Budapester Studien zur Literaturwissenschaft 15 Lajos Kassák, Wien und der Konstruktivismus 1920-1926 Bearbeitet von Zoltán Péter 1. Auflage 2010. Buch. 318 S. Hardcover ISBN 978 3 631 59364 6 Format (B x L): 14,8 x 21 cm Gewicht: 580 g schnell und portofrei erhältlich bei Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, ebooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte.
EINLEITUNG Im Buch geht es in erster Linie um Lajos Kassáks im Wiener Exil produzierte Werke. Das Interesse an diesen Werken liegt nicht darin, dass sie heute zu seinen bedeutendsten gezählt werden, sondern in der sie begleitenden Differenz; in der Erforschung der Ursache des Unterschieds zwischen den vor und nach dem Exil entstandenen Werken bzw. der damit einhergehenden Lebensumgestaltung des Autors. Die Zentralfrage der Untersuchung lautet: Wie konnte es zu einer raschen und radikalen Wende im Werk und im Habitus einer derart starken Persönlichkeit wie Lajos Kassák kommen? Die ungarische historische Avantgarde hat ihren internationalen Ruhm überwiegend dank ihres Wirkens im Exil errungen. Lajos/Ludwig Kassáks Avantgardezeitschrift Ma erreichte von hier aus eine bedeutende Position im transnationalen Raum der europäischen Avantgarde. Ähnlich den bestimmenden internationalen Avantgardisten der Zeit verabschiedete sich auch er nach 1920 aus seiner früheren Phase politischen und sozialen Engagements und bewegte sich bis 1927 auf der Ebene der abstrakten, rationalistisch, geometrisch-abstrakt orientierten Avantgarden. Angesicht neuer Umstände haben die Exil-Künstler Werke produziert, deren Verständnis ohne die Berücksichtigung dieser neuen Strukturen als lückenhaft bezeichnet werden müsste. Die historische Avantgarde Ungarns ist also ohne die Berücksichtigung der Tatsache, dass sie sich großteils im Exil 1920 1926 in Wien entfaltete, dass sie von hier aus, gerade wegen des ihr zukommenden hohen Ausmaßes an Autonomie, international wurde, kaum zu verstehen. Wobei dieses Internationale an ihrer Kunst, jene Merkmale der Werke (insbesondere der Zeitschrift Ma und des Buchs Neuer Künstler), aufgrund derer von ihnen heute Notiz genommen wird, mit ihren politischen Implikationen äußerst wenig zu tun hat. Notiz wird von Kassák und seinem Kreis heute deshalb genommen, weil die Exilwerke Eigenschaften aufweisen, die wie insbesondere die 13
mit dem hohen Autonomieausmaß einhergehenden ästhetischen Qualitäten der Werke für die heutigen Kunstinteressenten und -Wissenschaftler noch immer oder erst recht von Relevanz sind. Doch je abstrakter Kassáks Kunst wurde, umso mehr schrumpfte der Kreis derer zusammen, die mit ihm 1915 aufgebrochen waren, die Welt zu verändern. Und umgekehrt: je abstrakter seine Kunst geworden war, umso größer wurde ihre internationale Bekanntheit. Kassák hat um 1924 nur mehr Tibor Déry, Andor Németh, Ödön Mihályi, Robert Reiter, Hans Suschny und Endre Gáspár um sich, die für seine, pauschal konstruktivistisch genannte, Kunst halbwegs Verständnis hatten. Seine zeitgenössischen ungarischen Kritiker hielten ihm vor, dass er im Exil ein bürgerlicher Individualist und ein L art-pour-l art-künstler geworden sei. Zwar geht es den Kritiken oft nur darum, Kassák und seine bestimmende Zeitschrift sowie sein Programm zu diskreditieren, doch es fällt auf, dass die Kritiken im Kontext ihrer Zeit zum Teil treffend waren. Lajos Kassák kehrte Ende 1926 nach Budapest zurück. Mit der Remigration kam es zu einer neuerlichen Wende. Da es in Ungarn kein potenzielles Publikum gab, verabschiedete er seine abstrakte Kunstperiode Zug um Zug und näherte sich, wie es seine Gegner von ihm verlangten, mehr den Jungarbeitern, der Problematik der Erziehung und den