse: Analyse des Bildungsdispositivs Methodische Anmerkungen: Vom Umbau, vom Missbrauch von (qualitativen) Forschungsansätzen/Methoden
Zum Einstieg: Bildungsdiskurse Bildungsdispositiv Ist die Bildungssoziologie noch immer von der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und der empirischen Schulforschung im Besonderen bestimmt? Nein, denn erkennbar ist mittlerweile eine Anbindung an Debatten der (Allgemeinen) Soziologie und vor allem die Kontextuierung im Bereich soziale Ungleichheit ; (Fußnote S.11 in der Einführung von R. Becker in: ders. (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungssoziologie, Wiesbaden 2009) 16 Lehrbuch-Beiträge darunter kein einziger Beitrag, der explizit Machtprozesse / Herrschaftsverhältnisse zum Gegenstand hat (in 2 Beiträgen Legitimation und Kontinuierung von Ungleichheit als Thema); Bildungsdiskurse: Von der Homogenitätsfiktion (Homogenität durch Differenzierung und Standardisierung) zum Heterogenitätsmantra einer Verkündungspädagogik (K-H. Arnold 2010, S.12) mit ihrem Anerkennungscredo der individuellen Begabungen (Kontinuierung des Basisprozesses Individualisierung ); Bildungsdispositiv: handlungspraktische Aktivierung des zu bildenden Subjekts von dem Gebildet-Werden hin zu einem (autonomen) Selbst zur permanent vom Subjekt eingeforderten Selbstbildung ;
Dispositivkonzept/-analyse als Forschungsperspektive und Forschungsstil Erkenntnistheoretische Grundlagen Begrifflich-theoretische Grundlagen Forschungsperspektive Dispositivkonzept Forschungsergebnisse Erkenntnisinteressen/ Forschungsfragen Methodologische Fundierungen und Gütekriterien Methodik: Instrumente der Datenerhebung/-auswertung Forschungsstil Dispositivanalyse Reflexion der Einsatzmöglichkeiten/- grenzen Bührmann, A.D./Schneider, W., Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S.16
Diskurstheoretische Prämissen: 1. Diskurse produzieren und formen ihre Gegenstände Die Wahrheit ist von dieser Welt; in dieser wird sie aufgrund vielfältiger Zwänge produziert, verfügt sie über geregelte Machtwirkungen. Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre 'allgemeine Politik' der Wahrheit: d.h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren läßt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder anderen sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht. (Foucault, M.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S.51)
Diskurstheoretische Prämissen: 2. Diskurse Medien institutioneller Wissenskonstitution Diskurs = geregelte und institutionalisierte Redeweisen (Link, J.: Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs.Macht. In: kulturrevolution (4), 1986, 11, S.4-7) Diskurse sind themenbezogene, disziplin-, bereichs- oder ebenen-spezifische Arrangements von (Be-) Deutungen, in denen Welt- bzw. Wirklichkeitsordnungen und je spezifische Handlungsvoraussetzungen und -folgen (Institutionen, Praktiken) impliziert sind. (Keller, R.: Müll Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen, Opladen 1998, S.34) Zur Funktionsbestimmung von Diskursen: soziale Integration / Exklusion: Grenzziehungen Definition von Normalität und Abweichung Ontologisierung / Transformation von Wissens- und Moralsystemen Mobilisierung kollektiven (und individuellen) Handelns
