Extended Value Net: Ein Wegweiser durch die Vernetzungslandschaft Michael Reiß Value Net das Basismodell Aus der Sicht eines Referenz-Unternehmens umfasst das Basis-Modell vier Vernetzungsarenen (vgl. Abb. 1). Sie unterscheiden sich sowohl hinsichtlich der Parteien (Lieferanten, Kunden, Konkurrenten und Komplementoren als Akteure) als auch der Art der Vernetzung (Beziehungen). KUNDEN KONKURRENTEN UNTERNEHMEN KOMPLEMENTOREN LIEFERANTEN QUELLE : Nalebuff/Brandenburger 1996 Abb. 1: Das Basismodell des Value Net Das Value Net enthält zunächst die vertikalen Beziehungen entlang der Wertschöpfungskette, sowohl downstream zu den Kunden als auch upstream zu den Lieferanten. Downstream ist das Netzwerk-Management beispielsweise eingebettet in Efficient Consumer Response- Ansätze, Customer Relationship Management (CRM) und Vertriebsnetzwerke. Das lieferantenseitige Netzwerk-Management vollzieht sich gerade im industriellen Sektor innerhalb von Lieferanten-Kooperationsprogrammen (z.b. in der Elektroindustrie bzw. der Automobilindustrie). Die vertikale Achse des Value Net ist weitgehend durch das Wertketten-Management (z.b. Supply Chain Management) abgedeckt. Neue Erkenntnisse vermittelt das Value Net bei der Erkundung der beiden horizontalen Vernetzungsarenen. Sie sind von Hause aus nicht vertragsbasiert (wie im SCM). Vielmehr bilden sie im Kern faktische, nicht bewußt organisierte Verbundbeziehungen zwischen Unternehmen, und zwar jeweils betrachtet aus der Perspektive des Kunden (bzw. des Lieferanten). Zu den Konkurrenten besteht ein Verdrängungsverbund: je mehr ein Kunde von Konkurrent A bezieht, desto weniger bezieht er von Konkurrent B. Zu den Komplementoren besteht ein Ergänzungsverbund: Je mehr Nachfrage nach den Leistungen des Referenzunternehmens, desto mehr Nachfrage nach
Leistungen der komplementären Anbieter, kurz: Komplementoren. Diese Formel gilt beispielsweise für das Zusammenwirken von Software- und Hardware-Herstellern, Betriebssystemhersteller und Anwendungssoftware-Herstellern, Waschmaschinenherstellern und Waschmittelherstellern sowie Produktherstellern und Anbietern des produktbegleitenden Service-Kranzes. Der 360-Grad-Zugang des Value Net überwindet die Perspektivenverengung, die - aus Gründen der Komplexitätsbewältigung - im Rahmen des SCM praktiziert wird und ebnet den Weg für ein ganzheitliches Enterprise Relationship Management. Damit wird insbesondere auch der Blick frei für kooperative Vernetzungen mit Konkurrenten und Komplementoren. Im Mittelpunkt der Vernetzung mit Konkurrenten steht dabei die Schaffung von Win-win- Konstellationen durch strategische Allianzen. Sie schlagen sich beispielsweise in gemeinsamer F&E, gemeinsamer Fertigung (z.b. Badge Engineering), kooperativ betriebenen digitalen Marktplätzen und in Standardisierungsgemeinschaften nieder. Ein besonderes Verdienst des Value Net besteht darin, alle Strategen für die Vernetzung mit Komplementoren zu sensibilisieren. Anders als viele Lieferanten stammen Komplementoren meist nicht aus derselben Wertschöpfungskette bzw. Branche. Man denke an die branchenübergreifenden Komplementaritäten zwischen Automobilherstellern und Treibstoffherstellern, Automobilherstellern und Versicherungen (z.b. mit Blick auf die Gesamtlebenszykluskosten eines Fahrzeugs) bzw. Logistikunternehmen sowie Infrastrukturdienstleistern (z.b. Betreiber von Kommunikationsnetzen). Extended Value Net die Architektur Trotz der Einbeziehung der horizontalen Vernetzungsarenen kann das bestehende Basismodell seine Wegweiserfunktion nicht zufrieden stellend erfüllen. Es sind hauptsächlich drei Defizite in der Orientierungsleistung des Value Net zu bemängeln: Unzureichende Spezifikation der Knoten: Wir wissen, dass es auf die Frage Wer ist der Kunde? mehrdeutige Antworten gibt. Das gilt beispielsweise im Konsumgüterbereich für Familien als Kunden (Welches Familienmitglied trifft dort welche Einkaufsentscheidungen?). Im B2B-Bereich stehen den Herstellern häufig nicht individuelle Einkäufer, sondern Einkaufsgemeinschaften (z.b. Buying-Center, digitale Marktplätze, Handelsketten) gegenüber. Eingeschränkter Interaktionsspielraum: Wenn man sich vom simplen Ketten-Modell eines Wertschöpfungssystems verabschiedet, ergeben sich neue Interaktionsmöglichkeiten, die das Value Net-Grundmodell sprengen. Ein Hersteller unterhält dann z.b. Kontakte zu den Lieferanten seiner Lieferanten, zu Töchtern seiner Konkurrenten oder zu den Kunden seiner Kunden. Unklare Positionierung von Drittparteien: In allen Wertschöpfungssystemen sind neben den direkt wert schöpfenden Akteuren, sprich Anbietern und Abnehmern, zahlreiche Drittparteien zu finden. Hierbei handelt es sich etwa um Absatzmittler, Franchise-Nehmer, Rating-Agenturen, Schlichter, Intermediäre oder Regulierungsbehörden bzw. Aufsichtsinstanzen. Unklar ist, wo diese Drittparteien im Basismodell anzusiedeln sind. Zur Behebung der skizzierten Schwachstellen wird hier in Gestalt eines Extended Value Net ein erweiterter und verfeinerter Modellansatz vorgestellt (vgl. Abb. 2). Gegenüber dem Basismodell (mittleres Oval in Abb. 2) wird mit Hilfe der Intrapolation zunächst eine höhere
Spezifikation des Innenlebens der Knoten bewerkstelligt. Durch die Extrapolation werden die bestehenden Interaktionsspielräume besser erfasst. Schließlich dient die Interpolation einer besseren Positionierung von Mittlern und anderen Drittparteien. INTRAPOLATION EXTRAPOLATION KUNDEN KON- KURRENTEN GESCHÄFTS- EINHEIT KOMPLE- MENTOREN INTERPOLATION LIEFERANTEN Abb. 2: Grundstruktur des Extended Value Net Intrapolation Mit Hilfe der Intrapolation soll die Mikro-Struktur der Knoten im Value Net besser abgebildet werden. Intrapolation steht für Spezifikation der Akteure innerhalb eines Knoten. Intrapolationsarbeit ist zunächst bezüglich des adäquaten Granulierungsgrads eines Knotens zu leisten. Hier trifft man einerseits auf stark aggregierte Grob-Spezifikationen der jeweiligen Akteure, wie im Zusammenhang mit dem Familieneinkauf angedeutet wurde. Verfeinerung ist nicht zuletzt auch beim zentralen Referenzknoten Unternehmen angesagt. Dort ist vor allem dann eine Segmentierung erforderlich, wenn die Beschaffungs- und Vertriebsaktivitäten (mit Lieferanten bzw. Kunden) nicht zentral auf der Konzernebene, sondern dezentral auf der Ebene der Geschäftseinheiten oder Standorte betrieben werden. Umgekehrt kann es auch zu einem zu hohen Granulierungsgrad kommen, der dann durch Entfeinerung reduziert werden muss. Dies ist beispielsweise dann angebracht, wenn in den Knoten faktisch keine individuellen Akteure (z.b. einzelne Unternehmen oder Personen), sondern kollektive Akteure auftreten. Man denke beispielsweise an Einkaufs- bzw. Vertriebsgemeinschaften, Kartelle oder Power-Shopping. Ferner trägt eine Intrapolation auch der Heterogenität der jeweiligen Knoten Rechnung. Lieferanten unterscheiden sich naturgemäß signifikant durch die jeweils von ihnen bereit gestellten Ressourcen voneinander, z.b. Dienste, Module, Komponenten, Arbeit, Kapital usw.). Lokale Konkurrenten (z.b. einer Sparkasse) lassen sich nach der Knotengröße differenzieren, z.b. kommunale Genossenschaftsbanken versus Filialen von großen
