Geschlechtsspezifische Besonderheiten der informellen Pflege am Lebensende

Ähnliche Dokumente
Von Verzettelung und Versorgungsterritorien

Pflegende Angehörige zu Beteiligten machen. Dr. Beat Sottas Sarah Brügger MA Adrienne Jaquier MSc Laura Perler BA

Ein Thema? Pflegende Angehörige. in der Spitex Birsfelden

Medizin und alles war tipptopp. Aber es gab nie Zeit für ein Gespräch.

Lieber daheim. Dank gezielter Unterstützung. Pro Senectute Kanton Zürich

Medizin und alles war tipptopp. Aber es gab nie Zeit für ein Gespräch.

Pflegende Angehörige in komplexen Situationen am Lebensende

IspAn. Interessensselbstvertretung pflegender Angehöriger

SCHWYZER ROTES KREUZ. Im Alter zu Hause leben wir unterstützen Sie Entlastung und Unterstützung zu Hause

Angehörigenfreundliche Versorgungskoordination

Zu Hause sein und nicht allein. Pro Senectute für Hilfe und Betreuung zu Hause

Für meinen Mann ist das noch nichts

Medizin und alles war tipptopp. Aber es gab nie Zeit für ein Gespräch. Vom Nationalfond genehmigtes Projekt

SPITEX PFLEGE ZU HAUSE

Im Alter zu Hause leben wir unterstützen Sie. Entlastung und Unterstützung zu Hause

ZU HAUSE PROFESSIONELL BETREUT

Dadurch, dass wir Mädchen sind, war die Erwartung von allen viel größer. Geschlechtsspezifische Besonderheiten der informellen Pflege

Ponte ein psychosoziales Begleitungsangebot für pflegende und betreuende Angehörige Renata Basig-Jehli, Pflegefachfrau HF, Gerontologin

Pflegende Angehörige zwischen Wunsch und Verpflichtung

Die Rolle der Gesundheitspolitik für die pflegenden Angehörigen

Unheilbar krank und jetzt?

Spitex Horw wir entlasten pflegende Angehörige

«Vergesslichkeit wie weiter?» Angehörigensicht

Minijob für Mama Karriere für Papa? Friedrich-Ebert-Stiftung Forum Politik und Gesellschaft- Christina Schildmann

Gabriele Marty, 12. November 2016, Oberwil. «Baselland wird älter» was sind die Herausforderungen?

Palliative Care in der Schweiz. Christina Affentranger Weber Dipl. Gerontologin MAS/FH

Kostenübernahme. durch alle Pflegekassen möglich. Senioren und Familien zu Hause umsorgen

Unheilbar krank und jetzt?

Informelle Pflegetätigkeiten älterer Frauen und Männer außerhalb der Familie

Selten zu früh - manchmal zu spät Reden über das Sterben

Region Lueg GESAMTÜBERSICHT ANGEBOT

Palliative Care Kompetenzzentrum. Palliative Care Kompetenzzentrum. Akutspital Psychiatrie Geriatrie Palliative Care

Männer pflegen anders. Diakonisches Werk in Hessen und Nassau e.v.

Angehörige im Spannungsfeld zwischen Belastung und Entlastung

Anzahl der Hospiz- und Palliativ- Einrichtungen in Österreich

François Höpflinger Angehörigenpflege im Spannungsfeld von traditionellen Familienbildern und neuen gesellschaftlichen Realitäten.

Migrationssensitive Checkliste in der Palliative Care Fragen an die Angehörigen

Familiale Pflegeleistungen

Angehörige als zentraler Partner in der Langzeitpflege. gemeinsam für eine gute Lebensqualität

Pflege und Betreuung zu Hause

Zerreißprobe Pflege FORUM.MESSE VORSORGE.PFLEGE.BEGLEITUNG. ABSCHIED.TRAUER. Pflege und Beruf vereinbaren, wie geht das? Messe Bremen 9.

Who cares? Zukunft von Betreuung und Pflege in einer Gesellschaft des langen Lebens

Herausforderungen und Belastungserleben pflegender Angehöriger. Elsmarie Stricker-Herrmann

Zu Hause sein und nicht allein Pro Senectute für Hilfe und Betreuung zu Hause

Heute pflegen und morgen arm? Kosten und Qualität von Pflege. Silke Niewohner

Umfrage Wohn- und Lebensformen im Alter in Hasliberg

Vortrag von Martina Rosenberg Buchautorin und Journalistin

Von der Onko-Spitex zur PalliativeSpitex Ärztinnen und Ärztekurs 4. November Spitex Verband Aargau

Adipositas Erfolgsfaktor Arzt-Patienten-Beziehung

DGGG - Symposium Zwischen Beruf und Pflege: Konflikt oder Chance?

