Ereigniskorrelierte Potentiale im Wachkoma Eine Katamnese

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Transkript:

Ereigniskorrelierte Potentiale im Wachkoma Eine Katamnese Wissenschaftliche Arbeit zur Erlangung des Grades eines Diplom-Psychologen im Fachbereich Psychologie der Universität Konstanz vorgelegt von Simon Eickhoff Zogelmannstr.13 78462 Konstanz Erstgutachterin: Jun. Prof. Dr. Johanna Kißler Zweitgutachter: Prof. Dr. Brigitte Rockstroh Konstanz, im November 2009

INHALTSVERZEICHNIS Danksagung... 3 1. Einleitung... 4 1.1 Ziel der Untersuchung... 4 1.2 Wachkoma... 4 1.3 Definition... 5 1.4 Unterscheidung von ähnlichen Störungsbildern... 6 1.4.1 Koma... 6 1.4.2 minimal bewusster Zustand... 6 1.4.3 Locked-In-Syndrom... 7 1.5 Diagnose... 8 1.6 Ätiologie... 9 1.7 Prognose... 10 1.8 Kortikale Aktivität im AS... 13 1.8.1 Hirnmetabolismus... 13 1.8.2 Aktivierunsstudien... 14 1.8.3 Evozierte Potentiale... 15 1.8.4 Ereigniskorrelierte Potentiale... 16 1.9 EKP Komponentenerkennung bei Patienten im AS... 25 1.10 Hypothesen und Fragestellung... 29 2. Methoden... 30 2.1 Patienten... 30 2.2 Rahmen der Untersuchung... 30 2.3 Stimulation... 31 2.4 EEG-Aufzeichnung... 31 2.5 Visuelle Komponentenanalyse... 31 2.6 CWT Komponentenanalyse... 32 2.6.1 Vorverarbeitung der Daten... 32 2.6.2 1. Schritt: CWT... 33 2.6.3 2. Schritt: Berechnung von Mittelwert und Varianz... 33 2.6.4 3. Schritt: Berechnung der t-statistik... 33 2.6.5 4. Schritt: Suche des Maximums in einem Zeit-Frequenz-Fenster... 34 2.6.6 Statistische Auswertung der CWT... 34 2.7 Katamnese... 35 2.7.1 Durchführung... 35 2.7.2 Koma-Remissions-Skala (KRS)... 35 2.7.3 Frühreha-Barthelindex (FRB)... 35 2.7.4 Glasgow-Outcome-Scale (GOS)... 36 2.8 Statistische Auswertung der Vierfeldertafeln... 36 1

3. Resultate... 38 3.1 EKP-Kurven und Differenzskalogramme... 38 3.1.1 Patient 39... 38 3.1.2 Patient 38... 42 3.2 Visuelle Komponentenanalyse... 46 3.3 CWT Komponentenanalyse... 47 3.4 Katamnese... 48 3.5 Prognostische Vierfeldertafeln... 50 4. Diskussion... 52 4.1 Zur Fragestellung... 52 4.1.1 Auftreten der N400... 52 4.1.2 Prognostische Bedeutung der N400... 53 4.1.3 Vergleich zwischen visueller- und CWT Komponentenanalyse... 54 4.2 Weiterführende Überlegungen... 55 4.2.1 Beurteilerübereinstimmung bei der visuellen Auswertung... 55 4.2.2 Optimierung des Schwellenkriteriums... 55 4.3 Resümee und Ausblick... 58 5. Zusammenfassung... 61 Literaturverzeichnis... 63 Anhang... 68 Anhang 1: Patientenübersicht... 68 Anhang 2: Koma-Remissions-Skala... 70 Anhang 3: Frühreha-Barthelindex... 72 2

DANKSAGUNG Die Unterstützung durch folgende Menschen war unabdingbar für das Entstehen dieser Diplomarbeit: Ich danke Inga Steppacher für die großartige Zusammenarbeit in allen Phasen dieses Forschungsprojektes. Prof. Johanna Kißler dafür, dass sie an mein Projekt geglaubt hat, als ich selber zweifelte und für ihre beispiellose, beständige Unterstützung. Todor Iordanov dafür, dass er uns seine MATLAB-Künste zur Implementierung des CWT Auswertungsalgorithmus zur Verfügung gestellt hat. Tobias Schertler für die Durchführung der meisten Telefon-Interviews mit den Angehörigen der Patienten. Dr. Wolfgang Witzke für seine jahrelange unermüdliche Arbeit, in der er einen wahren Schatz an Daten angesammelt hat und für seine Unterstützung bei der Auswertung dieses Datenschatzes. Den Kliniken Schmieder Allensbach und insbesondere Dr. Michael Kaps und dem ganzen Frühreha-Team für außergewöhnliche Einblicke in die herausfordernde Arbeit mit schwersthirngeschädigten Patienten und für die vorbehaltlose Unterstützung unserer Forschungsaktivitäten. Prof. Brigitte Rockstroh für ihr Interesse und die Unterstützung unseres Projektes in Zeiten der Not und natürlich dafür, dass sie sich ohne zu zögern dazu bereit erklärt hat, die undankbare Rolle als Gutachter für eine weitere Diplomarbeit zu übernehmen. Dr. Holger Bringmann für hilfreiche Kommentare und anregende Diskussionen zu diesem Text. Meiner Frau Yvonne dafür, dass sie mein unermüdlicher Kritiker und Korrektor war und ein wirklich verständnisvoller Mitbewohner. 3

1. EINLEITUNG 1.1 ZIEL DER UNTERSUCHUNG Zwei Fragen beschäftigen Ärzte, Therapeuten, Pflegende und vor allem Angehörige von schwer bewusstseinsgestörten Patienten wohl am meisten: - Was kann der Patient von seiner Umgebung wahrnehmen? - Wird sich sein Zustand irgendwann wieder verbessern? Die Klärung dieser Fragen ist höchst relevant, um angemessen mit diesen Patienten umgehen zu können und um den Angehörigen eine Zukunftsperspektive zu geben. Weiterhin ist es aus Sicht der wissenschaftlichen Grundlagenforschung interessant zu untersuchen, inwieweit kognitive Informationsverarbeitung ohne oder mit eingeschränktem Bewusstsein möglich ist. Die vorliegende Diplomarbeit versucht einen Beitrag zur Beantwortung dieser Fragen zu leisten. Wir untersuchen, ob es Wachkomapatienten gibt, bei denen die semantische Verarbeitung von Sprache intakt ist und inwieweit diese Patienten eine größere Chance haben, wieder zu Bewusstsein zu kommen. Bei gesunden Probanden findet man normalerweise eine spezifische Veränderung des ereigniskorrelierten Skalppotentials (N400), wenn ein gesprochener Satz mit einem semantisch unpassenden Wort endet. Wir untersuchen ob die N400 auch bei Wachkomapatienten gemessen werden kann und ob dies eine Prognose des langfristigen Krankheitsverlaufs ermöglicht. 1.2 WACHKOMA "Der Patient liegt wach da mit offenen Augen. Der Blick starrt gerade oder gleitet ohne Fixationspunkt verständnislos hin und her. Auch der Versuch, die Aufmerksamkeit hinzulenken, gelingt nicht oder höchstens spurweise; Ansprechen, Anfassen, Vorhalten von Gegenständen erweckt keinen sinnvollen Widerhall; die reflektorischen Flucht- und Abwehrbewegungen können fehlen..." (Kretschmer, 1940) In unserer normalen Alltagserfahrung besteht eine klare Beziehung zwischen unserer Wachheit und der Lebendigkeit unseres bewussten Erlebens und Handelns. Bei Patienten im Wachkoma ist diese Beziehung aufgehoben, sie sind wach, ohne dass Anzeichen von bewusstem Erleben und Handeln erkennbar wären (Demertzi, Laureys, & Boly, 2009; Laureys, Boly, Moonen, & Maquet, 2009). Dieser paradoxe Zustand konnte erst seit einigen Jahrzehnten systematisch erforscht werden, da 4