Geschäftsbanken. Auch die Kundenseite ist in aller Regel durch Heterogenität geprägt: Fast alle OEMs in der Industrie betreiben zwei Geschäfte, nämlich die Erstaustattung und das Ersatzteilgeschäft, mit jeweils sehr unterschiedlichen Kundengruppen (Weiterverarbeiter versus Handel) und Geschäftsprozessen. Noch deutlicher wird die Intrapolationsnotwendigkeit, wenn die Kundengruppen konfliktäre Anforderungen stellen. Dies ist typisch für die Medienbranche: dort existieren Anforderungskonflikte zwischen Zeitungslesern, Fernsehzuschauern und Internet-Usern einerseits und den Werbekunden andererseits. Extrapolation Diese Verlängerung des Value Net wurde bereits in der Basisversion angedacht. Die Relevanz einer Extrapolation ergibt sich aus strategischen Überlegungen: Für das langfristig angelegte Management ist es notwendig, auch die Kunden der Kunden, die Lieferanten der Lieferanten usw. in die Vernetzungslandschaft zu integrieren. Dabei überspringt das Referenzunternehmen gewissermaßen die direkten Vernetzungsparteien und nimmt Verbindung zu deren Geschäftspartnern auf. Für grössere strategische Reichweite auf der Kundenseite spricht die dadurch erzielbare Nähe zum Endkunden, einer Quelle von möglichen Bedarfsänderungen und konstruktiven Verbesserungsvorschlägen. Deshalb kümmert sich ein strategisch proaktiv angelegtes CRM auch um die Kunden der Kunden, d.h. ein Hersteller von Motoren für Baumaschinen nicht nur um die Baumaschinenkundschaft, sondern darüber hinaus auch um die Bauwirtschaft bis hin zu den (öffentlichen und privaten) Bauherren. Upstream an der Lieferantenfront empfiehlt sich eine Extrapolation aus der Perspektive des Qualitätsmanagements und des Innovationsmanagements. Die Zulieferer der Zulieferer sind beispielsweise dann ein Qualitätsthema, wenn die Systemlieferanten angesichts des Preisdrucks der OEMs verstärkt Offshoring in Niedriglohnländern betreiben. Parallel dazu kann ein OEM den Technology-Push im Innovationsprozess nur dann ausreichend beherrschen, wenn er auch über technologische Entwicklungen bei den Materialzulieferern, den Entwicklungsdienstleistern (z.b. Ingenieurbüros) seiner Lieferanten und gegenenfalls den vorgelagerten Fertigungsdienstleistern (z.b. kosteneffiziente innovative Montagetechnologien) informiert ist. Mit den Konkurrenten der Konkurrenten ist die Abgrenzung des relevanten Marktes angesprochen. So konkurriert z.b. ein Fernsehsender unmittelbar mit anderen TV-Stationen um Einschaltquoten. Mittelbar hat er in einer entfernteren, aber strategisch nicht weniger relevanten Vernetzungsarena die Anbieter anderer Medien (Radio, Print-Produkte, Internet) zu Konkurrenten. Auch hinter der Vernetzung mit den Komplementoren der Komplementoren steht ein Modell der mehrstufig-verketteten Vernetzung. Ein Telekom- Anbieter beispielsweise greift direkt auf Abrechnungsdienstleister als Komplementoren