einfacheren Ausdrucksformen in der Kunst zu. Die vorliegende Untersuchung zeigt: Die gesellschaftlichen Bedingungen der Kunstproduktion machten selbst vor einer so starken und zielbewussten Persönlichkeit wie Lajos Kassák nicht halt. Die Institution Kunst war am Ende des 18. Jahrhunderts mit der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft in Westeuropa bereits ausgebildet. Aber die Differenziertheit des künstlerischen Feldes der Kleinproduktion auf Künstler mit hohem Autonomieanspruch und auf solche, die das Bedürfnis hatten, diese Autonomie zu hinterfragen, wird erst Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Ästhetizismus sowie mit dem Auftritt der Avantgarde um 1908 erreicht. Die Avantgardisten setzten es sich zum Ziel, Kunst in das praktische Leben zurückzuholen; ein Versuch, der, zumindest, was Literatur und Malerei anbelangt, jedoch in der Form misslang. Es konnte aber die Revolutionierung des Kunstverständnisses erreicht werden. Das, was in der Moderne seitens der Vertreter der reinen Kunst oder der L art pour l art als ein Akt der Destruktion der Kunst verstanden wurde, gilt, angesichts der durchgesetzten Klassifizierungsweisen der historischen Avantgarde, in unseren Tagen als eine der möglichen und legitimen Künste. Der Glaube, dass die eine oder andere Kunstrichtung 14
oder Gattung (gleich, ob sie sich als Ästhetizismus, Realismus oder Avantgarde versteht) Anspruch auf eine Sonderstellung erheben dürfte, wurde von der historischen Avantgarde destruiert. 1 Sieht man von den sie verbindenden Gemeinsamkeiten (mitunter davon, dass sie anfangs gegen die klassische Moderne gerichtet waren) und von den sie trennenden Unterschieden ab, so gab es in der Regel in jedem Land ein mehr oder minder eigenes Avantgardeverständnis. Während beispielsweise die russische, tschechische und ungarische Avantgarde zahlreiche Gemeinsamkeiten mit der bestimmenden französischen, deutschen, holländischen Kunstszene der 20er Jahre aufweisen, zeichnet sich die österreichische klassische Avantgarde durch eine enorme Abweichung aus. Das österreichische Feld der neuen Kunst war so konstituiert, als gäbe es rund um das Land keinen Dadaismus und keinen Konstruktivismus. Die österreichische Avantgarde, die im Wesentlichen aus nichts anderem als aus zahlreichen Aktivisten und Expressionisten bestand, bildete insbesondere in den 20er Jahren eine klar definierbare Insel oder ein Laboratorium inmitten des internationalen Avantgarderaumes. Das in Wien entstandene Feld der ungarischen Avantgardisten definiert sich, wenn auch aus vollkommen anderen Gründen, ebenfalls als ein Laboratorium künstlerischer Produktion; definiert sich als ein Labor im Labor. Die vorliegende Arbeit rekonstruiert die künstlerischen Grundtendenzen in den beiden laborhaften Situationen in der Periode zwischen 1920 und 1926 und verortet sie international. Der erste Teil diskutiert den theoretischen, methodischen Rahmen und legt die Hypothesen der Untersuchung frei. Der zweite Teil rekonstruiert die Grundstruktur des ungarischen literarischen Feldes der Kleinproduktion in der Zeit zwischen 1908 und 1920, den Raum, in dem Kassák Schriftsteller wurde und den er verließ. Der dritte Teil beschäftigt sich mit dem künstlerischen Kontext, in dem die Werke der Exilanten produziert und platziert wurden. Im vierten Teil geht es um die Interpretation von Kassáks im Exil verfassten Manifesten, Essays und einem seiner Gedichte. Der fünfte Teil erschließt die Gründe der rasch eingetretenen Umorientierung Kassáks im Exil und der sechste Teil rekonstruiert Merkmale seines Habitus im Alter von 40 Jahren. 1 Vgl. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. 1993, S. 34. ff. 15