Zwischen Resignation und Integration: Haben die Flüchtlingsfamilien die Grenzen ihrer Resilienz erreicht? Dr. med. Fana Asefaw Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Clienia Littenheid AG, Schweiz Swiss Public Health Conference 2016 Bern 15. November 2016
Asylsuchende in der Schweiz 2015
Begleitete minderjährige Asylsuchende (BMA) 2014 32 22 28 26 12 6 3 1 12 10 1 5 3 61 1 1 6 11 29 17 4 79 16 2 3 1 1544 83 248 2 1 30 1 4 Quelle: Staatssekretariat für Migration. (2015b). Migrationsbericht 2014. Bern: Bundespublikationen
Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) 2014 11 9 1 2 2 3 4 6 2 13 1 2 1 1 521 10 50 3 1 Quelle: Staatssekretariat für Migration. (2015b). Migrationsbericht 2014. Bern: Bundespublikationen
Psychiatrische Konsultation auf Umwegen Zuweisungen von Hausärzten, Kinderärzte, Kliniken, Sozialarbeitern und Schulen Vorherige (häufig somatische/medikamentöse) Therapien haben nicht zu dem gewünschten Erfolg geführt Besonders Minderjährige sind die Leidtragenden, akute Dekompensation und Einweisungen gemäss FU in Psychiatrische Kliniken Cave: Einbezug von Kulturvermittlern wäre sinnvoller, statt Noteinweisung in Kliniken
Divergierende Krankheitsverständnisse und Vorstellungen von Therapie Auftragsklärung überfordert und verunsichert Flüchtlinge Psychosoziale Belastungsfaktoren im Vordergrund Auf mythisch-traditionellen Krankheitstheorien beruhendes Krankheitsverständnis Aufklärung über eigene Kompetenzbereiche & Grenzen Vernetzung mit Organisationen wie NCBI oder Caritas Schweiz um psychosoziale Entlastungen zu ermöglichen
Einstellung zu psychischen Erkrankungen Negative Haltung gegenüber psychischen Erkrankungen psychisch Kranke werden in ihren Heimatländern eher isoliert und nicht psychiatrisch behandelt Folge: Scham und Schuldgefühle, Isolation, Stigmatisierung Lösung: Kultursensible Aufklärung der Flüchtlinge zeitnah im Asylantenheim
ÜberlebenskünstlerInnen? Psychische, körperliche und sexuelle Gewalt erlitten Hohe Anpassungsleistungen, Flexibilität, gute Widerstandskraft Ankunft in der Schweiz häufig mit Erschöpfung und gesundheitlichen Einbussen
Falldarstellung: Jonas 16-jähriger UMA aus Eritrea, vorläufig aufgenommen in CH Grund der medizinischen Konsultation in der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Ambulanz, Clienia Littenheid AG, Winterthur, März 2016: Die zuständige Sozialarbeiterin vermittelt den Patienten wegen dissoziativem Stupor. Innerhalb von 7 Monaten 3x akut in verschiedenen Kliniken eingewiesen.
Persönliche Anamnese Nach eigenen Angaben: geboren 2000 in Eritrea, Vater zwangsrekrutiert beim Militär ca. 45- jährig, Mutter ca. 37 J. Hausfrau, 9 Geschwister (4 Jungen, 5 Mädchen), 2 ältere Brüder bereits geflohen (Schweiz und Schweden) Anfang 2014 von Schule suspendiert, weil dem Militärpflichtdienst nicht beigetreten Bis Ende 2014 zuhause bei seiner Familie, sehr isoliert, aus Angst vor Zwangsrekrutierung kein Kontakt zu Peers Anfang 2015 Flucht nach Europa
I: Fluchtanamnese: Hoffnung auf ein besseres Leben 2015 Flucht aus Eritrea, allein (zu Fuss, auf Kamelen, mit Bussen) nach Sudan, ohne jegliche Habseligkeiten In Khartum (Sudan) ca. 4 Wochen Aufenthalt: alleine durchgeschlagen durch Hilfsjobs, konnte sein Überleben sichern Schockerlebnis: seine Mutter sei in Eritrea im Gefängnis, Grund: seine Flucht Kurz nach dieser Nachricht erstmalig Taubheitsgefühl, Kribbeln am ganzen Körper, Lähmungserscheinungen an den Gliedmassen
II: Fluchtanamnese: Eine Odyssee der Qual Ankunft in Libyen, Erschöpfung, gesundheitliche Probleme, kommt mit anderen Eritreern ins Gefängnis Im Gefängnis Demütigung, Folter; Zeuge von psychischer, physischer und sexueller Gewalt Nach 4 Wochen Flucht nach Italien, auf Boot zusammengepfercht, permanent Angst von Polizei aufgegriffen zu werden Von Italien mit Bahn in die Schweiz: Durchgangs Asylheim
Wenn der Traum zum Alptraum wird Direkt nach Ankunft im Asylantenheim katatoner Stupor, Desorientiertheit In Spital notfallmässig eingeliefert Akute somatische Behandlung mit Haldol, Valium i.m. Infusionen
Wofür steht der stuporöse Zustand? Grausame Erlebnisse auf der Flucht (Folter, Gewalt, Angst, Scham, Schuld) Unfähigkeit, das Erlebte in Worte zu fassen Die Realität und Wunschvorstellung passen nicht zusammen Überforderung durch Werte- und Kulturkollision im Aufnahmeland
In der Schweiz: positive Strategien verloren? Ursachen aus Sicht der Betroffenen UMAs Angst vor Abschiebung in ihre Heimatländer Bürokratische Hürden Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen bei Wohnungsoder Arbeitssuche Perspektivlosigkeit und mangelnde Selbstwirksamkeitserfahrung Aktuell sind Motivation und Durchhaltewillen sehr niedrig, sie sehen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht anerkannt
Postmigratorische Stressoren überwiegen bei vielen UMAs Sicherheit und Schutz fehlen (Asylstatus, Unterbringung im Asylantenheim für mehrere Monate) Individualistische versus kollektivistische Gesellschaftsform Schulische und berufliche Misserfolge Anpassungsleistung und Resilienzfaktoren eingeschränkt u.a. aufgrund der Interaktionsproblematik mit der Umwelt
Resilienzförderung: ein interaktives Modell zwischen Individuum und sozialer Umwelt? Viele Flüchtlingsfamilien sind mit der neuen Sozialisation in der Schweiz überfordert Protektiver Faktor wird zu Risikofaktor Fehlen von Bezugspersonen, die sie dabei unterstützen, eigene gute Kräfte zu mobilisieren
Ressourcenmobilisierung bei UMAs Unterbringung in kinder- und jugendgerechten Einrichtungen Zügigere Verfahren der Asylanträge Sinnvolle Tagesstruktur Erwerb von Sprache Schulische und berufliche Massnahmen Positive Selbstwirksamkeitserfahrung und grosse Motivation um die Integrationsherausforderungen zu meistern
Take home massage Die Flüchtlinge, die in der Schweiz ankommen, sind in der Regel gesunde junge Menschen. Sie haben viele Ressourcen und eine gute Widerstandskraft. Damit sie sich diese erhalten können, brauchen sie eine kultursensible enge Begleitung und eine persönliche und berufliche Perspektive, sowie sinnvolle Reize, um die Herausforderungen des Integrationsprozesses zu überwinden. Aktuell sind die Angebote zur Umsetzung der Integration nicht an die Ressourcen der Flüchtlingsfamilien angepasst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!