Geschlechtsspezifische Besonderheiten der informellen Pflege am Lebensende Sarah Brügger, Laura Perler, Adrienne Jaquier, Beat Sottas Ergebnisse aus dem NFP67-Projekt: Informal Caregivers in Critical End-of-Life Situations
Frauen pflegen Die Pflege von Angehörigen ist grösstenteils Frauensache In unserer Studie: 20 Frauen vs. 5 Männer Warum? demografische Gründe aber auch kulturell verankerte Geschlechterbilder Geschlechterbilder beeinflussen nicht nur die Arbeitsteilung, sondern auch wie die Pflege erlebt wird.
Frauen pflegen, Männer aber auch Die Zahl pflegender Männer nimmt seit einigen Jahren zu. Gemäss Schätzungen in der CH ca. 1/3 - Männer pflegen v.a. ihre Partnerinnen; Frauen pflegen Eltern, Schwiegereltern, Geschwister, etc. - Pflegende Männer sind älter als pflegende Frauen weniger Vereinbarkeitsprobleme von Pflege u. Erwerbsarbeit - Der Zeitaufwand pflegender Männer ist im Durchschnitt geringer. - Pflegende Männer sind auch bei objektiv vergleichbaren Anforderungen im Durchschnitt weniger belastet als pflegende Frauen. Warum?
Neue Rolle, neue Beziehungen Pflegebedürftigkeit begründet eine neue (+ ungewohnte) Abhängigkeit Dann habe ich [ ] gemerkt, dass das [ ] ein Ungleichgewicht bringt, weil in einer Beziehung ja jeder dem anderen auch etwas geben will. Und plötzlich konnte mir meine Frau nichts mehr geben. Wichtiges Thema für pflegende Männer: Vom Versorger zum Fürsorger Während fast zwei Jahren war ich es, der den Haushalt gemacht hat, der alles gemacht hat. Ich habe auch gelernt zu kochen. [ ] Ich habe gemerkt, was eine Frau alles macht im Haushalt. Ich musste immer am Morgen die Toilette machen. Ich war auch stolz, dass ich gelernt habe zu schminken. Pflege und Betreuung sind nicht selbstverständlich, sondern werden durch Liebe und Zuneigung legitimiert
Von der Ehefrau zur Pflegeperson Ich bin zur Krankenschwester mutiert. Aber eben, das ist auch etwas, das ich heute Im Nachhinein ist man trotzdem diejenige, die plagt, die pickt, die die unangenehmen Sachen macht. Ich war Pflegende, ich war nicht mehr die Tochter. Ich habe sie gepflegt und darum konnte ich keine Mutter-Tochter-Beziehung mehr haben mit ihr. Die hatte ich erst wieder, als sie im Spital war. Eine Voraussetzung für die informelle Pflege eine enge und vertrauensvolle Beziehung wird durch die Pflege selbst gefährdet (Exley/Allen 2007) Tipp an andere: externe Hilfe für bestimmte Arbeiten Von pflegenden Frauen seltener umgesetzt als von pflegenden Männern
Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Care-Netzwerk einer Ehefrau, die ihren an Krebs erkrankten Ehemann zu Hause pflegte praktisch ohne externe Hilfe Interviewpartner: pflegende Ehefrau 2 Kinder Person am Lebensende Freunde und Verwandte Spitex Kantonsspital Freiburg
Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Care-Netzwerk eines Ehemannes, der seine an ALS erkrankte Ehefrau zu Hause pflegte Management-Aufgabe Interviewpartner: pflegender Ehemann Private Pflegefachfrau Putzfrau Tochter von Hausarzt Russische Pflegerin Psychotherapie Pro Senectute Rotes Kreuz Nachtwachen Physiotherapie Kinder Befreundete Palliativpflegerin Ergotherapie Freunde und Verwandte Person am Lebensende Verein zur Vermittlung von Hilfsdiensten Muskelzentrum Spitex Care Manager Krankenkasse Hospiz, Kanton VD Altersheim Hausarzt Lungenliga Kurzentrum Universitätsspital Palliativstation, Kanton FR Lungenarzt
Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Mehr Unterstützung für pflegende Männer Alle Freundinnen meiner Frau haben etwas gemacht, um mir zu helfen: Staubsaugen, Staub wischen, Bügeln. Jeden Tag kommen zwei, drei Personen. [ ] Wir brauchen immer mehr Hilfe, von den Nachbarn, auch zum Essen. Eine Nachbarin macht die Wäsche. Tätigkeiten werden bei einem Mann als «unnatürlich» angesehen, deshalb springen (weibliche) Freunde und Bekannte ein, um ihn zu entlasten. Hohe Erwartungen gegenüber pflegenden Frauen
Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Mehr Unterstützung für pflegende Männer auch von Seiten der Health Professionals Frauen berichten eher, dass sie überschätzt und in eine Rolle gedrängt werden, die sie nicht wollen. Ich habe den Wunsch, nicht als Ärztin meines Vaters betrachtet zu werden, laut hinausgebrüllt. Aber das wurde nicht gehört. Ich habe wieder und wieder gesagt, dass es nicht meine Rolle sei, meinem Vater die Morphin-Spritzen zu verabreichen [ ]. Schlussendlich musste ich es trotzdem machen. Das war schrecklich. Mein Vater war zu Hause bis zu seinem Tod. [ ] Er hatte Lungenkrebs. [ ] Familienhilfe oder so, so etwas hat man mir nie vorgeschlagen. Und ich habe damals noch gearbeitet. Sie können sich nicht vorstellen, in welchem Zustand ich war.
Die Internalisierung gesellschaftlicher Normen Informelle Pflege ist für die von uns befragten Frauen «selbstverständlich», «natürlich» und «schon immer klar gewesen». Sie erleben sich als fremdbestimmt und abhängig, gönnen sich wenig freie Zeit + Entlastung Wenn ich jemanden im Haus habe, dann fühle ich mich für diese Person verantwortlich. Das ist einfach angeboren bei den Frauen. Zuletzt habe ich gedacht, ich bin ja blöd, das gibt mir ja mehr zu tun, als wenn ich es selber mache. Ich habe alles gemacht, immer. [ ] Schon im Spital habe ich damit begonnen, als ich gesehen habe, dass es dort nicht gut funktioniert. Also habe ich ihn im Bett gewaschen. Man macht es besser als die professionellen Dienste Männern gelingt es eher eine innere Distanz zu wahren + Aufgaben zu delegieren. (Langehennig 2011)
Der gesellschaftliche Stellenwert der informellen Pflege Die Gesundheitspolitik rechnet mit den Leistungen der Angehörigen aber nur wenig Anerkennung und Unterstützung Es verlangen ja gar nicht alle einen Lohn [ ], aber dass man sie respektiert und auch wertschätzt. Denn sie erhalten vielfach zu wenig Wertschätzung. Von der Öffentlichkeit, weil es zu wenig bekannt ist und von der eigenen Familie auch sehr wenig. Den gesellschaftlichen Druck spüren v.a. weibliche pflegende Angehörige Leistungen sind selbstverständlich, deshalb auch wenig Anerkennung Pflegende Männer sind seltener, erhalten aber mehr externe Unterstützung auch von den Health Professionals
Fazit Besten Dank Pflegende Angehörige leisten einen entscheidenden Beitrag, tragen die damit verbundenen Lasten aber grösstenteils selbst. Weil ihr Beitrag unverzichtbar ist, braucht es bessere Unterstützung für pflegende Angehörige d.h. Entlastung, Information + Schulungen, finanzielle Entschädigung, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Achtsamkeit seitens der Fachpersonen für geschlechtsspezifische Privilegierungen und Diskriminierungen Wenn Übernahme der Pflege auf Freiwilligkeit basiert, wenn pflegende Angehörige die notwendige Unterstützung erhalten, dann werden auch in Zukunft viele Frauen und viel mehr Männer bereit sein, diesen wichtigen Beitrag zu leisten.