Diskurstheoretische Prämissen: 3. Macht-Wissen-Komplex Diskurse sind Ergebnis von Machtbeziehungen und bewirken wiederum Machteffekte; Nach dem Studium der Wahrheitsspiele in ihrem Verhältnis zueinander am Beispiel einiger empirischen Wissenschaften im 17. Und 18. Jahrhundert und nach dem Studium der Wahrheitsmechanismen im Verhältnis zu den Machtbeziehungen am Beispiel der Strafpraktiken schien sich mir eine andere Arbeit aufzudrängen: das Studium der Wahrheitsspiele im Verhältnis seiner selbst zu sich und der Konstitution seiner selbst als Subjekt im Einzugsbereich und Untersuchungsfeld dessen, was man die 'Geschichte des Begehrensmenschen' nennen könnte. (Foucault, M.: Sexualität und Wahrheit, Bd. 2: Der Gebrauch der Lüste. Frankfurt/Main 1984, S.12f)
Dispositiv was ist das? Ein Dispositiv besteht aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, die sich aus höchst heterogenen Elementen - wie etwa Diskursen, Institutionen, architekturalen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen oder philanthropischen Lehrsätzen, kurz: Gesagtem ebensowohl, wie Ungesagtem (...) - zusammensetzen können. (Foucault, M.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S.119)
Ziel von Dispositivanalysen nicht die Analyse des "Nicht-Diskursiven", des Gegenständlichen, des Tuns als solchem! Sondern: Analyse dessen, was aus diskursiv vermittelten Wissensordnungen "wirkliche" (und deshalb "machtvolle"!) Effekte zeitigt, insofern es in seiner kollektiven wie individuellen Vermittlung im Selbst- wie Weltbezug handlungswirksam wird und dadurch (erst) auf jene Wissensordnungen rückwirken kann. (Bührmann, A.D. / Schneider, W. (2007): Mehr als nur diskursive Praxis? Konzeptionelle Grundlagen und methodische Aspekte der Dispositivanalyse. In: Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 8(2), Art. 28, http://www.qualitativeresearch.net/fqs-texte/2-07/07-2-28-d.htm)
Dispositivkonzept: Dimensionen (nach Foucault) Ausgangspunkt der Analyse: gesellschaftlicher Notstand Wissens(an)ordnungen (diskursiv / nicht-diskursiv) (überindividuelle) Handlungs- und Interaktions(an)ordnungen (diskursiv / nicht-diskursiv) Symbolische Objektivierungen Materiale Vergegenständlichungen Subjektivation / Subjektivierung Bührmann, A.D./Schneider, W., Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S.56
Dispositivkonzept: 1. Analyseprogrammatik Schule als Wissensfeld (pädagogisch, fachlich, alltagsweltlich ) Heterogenität Diskurs (-formation) Wissen / Wissensordnung Macht (-formation) Ministerium / Schulleitung Lehrer Gesellschaftliches Sein (Praxis): Umgang mit den Dingen soziale Beziehungen (Selbst-)Erfahrungen Subjektkonstitution/ Subjektivation Schulalltag aus Sicht der Akteure Bührmann, A.D./Schneider, W., Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S.32
Dispositiv: was ist das? sozialer Wandel / gesellschaftliche Umbruchsituation/en ❹ ❶ nicht-diskursive Praktiken INTERDISKURSE SPEZIALDISKURSE ELEMENTAR- DISKURSE Subjektkonstitution: Subjektformierung/ ❷ -positionierung + Subjektivierungsweise Bührmann, A.D./ Schneider, W., Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse, Bielefeld 2008, S.94 ❸ ❹ symbol. und mat. Objektivationen intendierte / nicht-intendierte (Neben-)Folgen
Diskurs-/Dispositivanalytisches Kodieren : Kodierparadigma mat./symbol. Objektivationen Kontext und intervenierende Bedingungen Instititutional. Macht/Herrschaft Ursächliche Bedingungen Phänomen Diskurs+Praxis Subjektivation Konsequenzen Handlungsstrategien/-taktiken Interaktionen (diskurs-/dispositiv-) theorie-generierende W-Fragen Vgl. Böhm u. Strauß in Flick, U. (2000): Qualitative Forschung, S. 479
Vielen Dank! Prof. Dr. Werner Schneider Philosophisch-Sozialwissenschaftliche Fakultät Universität Augsburg Universitätsstr. 10 / 86135 Augsburg email: Werner.Schneider@phil.uni-augsburg.de