zurück. Diese Billing-Dienstleister sind ihrerseits für die Verteilung der Rechnungen auf Versender (z.b. Postunternehmen) als Komplementoren angewiesen. Analog repräsentiert ein Transport-Versicherungsunternehmen für einen industriellen Hersteller einen direkten Komplementor, der beispielsweise Kreditinstitute zu seinen Komplementoren zählt. Interpolation Interpolation bezieht sich auf zusätzliche Vernetzungsarenen mit Akteuren, die zwischen den vorhandenen Akteuren im Basismodell angesiedelt sind. Aufgrund der Komplementarität
der Leistungen dieser Drittparteien zum Leistungsangebot der beteiligten Anbieter könnte man dafür plädieren, diese Drittparteien pauschal als Komplementoren zu behandeln und in der bereits im Grundmodell vorhandenen Arena zu positionieren. Dies geht in Ordnung für echte Diener aller Herren, die also Infrastrukturdienste für alle Akteure im Value-Net bereitstellen. Eine derartige Charakterisierung trifft beispielsweise zu auf den Gesetzgeber und Aufsichtsinstanzen (z.b. Kartellbehörden), die für geschäftliche Transaktionen eine rechtliche Infrastruktur anbieten und insofern auch flächendeckend im Value Net eine Vertrauensbasis schaffen. Analog gilt dies für bestimmte Mediatoren (z.b. Schlichter, Gerichte), Infrastrukturanbieter für die Warenlogistik (z.b. Logistik-Dienstleister, Verkehrsnetzbetreiber) und die Informationslogistik (z.b. Infomediäre, Kommunikationsinfrastrukturen und Cybermediäre wie z.b. Suchmaschinen). Gegen die Pauschallösung spricht allerdings, dass aus der graphischen Value Netz- Darstellung nicht mehr ersichtlich ist, für wen die jeweilige Drittpartei einen komplementären Dienst anbietet. Deshalb erzielt man einen höheren Informationsgehalt in der Modellierung der Vernetzungslandschaft, wenn man diese Akteure (mit Ausnahme der eben angesprochenen pauschalen Infrastruktur-Dienstleister) jeweils zwischen zwei spezifische Parteien interpoliert. Eine Interpolation kann natürlich im extrapolierten Value Net (vgl. Abb. 2) auch an der Peripherie, d.h. zwischen den indirekten und den direkten Vernetzungsparteien durchgeführt werden. Entlang der Wertschöpfungskette lassen sich hauptsächlich die Intermediäre (Transaktionsvermittler) wie Händler, Investment-Banker, Makler und Marktbetreiber (z.b. Börsengesellschaften) interpolieren. Hier kann es auch zu multiplen Interpolationen kommen: Der Klassiker auf diesem Gebiet ist das zweistufige Handelssystem aus Großhandel und Einzelhandel. In der Musikbranche sind zwischen Musikproduzenten und Musikkonsumenten beispielsweise die Tonträgervertriebsgesellschaften und die Radiosender geschaltet. Als Drittparteien zwischen einem Unternehmen und seinen Konkurrenten fungieren beispielsweise Branchenverbände, die Normen und Spielregeln für Konkurrenz wie auch für Kooperation entwerfen. Zwischen Herstellern und ihren Komplementoren sind als Drittparteien bestimmte Informationsdienstleister (z.b. Messeveranstalter, Portalbetreiber) sowie branchenübergreifende Vermittlungsdienstleister zu positionieren. Literaturhinweise Nalebuff, B.J./ Brandenburger, A.M.: Coopetition - kooperativ konkurrieren. Mit der Spieltheorie zum Unternehmenserfolg, Frankfurt/M., New York 1996 Reiß, M.: Netzwerk-Kompetenz, in: Corsten, H. (Hrsg.): Unternehmensnetzwerke. Formen unternehmensübergreifender Zusammenarbeit, München-Wien 2001, S. 121-187