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Transkript:

Was wissen wir über Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit, wenn Jugendliche schädliches oder abhängiges Suchtverhalten zeigen? Dr. Jakob Nützel fdr-expertinnen-anhörung Jugend braucht Vernetzung 12.01.2011 Berlin Fachlicher Hintergrund Oberarzt der niederschwelligen Jugenddrogenentzugsstationen clean.kick und clean.kids des ZfP Südwürttemberg am Standort Ravensburg-Weissenau Medizinische Leitung im Projekt JUST (JUgendSuchtTherapie), einer stationären Jugendsuchtrehabilitation in Mischfinanzierung 1

Conflicts of Interest Keine Interessenskonflikte Keine vertraglichen Bindungen Kein Sponsoring ICF (International Classification of Functioning) Konzept: Grundmodell: Orientierung: Aspekte: funktionale Gesundheit bio-psycho-soziales Modell sowohl ressourcen-als auch defizitorientiert Körperfunktionen (Schädigung) Aktivität Partizipation Darstellung von sozialer Beeinträchtigung und von beteiligten Umweltfaktoren 2

Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit PERSÖNLICHE RISIKOVARIABLEN Prädiktoren für frühzeitig begonnenen Cannabiskonsum EDSP study (Early Developmental Stages of Psychopathology Study) (N=2446, 14-24 J.) Neigung zu unkonventionellen Verhaltensweisen Cannabiskonsum in der peer group Eigener Nikotinkonsum Ablehnung der Kirche Mangelnde Identifikation mit den Eltern Geringes Selbstwertgefühl Psychische Krankheit oder Tod eines Elternteils Niedriger sozioökonomischer Status Von Sydow et al., Drug and Alcohol Dependence, 2002 3

Risiken für die Entwicklung einer Cannabis-Abhängigkeit Risiken, bei störungslosem Konsum eine Abhängigkeit zu entwickeln (N=630) OR (odds ratio) Männl. Geschlecht 4,3 (nicht signifikant) Alter 0,4 Niedriger Selbstwert 1,9 Niedriger Sozialstatus 24,2 Finanzelle Probleme 7,1 Konsum illegaler Drogen 7,1 Elterlicher Tod vor 15.Lj. 39,7 Von Sydow et al., Drug and Alcohol Dependence, 2002 Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit KONSUMMUSTER 4

Beurteilung der Schwere der Störung anhand der DSM-Kriterien für Missbrauch und Abhängigkeit bei Jugendlichen nicht überzeugend möglich Hartman et al, J Am Acad Child Adolesc Psychiatry, 2008 Revision der Kriterien zu überlegen Diagnostik und Behandlung anhand eines umfassenderen Klassifikationssystems reizvoll (zb ICF im Vergleich zu ICD) Abhängigkeitsdefinition ICD-10 Starker Wunsch / Zwang zum Konsum Kontrolle des Konsums bzgl. Beginn, Menge u. Ende reduziert Substanzkonsum zur Vermeidung Entzugssymptomatik Körperliches Entzugssyndrom Toleranzentwicklung Vernachlässigung anderer Interessen Inkaufnahme körperlicher und psychischer Schädigungen Basierend auf Konzepten von Edwards&Gross (1976) und Jellinek (1946) 5

Abhängigkeitsdefinition bei Jugendlichen ICD-10 revisited (seltener bei Jugendlichen) Starker Wunsch / Zwang zum Konsum Kontrolle des Konsums bzgl. Beginn, Menge u. Ende reduziert Substanzkonsum zur Vermeidung Entzugssymptomatik Körperliches Entzugssyndrom Toleranzentwicklung Vernachlässigung anderer Interessen Inkaufnahme körperlicher und psychischer Schädigungen Inkaufnahme erheblicher sozialer Nachteile / Folgen Versagen bei altersgemäßen Entwicklungsaufgaben Beginn einer delinquenten Entwicklung Konsum in unangemessenen Situationen Newcomb & Bentler, 1989 Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit SOZIALE FAKTOREN 6

BELLA-Studie 2007 Durchgeführt im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert-Koch- Instituts SozioökonomischerStatus Depression Ängste ADHS Störungdes Sozialverhaltens Niedrig 7,3 % 12,9 % 3,7 % 11,3 % Mittel 5,5 % 10,1 % 2,3 % 7,1 % Hoch 3,8 % 8,0 % 0,9 % 5,7 % Gesamt 5,4 % 10,0 % 2,2 % 7,6 % BELLA-Studie 2007 Durchgeführt im Rahmen des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys (KiGGS) des Robert-Koch- Instituts SozioökonomischerStatus Depression Ängste ADHS Störungdes Sozialverhaltens Niedrig 7,3 % 12,9 % 3,7 % 11,3 % Mittel 5,5 % 10,1 % 2,3 % 7,1 % Hoch 3,8 % 8,0 % 0,9 % 5,7 % Gesamt 5,4 % 10,0 % 2,2 % 7,6 % 7