erst der Fortschritt der modernen Intensivmedizin das Überleben vieler Patienten mit schwersten Hirnschädigungen überhaupt ermöglichte. Da aber die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Bewusstseinsstörung eines schwer hirngeschädigten Patienten nicht oder nur verzögert zurückbildet, relativ konstant geblieben ist (Hagel & Rietz, 1998), gibt es erst seit dieser Zeit eine größere Anzahl von Patienten im Wachkoma. Wachkoma ist mit einer geschätzten Jahresprävalenz in Europa von 1,5-2 Patienten pro 100.000 Einwohner (von Wild, et al., 2007) immer noch ein sehr seltenes Symptombild. Aus den obigen Gründen sind Begriffsbildung, Diagnose, Theorie und Forschung teilweise noch nicht so weit fortgeschritten bzw. vereinheitlicht wie bei anderen Erkrankungen. Im kontinentaleuropäischen Umfeld wird seit der Erstbeschreibung durch Kretschmer (Kretschmer, 1940) meist der Begriff apallisches Syndrom verwendet, begrifflich also eine Dysfunktion des Hirnmantels (Pallium) impliziert. Wie ich in Kapitel 1.8 ausführlich darstellen werde, gibt es heute jedoch konvergierende Evidenz dafür, dass der Cortex von Patienten im Wachkoma keineswegs dysfunktional sein muss und daher die Bezeichnung apallisches Syndrom irreführend ist. Im anglo-amerikanischen Sprachraum wurde nach (Jennett & Plum, 1972) lange der Begriff persistent vegetative state (PVS) verwendet. In der neueren Literatur wird derselbe Zustand meist nur noch als vegetative state (VS) bezeichnet. Die direkte Übersetzung als vegetativer Zustand ist in der deutschen Fachliteratur aber ungebräuchlich und semantisch sicherlich ebenso problematisch wie apallisches Syndrom. Ich werde ab jetzt aber trotzdem den in der deutschsprachigen Fachliteratur gebräuchlichen Begriff apallisches Syndrom (AS) als Synonym für Wachkoma und vegetative state verwenden. 1.3 DEFINITION Im Kontext eines gesteigerten Interesses an der Vereinheitlichung der Definition des AS wurde 1991 durch die American Academy of Neurology, die Child Neurology Society, die American Neurological Association, die American Association of Neurological Surgeons und die American Academy of Pediatrics die Multi-Society Task Force on PVS eingerichtet. Die Konsens- Definition aus dem Jahr 1994 ist heute die meistzitierte Definition des AS (The Multi-Society Task Force on PVS, 1994a). Nach dieser Definition befindet sich ein Patient im AS, wenn folgende Kriterien zutreffen: 5

(1) kein Anzeichen von Bewusstsein der Umgebung oder des Selbst und Unfähigkeit mit anderen zu interagieren; (2) kein Anzeichen eines andauernden, wiederholbaren, zielgerichteten und willentlichen Verhaltens als Reaktion auf visuelle, akustische, taktile Reize oder Schmerzreize; (3) kein Anzeichen von Sprachverständnis oder Sprachproduktion; (4) zeitweilige Wachheit mit erhaltenem Schlaf-Wach Rhythmus; (5) hinreichend erhaltene Funktion des autonomen Nervensystems; (6) Inkontinenz; (7) teilweise erhaltene kraniale und spinale Reflexe. Patienten im AS können sich also durchaus bewegen, auch wenn ihre Bewegungen nicht willentlich oder zielgerichtet sind. Einige Patienten zeigen lebhafte Augenbewegungen, manche bewegen stereotyp einzelne Gliedmaßen oder ihren Rumpf, andere grimassieren, machen Kaubewegungen, geben unartikulierte Geräusche von sich oder zeigen einen klaren, aber nicht habituierenden Lidschlagreflex auf laute Geräusche. Bei vielen Patienten sind außerdem die Regulation des Herz- Kreislauf- Systems, die Atmung, die Verdauung, und wichtige Reflexe wie der Schluckreflex und der Hustenreflex hinreichend erhalten. 1.4 UNTERSCHEIDUNG VON ÄHNLICHEN STÖRUNGSBILDERN 1.4.1 KOMA Patienten im Koma können im Gegensatz zu Patienten im AS selbst durch intensive Reize nicht aufgeweckt werden, auch findet man bei ihnen keinen Schlaf-Wach-Rhythmus. Koma ist außerdem immer ein zeitlich begrenzter Zustand, der üblicherweise Tage oder Wochen andauert und dann entweder mit der Wiedererlangung des Bewusstseins, mit dem Übergang in den AS oder mit dem Tod des Patienten endet. 1.4.2 MINIMAL BEWUSSTER ZUSTAND Bei Patienten im minimal bewussten Zustand (Minimally Conscious State [MCS]) finden sich sporadisch einzelne Hinweise auf bewusste Informationsverarbeitung. MCS unterscheidet sich vom AS nach der Konsens-Definition der Aspen Neurobehavioral 6

Conference Workgroup von 2002 durch mindestens eines der folgenden Verhaltensmuster (Giacino, et al., 2002): Umsetzen einfacher Handlungsaufforderungen Ja/ Nein Antworten, sprachlich oder durch Gesten (unabhängig von ihrer Korrektheit) verständliche sprachliche Äußerungen zielgerichtete Handlungen wie z.b. o situationsadäquates Lachen oder Weinen o Lautäußerungen oder Gesten als direkte Reaktion auf den Inhalt von Fragen o Greifen nach Objekten, mit klarer Beziehung zwischen dem Ort des Objektes und der Greifrichtung o Berühren oder Halten von Objekten, wenn die Berührung zur Größe und Form des Objekts passt o Augenfolgebewegungen oder andauernde Fixation als direkte Reaktion auf sich bewegende oder saliente Reize Sobald ein Patient zur interaktiven Kommunikation fähig ist oder er mindestens zwei Objekte korrekt benutzt, wird davon ausgegangen, dass er sich nicht mehr im MCS befindet. 1.4.3 LOCKED-IN-SYNDROM Patienten im Locked-In-Syndrom (LIS) sind zwar wach und bei Bewusstsein, können sich aber weder sprachlich noch über Gesten ausdrücken. Durch bestimmte Schädigungen des Hirnstamms, häufig durch beidseitige Läsionen des ventralen Pons, ist es ihnen nicht möglich, ihre Bewegungen bewusst zu steuern. Einzige Ausnahme sind bei vielen Patienten die vertikalen Augenbewegungen oder der Lidschluss, die noch der willentlichen Kontrolle des Patienten unterliegen und so den einzigen Kommunikationskanal zur Außenwelt darstellen. (Laureys, et al., 2005). Das klinische Bild ähnelt oft dem von Patienten im AS, so dass es leicht zu Fehldiagnosen kommen kann. So dauerte es bei einer Untersuchung von 44 Patienten im LIS durchschnittlich 78 Tage (seit der Hirnschädigung) bis festgestellt wurde, dass die Patienten bei Bewusstsein waren (León-Carrión, van Eeckhout, del Rosario Domínguez-Morales, & Pérez-Santamaría, 2002). Bei mehreren Patienten erfolgte die korrekte Diagnose erst nach mehr als 4 Jahren. Bei 55% der 7