24-Stunden-Betagtenbetreuung in Privathaushalten

«Fair-Netz handeln» Fachtagung des Freiburger sozial- und Pflegenetzes AFIPA - AFAS 15. September 2016

Spannungsfeld pflegende Angehörige- Pflege Die Angehörigen als bessere Pfleger? Wilfried Schnepp

«Wenn Angehörige vergesslich werden»

Pflege in Baden-Württemberg

Hausaufgaben sinnvoll unterstützen, aber wie? Nachhilfe? Coaching? Förderung? Oder..?

Krankenschwester. 1 Über Erfahrungen und Meinungen sprechen Krankenschwester. Über Erfahrungen und Meinungen sprechen Krankenschwester

BAROMETER PALLIATIVE CARE ZH+SH Juni Zusammenfassung Befragung zu Palliative Care im Kanton Zürich 2012

Serviceteil. Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 C. Petersen-Ewert et al., Transkulturell pflegen DOI /

Wie sterben Menschen in Deutschland

Die (un)gezählten Stunden

Entlastung für die Familien älterer Menschen?

Nachweis Arbeits- oder Lebenserfahrung in Pflege

Gründung des Vereins

Wenn Kinder pflegen. superhands bietet Hilfe und Rat für Kinder und Jugendliche, die Angehörige pflegen

Pflegende Angehörige Erwartungen, Belastungen, Entlastungen

Unverzichtbar in der kommunalen Versorgungsstruktur: Betreuungsangebote CHRISTINE RIESNER, PFLEGEWISSENSCHAFTLERIN

Was treibt mich an? Was motiviert mich?

Die Zeitverwendung der Angehörigen, die ein Haushaltsmitglied pflegen

3 Fragestellung und Hypothesen 3.1 Herleitung der Fragestellung

seit depuis 30 JAHREN 30 ANS WIE GEHT ES IHNEN HEUTE? Private Pflege und Betreuung. Temporär- und Dauerstellen im Gesundheitswesen.

Center Oranienburg. Ambulante Pflege der besonderen Art

ZUR PFLEGE ALTER MENSCHEN AUS SICHT DER ANGEHÖRIGEN

Palliativmedizin. Eine Herausforderung für unser Gesundheitssystem. Stephanie Rapp Allgemeinmedizin Palliativmedizin

Anfrage via Mail an palliative bs+bl

Der richtige Zeitpunkt für einen Heimeintritt ist:

Wir sind nicht nur für das verantwortlich was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun

Besonderheiten der Pflege innerhalb der Familie

Who cares? Zur Vereinbarkeit von Sorgetätigkeiten und ehrenamtlichem Engagement mit Erwerbstätigkeit

Freiwilliges Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund: Befunde des Deutschen Freiwilligensurveys 2014

Situation pflegender Angehöriger

Ergebnisse der Interviews mit den Eltern

Was zieht mich? Was treibt mich an? Was motiviert mich?

«Älter werden gemeinsam gestalten» Dienstleistungen und Pflege (zu Hause und in Pflegeeinrichtungen) 3. Tagung Alter

Wenn Angehörige in der Betreuung und Pflege mitbestimmen. März 2015 Dr. phil. Bettina Ugolini

BoDO Bedarfsorientierte Dienstleistungen Olsberg. Fragebogen für ältere Menschen

Frauenpolitisches Programm. Die Frauen-Politik im Sozial-Verband NRW in Leichter Sprache

VBGF/ARPS-Herbsttagung 26. Oktober 2017 Betreuende und pflegende Angehörige im Rahmen der Kantonalen Aktionsprogramme (KAP)

Dieses Budget steht Ihnen für die Inanspruchnahme. und Entlastung durch unseren ambulanten Pflegedienst zur Verfügung.