Anteil von Kindern und Erwachsenen in Deutschland, die von HARTZ IV leben (Februar 2010) Jugendliche in stationärer Suchtrehabilitation (Projekt JUST) 8

Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit BINDUNG UND TRAUMATISIERUNG Bindungsrepräsentationen Suchtmittel konsumierender Jugendlicher in clean.kick (N=10 Dyaden) Bindungsstile: F D E sicher unsicher: distanziert präokkupiert hochunsicher: U unresolved CC cannot classify Keine sicheren Bindungsmuster gefunden Hochunsicher geb. Kinder hatten immer hochunsicher geb. Mütter (häufigste Dyadenpaarung) Dissertation Ulrike Amann, 2009 9

Jugendliche in stationärer Suchtrehabilitation (Projekt JUST) Anzahl erlebter Traumatisierungen (n=45) 31.12.09 2% 18% 2% 13% 16% 18% 31% kein Trauma ein Trauma 2 Traumata 3 Traumata 4 Traumata 6 Traumata nicht bekannt Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit KOMORBIDITÄT 10

Datenlage Chan et al. Datenerhebung aus 77 Behandlungsstudien bei Suchtmittel konsumierenden Jugendlichen: 90 % der unter 15jährigen wiesen mind. eine weitere psychiatrische Diagnose auf 81% externalisierende Verhaltensstörung 69% eine oder mehrere internalisierende Störung 61% sowohl mit internalisierender als auch externalisierender Störung Chan YF et al., J Subst Abuse Treat, 2008 Komorbidität (Projekt JUST) 11

Komorbidität (Projekt JUST) Behandlungserfolge bei Depression und Sucht Behandlung von 182 Suchtmittel konsumierenden Jugendlichen, randomisierte Zuweisung zu Familientherapie oder Verhaltenstherapie: Untersuchung in drei Gruppen (1) Exclusive Substance Abusers (SUD only); (2) Externalizers (SUD + externalizing disorder); (3) Mixed Substance Abusers (SUD + externalizing and internalizing disorder). Höhere Grade von Komorbidität waren verbunden mit ausgeprägterer familiärer Dysfunktion, weiblichem Geschlecht und frühem Konsumbeginn. Initiale Verbesserungen der Mixed Substance Abusers, aber nahezu ähnlicher Konsum ein Jahr nach Behandlung wie vor Therapiebeginn. Rowe CL et al., J Subst Abuse Treat, 2004 12

Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit ALS SCHLUSSFOLGERUNG: INTEGRIERTE REHABILITATIVE VERSORGUNG ICF (International Classification of Functioning) Konzept: Grundmodell: Orientierung: Aspekte: funktionale Gesundheit bio-psycho-soziales Modell sowohl ressourcen-als auch defizitorientiert Körperfunktionen (Schädigung) Aktivität Partizipation Darstellung von sozialer Beeinträchtigung und von beteiligten Umweltfaktoren 13

JUST-Stern I JUST-Stern II 14

STATEMENTS Statements Berücksichtigung persönlicher, sozialer und familiärer Faktoren für Diagnostik und Behandlung unentbehrlich. Eine Einbeziehung der Familien ist unverzichtbar. 15

Statements Paradigmenwechsel in Richtung einer multifokalen Behandlung Jugendlicher bzgl. der Gewichtung von Rückfallfreiheit während der Behandlung im Verhältnis zu anderen Entwicklungszielen. Nicht aber bzgl. der Abstinenzorientierung als Therapieziel bei gefährdeten Jugendlichen. Statements Die zahlreichen und komplexen Belastungsfaktoren machen eine integrierte therapeutische und pädagogische Behandlungsplanung erforderlich, die idr durch ein Sozialversicherungssystem alleine nicht ausreichend abgedeckt werden kann (RV vs. KK vs. JH vs. Suchthilfe) Konsekutive Modelle bergen gerade bei suchtkranken Jugendlichen eine große Schnittstellenproblematik in sich 16

Statements Gerade bei besonders schwer komplex beeinträchtigten Jugendlichen muss Therapie unter Zwang (z.b. als Bewährungsauflage) in Betracht gezogen werden. Indirekter Zwang ist hier klar zu bevorzugen! Statements Traumapädagogische Ansätze müssen verstärkt bereits im präventiven Bereich, erst recht im therapeutischen Bereich weiter implementiert werden. 17

Statements Vernetzung ist bei all diesen Aufgaben essentiell (z.b. kommunale Suchthilfenetzwerke mit Unterarbeitsgruppen für Prävention, Jugendsuchthilfe oder Zusammenarbeit mit Jugendgerichtshilfe und Jugendgerichten) Siehe auch die Empfehlungen im Bundesdrogenbericht 2008 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Kontakt: Dr. Jakob Nützel ZfP Südwürttemberg Weingartshofer Str. 2 88214 Ravensburg Tel. 0751 / 7601 2126 Fax 0751 / 7601 2451 jakob.nuetzel@zfp-zentrum.de www.cleankick.de www.jugendsuchttherapie.de 18