Patienten waren es Angehörige, die erstmalig feststellten, dass der Patienten bei Bewusstsein waren, bei nur 23% der behandelnde Arzt. 1.5 DIAGNOSE Trotz der Vereinheitlichung der Definition von Bewusstseinsstörungen gibt es Hinweise darauf, dass bei Patienten, bei denen AS diagnostiziert wurde, die Rate von Fehldiagnosen immer noch bei ca. 40 % liegt (Schnakers, et al., 2009). Als Hauptgrund wird angeführt, dass häufig die subtilen Unterschiede im Verhalten des Patienten, die den Übergang vom AS zu MCS ausmachen, nicht erkannt werden. Daher ist die Verbesserung der diagnostischen Verfahren von höchster Wichtigkeit. Der Goldstandard bei der Diagnose von Bewusstseinsstörungen ist die klinische Untersuchung von motorischen Reaktionen des Patienten auf sensorische Stimulation. Das Hauptproblem bei dieser Form der Diagnose ist, dass bewusstes menschliches Erleben nur aus der Perspektive der ersten Person direkt zugänglich ist. Bei anderen Menschen können wir lediglich aus dem wahrnehmbaren Verhalten Rückschlüsse auf ihr bewusstes Erleben ziehen. Festzustellen ob ein Verhalten willentlich oder zielgerichtet ist, ist bereits bei Menschen ohne Hirnschädigung nicht immer triviale Aufgabe. Zusätzlich zu diesem grundsätzlichen Problem kommt bei Patienten mit schwersten Hirnschädigungen noch erschwerend hinzu, dass ihr Verhaltensrepertoire auf Grund von Wahrnehmungs-, Bewegungs- und Aufmerksamkeitsstörungen gegenüber gesunden Menschen massiv eingeschränkt sein kann. Daraus allein abzuleiten, dass ihr Bewusstsein ebenso eingeschränkt sein muss, wäre ein klarer Fehlschluss. Durch präzise Verhaltensbeobachtung und testung kann zumindest die Wahrscheinlichkeit reduziert werden, dass Anzeichen für bewusste Informationsverarbeitung bei einem Patienten übersehen werden. Die Aspen Neurobehavioral Conference Workgroup empfiehlt daher folgende diagnostische Leitlinien (Giacino, et al., 2002): (1) Eine adäquate Stimulation sollte angewendet werden, um die Wachheit des Patienten zu maximieren. (2) Faktoren, welche die Wachheit des Patienten negativ beeinflussen könnten, sollten beachtet werden (z.b. sedierende Medikamente, Auftreten von epileptischen Anfällen). 8

(3) Versuche bestimmte Verhaltensantworten durch verbale Anweisungen hervorzurufen sollten keine Verhaltensweisen beinhalten, die häufig auch reflexhaft auftreten. (4) Versuche bestimmte Verhaltensantworten durch verbale Anweisungen hervorzurufen, sollten nur solche Verhaltensweisen beinhalten, die der Patient motorisch auch ausführen kann. (5) Ein weites Spektrum an unterschiedlichen Verhaltensantworten sollte untersucht werden, ebenso wie eine große Anzahl unterschiedlicher Stimuli um diese hervorzurufen. (6) Die Untersuchung sollte an einem möglichst störungsfreien Ort durchgeführt werden. (7) Eine fortlaufende Wiederbeurteilung durch systematische Beobachtung und reliable Messinstrumente sollte zur Bestätigung der Richtigkeit der ursprünglichen Diagnose durchgeführt werden. Spezielle Verfahren, die eine quantitative Einstufung des Zustands des Patienten ermöglichen, können hilfreich sein. (8) Beobachtungen von Angehörigen, Pflegenden und Therapeuten, die an der täglichen Betreuung des Patienten teilhaben, sollten bei der Planung von Untersuchungen mit einbezogen werden. Ein nach diesen Leitlinien durchgeführter diagnostischer Prozess minimiert die Wahrscheinlichkeit einer Fehldiagnose. Allerdings ist es prinzipiell auch bei gewissenhaftester klinischer Diagnostik stets möglich, dass das Gehirn eines Patienten bewusst Informationen verarbeitet, aber diese auf Grund der Hirnschädigung nicht in beobachtbares Verhalten umsetzen kann. Daher ist es wünschenswert zur Absicherung der Diagnose von Bewusstseinsstörungen objektive Verfahren zu entwickeln und zu validieren, die eine direktere Messung der erhaltenen Hirnfunktionen ermöglichen (Monti, Coleman, & Owen, 2009). 1.6 ÄTIOLOGIE Unterschiedliche Schädigungsmechanismen können dazu führen, dass sich bei einem Patienten ein AS entwickelt. Bei Entstehung im Erwachsenenalter lassen sie sich folgendermaßen einteilen (The Multi-Society Task Force on PVS, 1994a): Traumatische Hirnschädigung o o Geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma (z.b. durch Verkehrsunfall, Sturz) Direkte Hirnverletzung (z.b. durch Schussverletzung) 9

Nicht- traumatische Hirnschädigung o o o o o Hypoxische Hirnschädigung (z.b. nach Herzstillstand, Strangulation) Cerebrovaskuläre Hirnschädigung (z.b. nach Schlaganfall, Subarachnoidalblutung) Infektionen des zentralen Nervensystem (z.b. bakterielle/ virale Meningitis) Hirntumor Toxine Degenerative und metabolische Erkrankungen des zentralen Nervensystems (z.b. Morbus Alzheimer, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit) Die zwei häufigsten Schädigungsmechanismen sind Schädel-Hirn-Trauma und Hypoxie nach Herzstillstand (Bernat, 2009). Lokalisation und Ausdehnung des verletzten Hirngewebes sind genauso heterogen wie die Schädigungsmechanismen: Bei der neuropathologischen Untersuchung finden sich am häufigsten Abnormalitäten des Thalamus, ischaemische Schädigungen des Neocortex (meist diffus und multifokal) und diffuse axonale Schädigungen der weißen Substanz (Kinney & Samuels, 1994; Adams, Graham, & Jennett, 2000). 1.7 PROGNOSE Die langfristige Betreuung eines Patienten mit einer schweren Bewusstseinsstörung ist wahrscheinlich eine der größten Herausforderungen, die sich Angehörigen stellen kann. Nicht zuletzt deswegen wäre es von zentraler Wichtigkeit, so früh wie möglich eine verlässliche Voraussage über den weiteren Verlauf der Bewusstseinsstörung machen zu können. In den populären Medien werden die Wahrscheinlichkeit einer Erholung und die verbleibenden Folgeschäden von Patienten mit schweren Bewusstseinsstörungen oft übermäßig optimistisch dargestellt (Casarett, Fishman, MacMoran, Pickard, & Asch, 2005), was zu falschen Erwartungen auf Seiten der Angehörigen führen kann. Tatsächlich ist eine weitgehende Erholung aus dem AS eher unwahrscheinlich, und die verbleibenden Folgeschäden sind meist massiv. In einer Verlaufsanalyse von 1373 Patienten mit AS ausschließlich nach Schädel-Hirn-Trauma waren nach einem Jahr 51% der Patienten verstorben, 11% verblieben im AS, 26% waren schwerstbehindert und 10% waren mittelschwer behindert oder hatten sich gut erholt (Braakmann, Jennett, & Minderhoud, 1988). In einer Untersuchung von 603 Patienten mit unterschiedlicher Ätiologie (The Multi-Society 10