Generation für Generation ENTLASTUNGS- UND KURZAUFENTHALTSZIMMER. Zertifiziert Qualität in Palliative Care und ISO 9001

Situation von pflegenden. Angehörigen. Zuhause gut versorgt? Zukunftsmodelle für ältere Menschen und ihre. Angehörigen

Workshop für Angehörige und andere Nahestehende von Menschen mit Demenz

Das Berliner Profil zur Vereinbarkeit von Beruf & Pflege

Alleinlebende ältere Menschen und die Versorgung in der letzten Lebensphase Herausforderungen des Verbleibes Zuhause

Wissen & Bewältigung. Grenzen setzen auf sich selbst achten

«Aging» und «Freundschaft»

Das Alter hat Zukunft

Transkript:

Geschlechtsspezifische Besonderheiten der informellen Pflege am Lebensende Sarah Brügger, Laura Perler, Adrienne Jaquier, Beat Sottas Ergebnisse aus dem NFP67-Projekt: Informal Caregivers in Critical End-of-Life Situations

Frauen pflegen Die Pflege von Angehörigen ist grösstenteils Frauensache In unserer Studie: 20 Frauen vs. 5 Männer Warum? demografische Gründe aber auch kulturell verankerte Geschlechterbilder Geschlechterbilder beeinflussen nicht nur die Arbeitsteilung, sondern auch wie die Pflege erlebt wird.

Frauen pflegen, Männer aber auch Die Zahl pflegender Männer nimmt seit einigen Jahren zu. Gemäss Schätzungen in der CH ca. 1/3 - Männer pflegen v.a. ihre Partnerinnen; Frauen pflegen Eltern, Schwiegereltern, Geschwister, etc. - Pflegende Männer sind älter als pflegende Frauen weniger Vereinbarkeitsprobleme von Pflege u. Erwerbsarbeit - Der Zeitaufwand pflegender Männer ist im Durchschnitt geringer. - Pflegende Männer sind auch bei objektiv vergleichbaren Anforderungen im Durchschnitt weniger belastet als pflegende Frauen. Warum?

Neue Rolle, neue Beziehungen Pflegebedürftigkeit begründet eine neue (+ ungewohnte) Abhängigkeit Dann habe ich [ ] gemerkt, dass das [ ] ein Ungleichgewicht bringt, weil in einer Beziehung ja jeder dem anderen auch etwas geben will. Und plötzlich konnte mir meine Frau nichts mehr geben. Wichtiges Thema für pflegende Männer: Vom Versorger zum Fürsorger Während fast zwei Jahren war ich es, der den Haushalt gemacht hat, der alles gemacht hat. Ich habe auch gelernt zu kochen. [ ] Ich habe gemerkt, was eine Frau alles macht im Haushalt. Ich musste immer am Morgen die Toilette machen. Ich war auch stolz, dass ich gelernt habe zu schminken. Pflege und Betreuung sind nicht selbstverständlich, sondern werden durch Liebe und Zuneigung legitimiert

Von der Ehefrau zur Pflegeperson Ich bin zur Krankenschwester mutiert. Aber eben, das ist auch etwas, das ich heute Im Nachhinein ist man trotzdem diejenige, die plagt, die pickt, die die unangenehmen Sachen macht. Ich war Pflegende, ich war nicht mehr die Tochter. Ich habe sie gepflegt und darum konnte ich keine Mutter-Tochter-Beziehung mehr haben mit ihr. Die hatte ich erst wieder, als sie im Spital war. Eine Voraussetzung für die informelle Pflege eine enge und vertrauensvolle Beziehung wird durch die Pflege selbst gefährdet (Exley/Allen 2007) Tipp an andere: externe Hilfe für bestimmte Arbeiten Von pflegenden Frauen seltener umgesetzt als von pflegenden Männern

Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Care-Netzwerk einer Ehefrau, die ihren an Krebs erkrankten Ehemann zu Hause pflegte praktisch ohne externe Hilfe Interviewpartner: pflegende Ehefrau 2 Kinder Person am Lebensende Freunde und Verwandte Spitex Kantonsspital Freiburg

Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Care-Netzwerk eines Ehemannes, der seine an ALS erkrankte Ehefrau zu Hause pflegte Management-Aufgabe Interviewpartner: pflegender Ehemann Private Pflegefachfrau Putzfrau Tochter von Hausarzt Russische Pflegerin Psychotherapie Pro Senectute Rotes Kreuz Nachtwachen Physiotherapie Kinder Befreundete Palliativpflegerin Ergotherapie Freunde und Verwandte Person am Lebensende Verein zur Vermittlung von Hilfsdiensten Muskelzentrum Spitex Care Manager Krankenkasse Hospiz, Kanton VD Altersheim Hausarzt Lungenliga Kurzentrum Universitätsspital Palliativstation, Kanton FR Lungenarzt

Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Mehr Unterstützung für pflegende Männer Alle Freundinnen meiner Frau haben etwas gemacht, um mir zu helfen: Staubsaugen, Staub wischen, Bügeln. Jeden Tag kommen zwei, drei Personen. [ ] Wir brauchen immer mehr Hilfe, von den Nachbarn, auch zum Essen. Eine Nachbarin macht die Wäsche. Tätigkeiten werden bei einem Mann als «unnatürlich» angesehen, deshalb springen (weibliche) Freunde und Bekannte ein, um ihn zu entlasten. Hohe Erwartungen gegenüber pflegenden Frauen

Der Einfluss kulturell verankerter Geschlechterbilder Mehr Unterstützung für pflegende Männer auch von Seiten der Health Professionals Frauen berichten eher, dass sie überschätzt und in eine Rolle gedrängt werden, die sie nicht wollen. Ich habe den Wunsch, nicht als Ärztin meines Vaters betrachtet zu werden, laut hinausgebrüllt. Aber das wurde nicht gehört. Ich habe wieder und wieder gesagt, dass es nicht meine Rolle sei, meinem Vater die Morphin-Spritzen zu verabreichen [ ]. Schlussendlich musste ich es trotzdem machen. Das war schrecklich. Mein Vater war zu Hause bis zu seinem Tod. [ ] Er hatte Lungenkrebs. [ ] Familienhilfe oder so, so etwas hat man mir nie vorgeschlagen. Und ich habe damals noch gearbeitet. Sie können sich nicht vorstellen, in welchem Zustand ich war.

Die Internalisierung gesellschaftlicher Normen Informelle Pflege ist für die von uns befragten Frauen «selbstverständlich», «natürlich» und «schon immer klar gewesen». Sie erleben sich als fremdbestimmt und abhängig, gönnen sich wenig freie Zeit + Entlastung Wenn ich jemanden im Haus habe, dann fühle ich mich für diese Person verantwortlich. Das ist einfach angeboren bei den Frauen. Zuletzt habe ich gedacht, ich bin ja blöd, das gibt mir ja mehr zu tun, als wenn ich es selber mache. Ich habe alles gemacht, immer. [ ] Schon im Spital habe ich damit begonnen, als ich gesehen habe, dass es dort nicht gut funktioniert. Also habe ich ihn im Bett gewaschen. Man macht es besser als die professionellen Dienste Männern gelingt es eher eine innere Distanz zu wahren + Aufgaben zu delegieren. (Langehennig 2011)

Der gesellschaftliche Stellenwert der informellen Pflege Die Gesundheitspolitik rechnet mit den Leistungen der Angehörigen aber nur wenig Anerkennung und Unterstützung Es verlangen ja gar nicht alle einen Lohn [ ], aber dass man sie respektiert und auch wertschätzt. Denn sie erhalten vielfach zu wenig Wertschätzung. Von der Öffentlichkeit, weil es zu wenig bekannt ist und von der eigenen Familie auch sehr wenig. Den gesellschaftlichen Druck spüren v.a. weibliche pflegende Angehörige Leistungen sind selbstverständlich, deshalb auch wenig Anerkennung Pflegende Männer sind seltener, erhalten aber mehr externe Unterstützung auch von den Health Professionals

Fazit Besten Dank Pflegende Angehörige leisten einen entscheidenden Beitrag, tragen die damit verbundenen Lasten aber grösstenteils selbst. Weil ihr Beitrag unverzichtbar ist, braucht es bessere Unterstützung für pflegende Angehörige d.h. Entlastung, Information + Schulungen, finanzielle Entschädigung, Vereinbarkeit von Pflege und Beruf Achtsamkeit seitens der Fachpersonen für geschlechtsspezifische Privilegierungen und Diskriminierungen Wenn Übernahme der Pflege auf Freiwilligkeit basiert, wenn pflegende Angehörige die notwendige Unterstützung erhalten, dann werden auch in Zukunft viele Frauen und viel mehr Männer bereit sein, diesen wichtigen Beitrag zu leisten.