Task Force on PVS, 1994b) waren nach einem Jahr 39% der Patienten verstorben, 20% verblieben im AS, 23% waren schwerstbehindert, 13% mittelschwer behindert und 5% hatten sich gut erholt 1. Bei einer Analyse der Ergebnisse von vier Langzeitstudien mit insgesamt 267 Patienten im AS (Ashwal & Cranford, 1995) betrug die durchschnittliche Überlebensdauer im AS 4.4 Jahre, 5 Patienten überlebten allerdings länger als 10 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Patient länger als 15 Jahre im AS überlebt, ist sehr gering; die Schätzungen liegen hier zwischen 1 zu 15.000 und 1 zu 75.000 (The Multi-Society Task Force on PVS, 1994a). Es wurden mehrere Faktoren vorgeschlagen, die eine spezifischere Prognose der funktionalen Erholung von Patienten im AS ermöglichen: Ein wichtiger Faktor ist das Alter des Patienten. Bei jüngeren Patienten ist die Wahrscheinlichkeit einer Erholung höher. Ein weiterer wichtiger Faktor ist, wie lange der AS bereits andauert. Je länger ein Patient im AS verbleibt, detso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich sein Bewusstseinszustand wieder verbessert. Weiterhin relevant ist die Ursache, die zur Entstehung des AS führte. Hier ist die Prognose bei traumatischen Hirnschädigungen wesentlich besser als bei nicht- traumatischen Hirnschädigungen. Den Einfluss der bisherigen Dauer und der Ursache des AS auf die Prognose kann auch anhand der oben bereits genannten Verlaufsanalyse von 603 Patienten illustriert werden (The Multi- Society Task Force on PVS, 1994b). Von 434 Patienten mit traumatischem Schädigungsmechanismus hatten 33% innerhalb der ersten drei Monate das Bewusstsein wiedererlangt, während 15 % der Patienten verstarben. Im Zeitraum zwischen 3 und 6 Monaten erholten sich weitere 13% der Patienten, während 9% der Patienten verstarben und im Zeitraum zwischen 6 Monaten und einem Jahr erholten sich weitere 6% der Patienten, während weitere 9% verstarben. Nach mehr als einem Jahr im AS war noch bei 7 von 434 Patienten eine Wiedererlangung des Bewusstseins feststellbar. Von den 169 Patienten mit nicht-traumatischem Schädigungsmechanismus hatten nur 11% 1 In der Publikation sind die prozentualen Anteile einzeln für traumatische und nicht- traumatische Ätiologie aufgeführt, ich habe daraus die absolute Anzahl der Patienten in den jeweiligen Gruppen zurückgerechnet und diese dann für beide Schädigungsmechanismen kumuliert. 11

innerhalb der ersten 3 Monate das Bewusstsein wiedererlangt, während 15 % der Patienten verstarben. Innerhalb der folgenden drei Monate erlangten nur zwei weitere Patienten das Bewusstsein wieder, während weitere 16% der Patienten verstarben. Im Zeitraum von 6-12 Monaten erholte sich kein weiterer Patient, während 13% der Patienten verstarben. Diese Daten illustrieren, dass mit steigender Dauer des AS die Wahrscheinlichkeit abnimmt, dass ein Patient wieder das Bewusstsein erlangt. Dieser Effekt ist bei nicht-traumatischem Schädigungsmechanismus noch wesentlich stärker ausgeprägt als bei traumatischem Schädigungsmechanismus. Die Autoren interpretieren die Ergebnisse jedoch stärker: Nach einem Jahr schlagen sie für die Patienten, die sich nach traumatischer Schädigung noch immer im AS befinden, die Klassifikation Permanent Vegetative State vor, bei Patienten mit nicht-traumatischer Schädigung bereits nach drei Monaten. Diese Bezeichnung impliziert eine Irreversibilität des Zustandes. Die Autoren schränken zwar selber ein, dass Permanent Vegetative State keine Diagnose sei, sondern eine Prognose, aber die Bezeichnung kann dennoch leicht missverstanden werden. Wenn man die Ergebnisse anders darstellt als die Autoren, drängen sich besonders bei Patienten mit traumatischer Schädigungsursache doch erhebliche Zweifel an der Irreversibilität des Permanent Vegetative State auf: Es erscheint mir sinnvoller die 7 Patienten, die nach mehr als einem Jahr zu Bewusstsein kamen, nicht im Vergleich zur gesamten Population von 434 Patienten zu betrachten, sondern lediglich zur Anzahl der Patienten, die sich nach einem Jahr überhaupt noch im AS befinden. Wenn man diesen Vergleich durchführt, ergibt sich ein Verhältnis von 7 zu 65, also eine Wahrscheinlichkeit von 11 %, dass Patienten, die nach einem Jahr noch immer im AS sind, später das Bewusstsein wiedererlangen. Man sollte außerdem nicht außer Acht lassen, dass sich möglicherweise noch weitere Patienten nach dem Ende des Beobachtungszeitraums der Analyse erholt haben könnten. Es gibt immer wieder einzelne gut dokumentierte Berichte von Patienten, die später als ein Jahr nach dem Beginn des AS das Bewusstsein wiedererlangen (Andrews, 1993; Faran, Vatine, Lazary, Ohry, Birbaumer, & Kotchoubey, 2006). So wird z.b. ein Patient mit Hypoxie, die durch einen Narkosezwischenfall verursacht wurde, beschrieben, der wieder Augenfolgebewegungen zeigte, nachdem er 36 Monate im AS verblieben war, und später sogar konsistent adäquate Reaktionen 12

auf humorvolle Situationen zeigte, genauso wie erkennbare Freude, wenn seine Frau ihn besuchte, und Beunruhigung, wenn sie ihn wieder verließ. Er reagierte allerdings nicht auf Aufforderungen und blieb vollständig abhängig von intensiver Pflege. Unbestritten bleibt, dass die Wahrscheinlichkeit einer Erholung mit steigender Dauer des AS immer geringer wird, und dass bei Patienten, die sich spät erholen, fast immer schwere Beeinträchtigungen zurückbleiben. Aber nach einem Jahr bzw. 3 Monaten von Irreversibilität des AS zu sprechen wäre eine Überinterpretation der empirischen Daten. Daher ist eine Langzeituntersuchung des Verlaufs des AS auch über einen Zeitraum von mehreren Jahre sinnvoll, wenn auch Fälle von später Erholung vorausgesagt werden sollen. Bei vielen prognostischen Studien wird aber vermutlich unter anderem wegen der fragwürdigen Definition des Permanent Vegetative State das Outcome nach einem kürzeren Zeitraum festgestellt, meist nach einem Jahr oder sogar nur sechs Monaten. 1.8 KORTIKALE AKTIVITÄT IM AS 1.8.1 HIRNMETABOLISMUS Bei der Untersuchung des Hirnstoffwechsels mittels Positronen-Emissions-Tomografie (PET) findet man bei Patienten im AS im Vergleich zu gesunden Probanden eine Reduktion des globalen zerebralen Metabolismus von 50-60 % (Laureys, et al., 2002; Laureys, Owen, & Schiff, 2004). Einen ähnlich verringerten Hirnmetabolismus findet man bei den meisten gesunden Probanden nur im Slow-Wave-Sleep oder unter Narkose. Die Reduktion des Hirnstoffwechsels ist besonders ausgeprägt im polymodalen Assoziationkortex, besonders im Präfrontalcortex, dem Broca Areal, den parietotemporalen und posterioren parietalen Arealen und dem Precuneus. Diese Areale sind von zentraler Relevanz für verschiedene Hirnfunktionen wie Aufmerksamkeit, Gedächtnis und Sprache. Allerdings konnten in einer Studie trotz einer massiven Reduktion des Hirnmetabolismus räumlich begrenzte Inseln mit fast normalem Metabolismus gefunden werden. Bei drei der fünf untersuchten Patienten korrelierte die räumliche Verteilung dieser Inseln mit der von den Patienten gezeigten Art von Verhaltensfragmenten, so z.b. bei einem Patienten, der manchmal zusammenhangslos einzelne Worte äußerte und Inselaktivität in sprachrelevanten Arealen zeigt (Schiff, et al., 2002). 13

1.8.2 AKTIVIERUNSSTUDIEN Eine Reihe von empirischen Untersuchungen mit unterschiedlicher Methodologie liefert konvergierende Evidenz dafür, dass die kortikale Informationsverarbeitung der meisten Patienten im AS keineswegs komplett gestört sein muss. Einen wichtigen Teil der Beweislast tragen dabei die sogenannten Aktivierungsstudien (Laureys, Perrin, Schnakers, Boly, & Mejerus, 2005; Owen & Coleman, 2008; Di, Boly, Weng, Ledoux, & Laureys, 2008). Bei diesem Studiendesign kann mittels Positronen- Emissions- Tomographie (PET) und funktioneller Magnet-Resonanz- Tomographie (fmrt) überprüft werden, wie das Gehirn eines Patienten auf kontrollierte externe Stimulation reagiert, ohne dass ein Patient dazu irgendeine motorische Reaktion zeigen können muss. Dabei wurden Stimuli mit unterschiedlicher Komplexität verwendet: Stimuli mit niedriger Komplexität wie: o Klickgeräusche o Schmerzreize o Lichtblitze o Berührung der Handfläche Stimuli mit höherer Komplexität wie: o der Vorname des Patienten o ein von einem Verwandten vorgelesener Text o bekannte Gesichter o ein hierarchisches Sprachparadigma (Coleman, Rodd, Davis, & Johnsrude, 2007; Coleman, et al., 2009) bestehend aus folgenden Kontrasten auditorische Stimulation vs. Ruhe verständliche Sprache vs. unverständliche sprachähnliche Geräusche mehrdeutige vs. semantisch eindeutige Sätze o Mentale Vorstellungsaufgaben (Owen, Coleman, Boly, Davis, Laureys, & Pickard, 2006; Boly, et al., 2007; Owen & Coleman, 2008) sich vorstellen Tennis zu spielen sich vorstellen durch ein Haus zu gehen Bei Studien mit Stimuli niedriger Komplexität findet man bei Patienten im AS häufig nur eine 14

Aktivierung des jeweiligen primären sensorischen Kortex, während bei gesunden Probanden auch weitere Areale des Kortex an der Verarbeitung der Reize beteiligt sind. Bei der Verwendung von komplexeren Stimulationen zeigt sich jedoch, dass bei einigen Patienten im AS eine kortikale Verarbeitung stattfindet, die über die Aktivierung primärer sensorischer Areale hinausgeht und sich nicht oder kaum von der kortikalen Aktivierung bei gesunden Kontrollpersonen unterscheidet. Es gibt Hinweise darauf, dass Patienten, die eine solche komplexe Aktivierung des Cortex zeigen, mit größerer Wahrscheinlichkeit wieder zu Bewusstsein kommen als Patienten, die nur eine Aktivierung des primären sensorischen Cortex oder keine kortikale Aktivierung zeigen (Di, Boly, Weng, Ledoux, & Laureys, 2008). Bei der Untersuchung einer Patientin, bei der auf der Grundlage der klinischen Verhaltensbeobachtung eindeutig ein AS diagnostiziert wurde, zeigten sich im fmri sogar Hinweise auf die instruktionsgemäße Bearbeitung einer mentalen Vorstellungsaufgabe (Owen, Coleman, Boly, Davis, Laureys, & Pickard, 2006; Owen & Coleman, 2008). Diese Patientin erlangte kurze Zeit später wieder das Bewusstsein. 1.8.3 EVOZIERTE POTENTIALE Evozierte Potentiale haben eine zentrale Bedeutung bei der Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs von Patienten, die nach einem Schädel-Hirn-Trauma ins Koma fallen. Insbesondere das bilaterale Fehlen von somatosensensibel evozierten Potentialen (SSEP) erwies sich als höchst sensitiver Prädiktor für ein schlechtes Outcome. Fast 100% der Patienten bei denen kein SSEP abgeleitet werden konnte, erwachten nicht mehr aus dem Koma. In einem systematischen Übersichtsartikel von 25 Studien (Carter & Butt, 2005) erwies sich die Messung von SSEP gegenüber anderen prognostischen klinischen Verfahren wie dem Pupillenreaktionstest oder dem Test von motorischen Reaktionen als überlegen. Im Gegensatz zu der großen Anzahl von Publikationen, die evozierte Potentiale als frühen Prädiktor der Erholung von Patienten im Koma untersuchen, ist das Fehlen von Studien zur prognostischen Wirksamkeit bei Patienten im AS besonders auffällig. Die einzige mir bekannte Studie ist (Zeitlhofer, Steiner, Oder, Obergottsberger, Mayr, & Deecke, 1991). Bei dieser Untersuchung von 22 Patienten, die durchschnittlich 38 Tage nach einem Schädel-Hirn-Trauma untersucht wurden, konnte kein prognostischer Effekt von SSEP und auditorisch evozierten Potentialen gezeigt werden. 15

Warum sind SSEP ein so sensitiver Prädiktor für Patienten im Koma, aber anscheinend nicht für Patienten im AS? Dies ließe sich unter anderem durch die geringe Wahrscheinlichkeit erklären, dass Patienten, die im Koma lagen, nach einem Monat im AS verbleiben 2. Die meisten Patienten, bei denen im Koma kein SSEP abgeleitet werden konnte, sind zu diesem Zeitpunkt vermutlich bereits verstorben, währende viele andere Patienten sich erholt haben. 1.8.4 EREIGNISKORRELIERTE POTENTIALE Im Gegensatz zu den frühen evozierten Potentialen (<100 ms), die hauptsächlich einen Rückschluss auf die Funktion der sensorischen Reizleitung ermöglichen, reflektieren spätere ereigniskorrelierte Potentiale (EKP) die weitere kognitive Verarbeitung von Reizen und könnten somit auch Rückschlüsse auf die bewusste Verarbeitung von Reizen ermöglichen. Möglicherweise wären sie deswegen auch eher zur Prognose bei Patienten im AS geeignet. EKPs ermöglichen die Darstellung der elektrischen Aktivität des Kortex, die ein Reiz und dessen Verarbeitung auslöst, mit sehr hoher zeitlicher Auflösung und ermöglichen so die Analyse von Latenzunterschieden im Millisekundenbereich. Dies ermöglicht die Einteilung der ereigniskorrelierten elektrischen Aktivität in Komponenten, die normalerweise nach ihrer Polarität und dem Zeitpunkt ihres Auftretens bezeichnet werden Im Optimalfall lassen sich spätere Komponenten des EKP einem bestimmten funktionalen Schritt der kortikalen Informationsverarbeitung zuordnen. Wenn dies nicht möglich ist, geben sie zumindest einen Hinweis darauf, ob und wann das Gehirn eines Probanden zwischen verschiedenen Reizen unterscheidet. Wenn eine bestimmte Komponente des EKP nur bei der bewussten Verarbeitung von Reizen auftritt, würde ihr Auftreten bei einem Patienten im AS sogar zeigen, dass dieser Patient bewusst Information aus seiner Umwelt verarbeitet (Koutchoubey, 2005). Für Patienten im AS sind auditorische Paradigmen besonders geeignet, da akustische Reize auch von nicht bewegungs- und kooperationsfähigen Probanden problemlos wahrgenommen werden können und sie dennoch eine große Bandbreite an unterschiedlicher Stimuluskomplexität aufweisen können. Meistens werden bei Patienten im Koma und AS passive Paradigmen 2 Von 1373 Patienten der bereits erwähnten Verlaufsstudie, die alle nach einem Schädel-Hirn- Trauma mindestens 6 Stunden im Koma verblieben, befanden sich einen Monat später nur 140 Patienten im AS (Braakmann, Jennett, & Minderhoud, 1988). 16

verwendet, da viele Versuchsleiter davon ausgehen, dass ein intaktes Instruktionsverständnis und eine erfolgreiche Instruktionsumsetzung bei Patienten im AS ausgeschlossen werden kann. Im Gegensatz zu bildgebenden Verfahren wie PET und fmrt ist die Messung von EKPs deutlich weniger aufwendig und hat in Jahrzehnten des klinischen Einsatzes ihre Praktikabiliät und Risikofreiheit erwiesen. Es ist möglich die Messung direkt am Bett des Patienten und sogar in seiner gewohnten Umgebung durchzuführen, und im Gegensatz zum fmrt findet die Messung ohne störende Geräusche statt, was gerade bei auditorischen Stimuli von großer Wichtigkeit ist. 1.8.4.1 MMN Die Mismatch Negativity (MMN) ist eine negative Komponente des EKP, die normalerweise zwischen 100 und 250 Millisekunden nach der Präsentation eines auditorischen Stimulus auftritt, der sich von einer Sequenz gleicher Stimuli unterscheidet (Garrido, Kilner, Stephan, & Friston, 2009). Diese Art der Stimulation wird als Oddball-Paradigma bezeichnet. Bei gesunden Probanden liegt ihr Maximum über den fronto-zentralen Elektroden. Das Auftreten der MMN ist unabhängig davon, ob der Proband seine Aufmerksamkeit auf den abweichenden Reiz richtet. Auch in Schlafphase I und II und im REM- Schlaf kann eine MMN festgestellt werden, allerdings mit verringerter Amplitude (Ibanez, San Martin, Hurtado, & López, 2008). Bei Patienten unter Narkose ist sie allerdings nicht mehr messbar (Koutchoubey, 2005). Die MMN ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit also kein Marker für bewusste Informationsverarbeitung. Wahrscheinlich reflektiert die MMN den automatischen Vergleich neuer Stimuli mit dem Inhalt des echoischen Gedächtnisses. In einer Meta-Analyse von fünf Studien mit insgesamt 470 Patienten im Koma erwies sich das Auftreten der MMN als guter Prädiktor der weiteren Erholung (Daltrozzo, Wioland, Mutschler, & Koutchoubey, 2007). Im Gegensatz zur umfangreichen Literatur zur MMN im Koma gibt es nur wenige publizierte Studien, die das Auftreten der MMN bei Patienten im AS untersuchen: In einer Studie von Kotschoubey, et al., 2005 zeigten 65% der 38 untersuchten Patienten im AS eine signifikante MMN. Im Vergleich dazu wiesen bewusste, kommunikationsfähige Patienten mit schwersten Hirnschädigungen zu 100% eine intakte MMN auf. Im Gegensatz zu den 17

Erwartungen der Autoren zeigten allerdings signifikant mehr Probanden aus der Gruppe der Patienten mit AS eine intakte MMN als minimal bewusste Probanden einer Gruppe von Patienten im MCS. Bei der Interpretation dieses ungewöhnlichen Ergebnisses ist allerdings zu beachten, dass Patienten mit pathologischem Hintergrund-EEG aus der Hauptgruppe der Patienten im AS ausgeschlossen worden waren. Dies waren die Patienten, die eine EEG- Hintergrundaktivität von weniger als 4 Hz, ein flaches EEG oder paroxysmale Entladungen gezeigt hatten. Die Ergebnisse dieser 12 Patienten im AS wurden als eigene Gruppe ausgewertet, wobei nur einer der Patienten eine intakte MMN zeigte. Wenn man beide Gruppen von Patienten im AS zusammen betrachtet, müsste sich der unerwartete Effekt aufheben. Das Auftreten einer MMN war in dieser Studie ein signifikanter Prädiktor für den Bewusstseinszustand der Patienten nach 6 Monaten. Eine andere Studie verfolgte über einen mehrmonatigen Zeitraum die Korrelation zwischen der Amplitude der MMN und der Besserung des Zustands von 10 Patienten im AS (Wijnen, van Boxtel, Eilander, & de Gelder, 2007). Der vermutete positive Zusammenhang konnte empirisch bestätigt werden. Die größte Erhöhung der Amplitude der MMN fand statt, während die Patienten begannen Personen und Objekte zu fixieren, also in der frühesten Phase des MCS. Die Amplitude der MMN bei der ersten Messung sagte mit hoher Sensitivität und Spezifität die Erholung zum Zeitpunkt der Entlassung aus dem Krankenhaus voraus. 1.8.4.2 P300 Die P300 ist eine positive Komponente des EKP, die 250-500ms nach der Präsentation eines seltenen und nicht vorhersagbaren Stimulus in einer Reihe von häufigen Stimuli auftritt (Polich, 2007). Somit wird die P300 wie die MMN experimentell meist ebenfalls im Rahmen eines Oddball-Paradigmas untersucht. Im Gegensatz zur MMN ist sie allerdings erst bei einem längeren Inter-Stimulus-Intervall maximal ausgeprägt. Dafür ist normalerweise die Präsentation von nur 30-40 Stimuli hinreichend, um eine robuste P300 zu demonstrieren, während bei einem typischen MMN- Paradigma deutlich mehr Stimuli verwendet werden müssen. Während eine MMN bisher nur bei auditorischen Stimuli zweifelsfrei nachgewiesen ist 3, tritt die P300 bei Stimuli in verschiedenen Reizmodalitäten auf. Die P300 unterscheidet auch zwischen Stimuli, deren Verschiedenheit erst nach komplexerer Reizanalyse festgestellt werden kann (z.b. 3 Zur Kontroverse über die Existenz einer MMN in der visuellen Modalität siehe (Pazo-Alvarez, Cadaveira, & Amenedo, 2003). 18

Wortbedeutung, Relevanz, Emotionalität) wohingegen in einem MMN- Paradigma lediglich Unterschiede der physikalischen Eigenschaften der Reize (z.b. Frequenz, Dauer, Intensität) detektiert werden können. In vielen P300 Paradigmen bearbeiten die Probanden eine Aufgabe, während die Reize präsentiert werden. So müssen sie beispielsweise bestimmte Reize zählen, am häufigsten sind dies die seltenen Reize eines Oddball-Paradigmas. Die Amplitude der P300 wird verstärkt durch die Relevanz eines Reizes für eine gestellte Aufgabe, während eine konkurrierende Aufgabe, für die der Reiz relevant ist, zu einer starken Reduktion der P300 führt. Die Amplitude der P300 wird also stark durch die Aufgabenrelevanz eines Reizes und die verfügbaren Aufmerksamkeitsressourcen moduliert. Aber auch in einem passiven Paradigma ohne explizite Aufgabe findet man eine, wenn auch weniger stark ausgeprägte, P300. In der Literatur wird daher auch zwischen der P3a und P3b unterschieden, wobei die P3a bei nicht aufgabenrelevanten seltenen und unerwarteten Reizen auftritt und eine kurze Latenz und ein eher zentro-frontales Maximum hat, während die P3b bei aufgabenrelevanten Reizen auftritt, eine längere Latenz und ein eher zentro-parietales Maximum hat. Eine zentrale Theorie zur Funktion der P300 ist die Context Updating Theory : Nach der Analyse eines Stimulus wird dieser im Rahmen eines aufmerksamkeitsgesteuerten Prozesses mit der Repräsentation des vorherigen Stimulus im Arbeitsgedächtnis verglichen. Wenn kein Unterschied festgestellt wurde, wird die bereits vorhandene Repräsentation des vorherigen Stimulus beibehalten. Wurde jedoch ein Unterschied zum vorherigen Stimulus festgestellt, wird die Stimulusrepräsentation im Arbeitsgedächtnis aktualisiert. Nach der Context Updating Theory reflektiert die P300 dieses Update der Stimulusrepräsentation. Ist die P300 aber ein Indikator für bewusste Informationsverarbeitung? In den meisten Studien mit Probanden im nicht-rem Schlaf konnte keine klassische P300 gefunden werden, während sie aber im REM Schlaf klar erkennbar ist. Allerdings wird diskutiert, ob möglicherweise andere Komponenten des EKP im nicht-rem Schlaf als funktional analog zur P300 des Wachzustands betrachtet werden können (Koutchoubey, 2005; Ibanez, San Martin, Hurtado, & López, 2008; Bastuji, Perrin, & Garcia-Larrea, 2002). Bei Patienten unter Narkose findet man keine P3b, während aber die P3a bei einigen Patienten erhalten ist. In der bereits oben genannten Metaanalyse von (Carter & Butt, 2005) erwies sich die P300 als 19

guter Prädiktor für das Erwachen aus dem Koma. Bei der Untersuchung der P300 bei Patienten im AS ist zu beachten, dass es Hinweise darauf gibt, dass bei der Verwendung von einfachen auditorischen Stimuli im Gegensatz zu gesunden Probanden (z.b. Sinustönen) nur der primäre auditorische Cortex der Patienten im AS aktiviert wird, nicht aber die nachgeschalteten Areale (Di, Boly, Weng, Ledoux, & Laureys, 2008; Coleman, et al., 2009). Daher ist es möglicherweise empfehlenswert, bei Patienten im AS auditorische Stimuli höherer Komplexität zu verwenden. Folgende Studien untersuchten spezifisch das Auftreten der P300 im AS: In der bereits oben zitierten Studie von (Kotschoubey, et al., 2005) wurde die P300 in drei unterschiedlichen Oddball-Paradigmen als Antwort auf abweichende Sinustöne, komplexe Töne und Vokale untersucht. 32% der Patienten im AS mit nicht-pathologischen Grund-EEG (s.o) zeigten zumindest bei einem der drei passiven Oddball Paradigmen eine intakte P300. Im Rahmen der beiden Studien wurde auch ein semantisches Oddball Paradigma verwendet (Kotchoubey & Lang, 2001). Dabei wurden Nomen aus fünf unterschiedlichen semantischen Klassen (Tiere, Objekte, Berufe, Körperteile, Haushaltsgegenstände) auditorisch präsentiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Wort aus einer der Klassen auftrat, war für alle Klassen gleich. Alle Probanden wurden instruiert nur Worte aus der Klasse Tier zu zählen und alle anderen Worte zu ignorieren. Bei gesunden Probanden kann bei Worten der Zielkategorie eine P300-ähnliche EKP-Komponente gemessen werden, die allerdings rund 250ms später auftritt als eine klassische P300. 23% der Patienten im AS zeigten eine solche P600. Dies ist besonders erstaunlich, da bei diesem Paradigma vermutlich ein erhaltenes Instruktionsverständnis und rudimentäres zielgerichtetes Handeln notwendig ist, um die Worte aus der Kategorie Tier instruktionsgemäß besonders zu verarbeiten. Interessanterweise wird dieses erstaunliche Ergebnis von den Autoren nicht diskutiert. Allerdings könnte man dieses ungewöhnliche Ergebnis auch dadurch erklären, dass das menschliche Gehirn auch ohne explizite Instruktion eine P600 auf Worte der Kategorie Tier generieren würde, aber nicht auf die Worte aus den anderen Kategorien. Diese Möglichkeit hätte man durch eine zufällige Zuordnung der zu zählenden Kategorie bei jedem Probanden ausschließen können. Bei der Analyse des gleichen Datensatzes nach einer Zeit-Frequenzanalyse mittels kontinuierlicher 20

Wavelet Transformation (CWT) 4 ergaben sich in allen Punkten vergleichbare Ergebnisse (Kotchoubey, 2005). Die Autoren geben keine Ergebnisse zur prognostischen Aussagekraft der P300/P600 in den Studien an, aber da in der ersten Studie ebenfalls erfolgreich die prognostische Aussagekraft der MMN untersucht wurde, ist es wahrscheinlich, dass die gleiche Analyse erfolglos auch bei der P300/P600 durchgeführt wurde, die Ergebnisse aber nicht berichtet wurden. In zwei Studien untersuchte eine weitere Arbeitsgruppe, ob das Gehirn von Patienten im AS, MCS und im Locked-In-Syndrom mit einer P300 auf den eigenen Namen reagiert (Perrin, et al., 2006; Schnakers, et al., 2008). Der eigene Name wurde alternierend mit sieben anderen nicht emotional relevanten fremden Namen präsentiert, die mit gleicher Wahrscheinlichkeit auftraten. In der ersten Studie wurde ausschließlich ein passives Paradigma verwendet, in der zweiten Studie sollte zusätzlich in zwei aktiven Paradigmen von den Patienten nach verbaler Instruktion das Auftreten eines bestimmten Namens gezählt werden, in einem Paradigma war dies der eigene Name und in einem anderen ein fremder Name. In der ersten Studie zeigten drei von fünf untersuchten Patienten im AS eine P300 auf den eigenen Namen, genauso wie alle Patienten im MCS und im Locked-In Syndrom. In der zweiten Studie reagierte jedoch keiner der acht Patienten im AS mit einer P300, weder im passiven Paradigma noch in den beiden aktiven Paradigmen. Wiederum zeigten alle Patienten im MCS und auch die gesunden Kontrollpersonen eine P300 im passiven Paradigma. Neun der vierzehn Patienten im MCS zeigten eine P300 in einem der aktiven, verbal instruierten Paradigmen, darunter waren drei Patienten, die lediglich visuelle Fixierung oder Augenfolgebewegungen gezeigt hatten und ansonsten keinerlei erkennbare Hinweise auf bewusste Informationsverarbeitung oder irgendeine Form von Sprachverständnis. Das Auftreten einer P300 auf die Präsentation des eigenen Namens demonstriert, dass das Gehirn dieser Patienten zwischen dem eigenen und fremden Namen unterscheiden kann. Dass dies nicht notwendigerweise bedeutet, dass diese Patienten bewusst ihren eigenen Namen erkennen, zeigt, dass auch bei gesunden Probanden im nicht-rem Schlaf das EKP zwischen dem eigenen und fremden Namen differenziert. Die prognostische Wirksamkeit der P300 wurde im Rahmen dieser Studien nicht untersucht. Bei der Untersuchung eines außergewöhnlichen Patienten jedoch, der nach 20 Monaten im 4 Die Hintergründe dieser Art der EKP-Komponentenerkennung werden in Kapitel 1.9 erläutert. 21

traumatischen AS erste Anzeichen von bewusster Informationsverarbeitung zeigte und später sogar die sprachliche Kommunikationsfähigkeit wiedererlangte und bei dem regelmäßig EKP- Messungen durchgeführt worden waren, konnte bereits ein Jahr vor der Wiedererlangung des Bewusstseins ein Wiederauftreten der P300 festgestellt werden (Faran, Vatine, Lazary, Ohry, Birbaumer, & Kotchoubey, 2006). 1.8.4.3 N 400 Die N400 ist eine negative Komponente des EKP, die normalerweise 250-550ms nach der Präsentation eines bedeutungshaltigen Reizes auftritt, der im gegebenen semantischen Kontext unerwartet ist (Kutas & Federmeier, 2000; Kutas & Federmeier, 2009). Bei dem am häufigsten verwendeten Paradigma zur Untersuchung der N400 wird der semantische Kontext durch einen unvollständigen Satz generiert (z.b. Sie trank ihren Schwarztee mit viel ) (Kutas & Hillyard, 1984). Dieser Satz kann einmal mit einem erwarteten Wort enden (z.b. Zucker. ) oder mit einem semantisch inkorrekten Wort ( Berg. ). Die N400 zeigt sich in diesem Fall als Differenz in der elektrischen Reizantwort des Kortex zwischen den beiden Bedingungen. Aber nicht nur semantisch inkorrekte Satzenden können eine N400 erzeugen, sondern auch Satzenden die semantisch korrekt aber unerwartet sind (z.b. Sahne. ), wenn auch mit geringerer Amplitude. Allerdings ist hier die subjektive Erwartung des Probanden relevant: Im Gegensatz zu einem Probanden, für den Sahne im Tee keine Selbstverständlichkeit ist, würde bei einem überzeugten Anhänger der ostfriesischen Teekultur der Satz Sie trank ihren Schwarztee mit viel Sahne. wahrscheinlich keine N400 auslösen. Ein weiteres Paradigma bei der Untersuchung der N400 ist das Semantische Priming. Bei diesem Paradigma werden Wortpaare präsentiert. Dabei definiert das erste Wort den semantischen Kontext, das zweite Wort kann dann entweder semantisch zum Kontext passen oder von diesem abweichen (z.b. Schere-Papier vs. Schere-Zebra ). Auch bei diesem Paradigma beeinflusst zusätzliche vor dem Wortpaar präsentierte Information die Amplitude der N400. Aber nicht nur Worte können eine N400 auslösen, sondern faktisch jede Art von bedeutungstragenden Stimuli, wie z.b. Symbole, Zeichnungen und Gesichter. Kontext und unerwarteter Reiz können in unterschiedlichen Sinnesmodalitäten präsentiert werden (Holcomb, 22

Anderson, & Grainger, 2005). So ist es sogar möglich, dass beim semantischen Priming ein Duft den Kontext definiert, von dem ein Bild dann abweichen kann (Sarfarazi, Cave, Richardson, Behan, & Sedgwick, 1999; Castle, Van Toller, & Milligan, 2000). Je unerwarteter ein Reiz im Vergleich zum Kontext für einen Probanden ist, desto stärker ist die N400 ausgeprägt. Vermutlich deswegen ist auch die Wortfrequenz bei verbalen Stimuli relevant: Worte, die in einer Sprache selten vorkommen, generieren eine N400 mit größerer Amplitude, weil ihre Verwendung im Diskurs weniger erwartet wird (Van Petten & Kutas, 1990). Die N400 ist zwar aufmerksamkeitsabhängig, aber ein semantischer Priming Effekt kann auch für maskierte Stimuli festgestellt werden, die nicht bewusst wahrgenommen werden (Kiefer & Brendel, 2006). Interessanterweise ist die logische Richtigkeit einer Aussage aber nicht relevant für das Auftreten der N400. So ist die N400 blind für logische Operatoren wie z.b. Negationen (Kounios & Holcomb, 1992): So würde z.b. der Satz Eine Amsel ist ein Fisch genauso eine N400 auslösen wie die Aussage Eine Amsel ist kein Fisch. Der Satz Eine Forelle ist kein Fisch würde jedoch, obwohl er falsch ist, keine N400 auslösen. Ebenfalls wird keine N400 generiert, wenn lediglich die physikalischen oder grammatikalischen Eigenschaften eines Stimulus unerwartet sind, dies aber keinen Einfluss auf die Bedeutung des Reizes hatte (Kutas & Hillyard, 1983). Die Topographie der N400 ist für Stimuli verschiedener Modalität leicht unterschiedlich: So ist die N400 bei rein auditorischer Stimulation oft fast gleichmäßig über alle Elektroden verteilt, während sie bei visueller Stimulation ein eher zentro-parietales Maximum aufweist. Die weite räumliche Ausdehnung der Aktivierung weist bereits darauf hin, dass wahrscheinlich verschiedene neuronale Generatoren für die Entstehung der N400 verantwortlich sind. Mittels intrakranialer Elektroden, MEG und ereigniskorrelierten fmrt, also Verfahren, die eine bessere räumliche Auflösung als das EEG besitzen, konnte konvergierende empirische Evidenz zu den neuronalen Generatoren der N400 gesammelt werden (Van Petten & Luka, 2006). Weite Bereiche des Temporalkortex, insbesondere der inferiotemporale Kortex und der superiore temporale Sulcus, scheinen an der Generierung der auditorischen N400 beteiligt zu sein, außerdem werden frontale Generatoren diskutiert. Folglich wird die N400 also von verschiedenen Arealen generiert, die an komplexer und multimodaler Informationsverarbeitung 23

beteiligt sind. Eine intakte N400 bei Patienten im AS wäre also ein Hinweis darauf, dass diese Areale bei den entsprechenden Patienten noch funktionsfähig sind, allerdings nur wenn die Intaktheit dieser Areale wirklich notwendig für das Entstehen einer messbaren N400 wäre. Es zeigte sich allerdings bei N400-Studien mit Patienten mit fokalen Läsionen des Kortex, dass ausschließlich bei Läsionen des linken temporalen Kortex und der temporoparietalen Übergangszone eine starke Reduktion der N400 stattfand. Diese Patienten wiesen üblicherweise auch starke Defizite im semantischen Sprachverständnis auf. Andere fokale Läsionen hatten nur einen geringen Einfluss auf die Amplitude der N400 (Van Petten & Luka, 2006). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die N400 offenbar als Indikator für die Funktionsfähigkeit bestimmter Assoziationsareale des linken Temporallappens geeignet ist. Diese Diskussion ist besonders relevant, da Patienten im AS, die im fmri eine Aktivierung der auditorischen Assoziationsareale zeigten, eine eindeutig bessere Erholung erlebten als die größere Zahl von Patienten, bei denen nur eine Aktivierung der primären auditorischen Areale festgestellt werden konnte (Di, Boly, Weng, Ledoux, & Laureys, 2008). Die am weitesten verbreitete Theorie zur funktionalen Bedeutung der N400 ist die kontextuelle Integrationstheorie. Nach dieser Theorie wird jeder neue bedeutungshaltige Stimulus in die kontextbasierte Information integriert, die bereits im Arbeitsgedächtnis verfügbar ist. Je schwieriger die Integration des neuen Stimulus ist, desto größer ist die Amplitude der N400. Wird das Auftreten der N400 aber notwendigerweise von bewusster Verarbeitung der Bedeutung eines Reizes begleitet? Dagegen spricht, dass mehrere Studien eine N400 sowohl in Schlafphase 2, im REM Schlaf als auch im Slow Wave Schlaf feststellen konnten (Ibanez, San Martin, Hurtado, & López, 2008). Mir sind keine Studien bekannt, welche das Auftreten einer N400 unter Narkose untersuchen. Allerdings führte bei einer fmrt Studie bereits eine leichte Sedierung dazu, dass kein Unterschied mehr in der Aktivierung zwischen Sätzen festgestellt werden kann, die semantisch ambige oder semantisch eindeutige Worte enthielten (Davis, et al., 2007). Es gibt nach meinem Wissen nur eine publizierte Studie, die das Auftreten der N400 im Koma untersucht: Im Rahmen dieser Einzelfallstudie konnte eine erhaltene N400 bei dem untersuchten Patienten sowohl in einem semantischen Wortpaarparadigma als auch in einem Satzparadigma demonstriert werden (Kotchoubey, et al., 2005). 24