Chronische Belastungen und persönliche Ziele in Leistungssport- und Bildungskarriere

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307 Chronische Belastungen und persönliche Ziele in Leistungssport- und Bildungskarriere Alfred Richartz, Katrin Albert, Jeffrey Sallen & Karen Hoffmann Universität Leipzig, Sportwissenschaftliche Fakultät, FG Sportpädagogik Einleitung Die Verknüpfung von Privatleben, Leistungssport- und Bildungskarriere stellt vielfältige Anforderungen an Spitzensportlerinnen bzw. -sportler besonders im jungen Erwachsenenalter. Aktuell beziehen sich die Anstrengungen in Forschung und Praxis im Nachwuchsleistungssport auf die optimale Gestaltung der Verknüpfung dieser drei Lebensbereiche. Im Mittelpunkt steht bislang die Verbesserung der strukturellen Kopplung, also die Abstimmung von zeitlichen und inhaltlichen Anforderungen aus Spitzensport und Bildung/Beruf. Mit dem Umfang von Anforderungen und ihrem Schwierigkeitsgrad sind jedoch nur zwei von neun aus der Forschung zu chronischen Belastungen bekannten Stressquellen bedacht. Entgegen gängiger Vermutungen sind chronische Belastungen weniger auf zeitliche Anforderungen als auf andere Quellen zurückzuführen, wie auch Daten aus dem Kinderleistungssport bestätigen (Richartz, Hoffmann & Sallen, 2009). Weitere Quellen sind z. B. soziale Überlastung, Aversion gegen Anforderungen, das Ausbleiben als gerecht empfundener Anerkennung, soziale Spannungen, soziale Isolation und chronische Besorgnis. Forschungen zu chronischem Stress stehen für den Spitzensport noch aus, obwohl Studien zeigen, dass chronische Belastungen stärkere negative Auswirkungen auf das psychische und physische Wohlbefinden haben, als akuter Stress (vgl. Schulz, Schlotz & Becker, 2004). Unser Forschungsinteresse bezieht sich daher auf chronische Belastungen von Spitzensportlerinnen bzw. -sportlern, die durch die Verknüpfung von Bildungslaufbahn, Sportkarriere und Privatleben entstehen: Welche Bedingungen wirken wie auf das Belastungserleben und welche Folgen hat dies? Desweiteren fragen wir nach den persönlichen Zielen von Sportlerinnen bzw. Sportlern im Spitzensport, da angenommen werden kann, dass Stress immer auch mit persönlichen Zielhorizonten zusammenhängt: Welche Bedeutung haben persönliche Ziele für das Belastungserleben? Die heuristische Grundlage des Forschungsprojekts stellt das Lazarus sche Stressparadigma dar (vgl. Lazarus, 1991). Der folgende Beitrag gibt einen Einblick in das Gesamtprojekt. Forschungsdesign In einem Längsschnittdesign wurden qualitative und quantitative Zugänge miteinander verknüpft (Abb. 1). Die qualitative Teilstudie umfasste leitfadengestützte Interviews mit 16 Sportlerinnen bzw. Sportlern und 9 Funktionsträgerinnen bzw. -trägern aus den Olympiastützpunkten (OSP) Berlin und Leipzig. Die Sportlergruppe wurde über die Screening-Skala (SSCS) des TICS (Trierer Inventar zum chronischen Stress; Schulz et al., 2004) anhand ihrer Belastungswerte kontrastierend ausgewählt. Im Zentrum der Interviews standen das chronische Belastungserle-

308 Chronische Belastungen und persönliche Ziele... ben der Sportlerinnen und Sportler, ihre persönlichen Ziele (6-Monats- bzw. 4-Jahresperspektive) sowie unterstützende Maßnahmen und Personen. Ergebnisse der Interviews gingen einerseits in die Konstruktion des Fragebogens ein, andererseits dienten sie zur plausiblen Interpretation der quantitativen Befunde. Die Funktionsträgerinnen und -träger aus den Bereichen Training, Laufbahnberatung, sportpsychologische Betreuung und Schule sind im Umfeld der interviewten Sportlerinnen und Sportler tätig. Ihre Auswahl erfolgte nach Best Practice -Aspekten (subjektive Einschätzung der Sportler/innen). Sie wurden nach Wahrnehmungs- und Unterstützungsmöglichkeiten chronisch belasteter Sportlerinnen bzw. Sportler befragt und gaben Aufschluss über bestehende Unterstützungsmaßnahmen und Problemfelder. Die quantitative Teilstudie basierte auf drei aufeinander aufbauenden, standardisierten, schriftlichen Befragungen von Spitzensportler/innen. Die Fragebögen beinhalteten Fragekomplexe zu chronischen Belastungen, psychosozialen Ressourcen und persönlichen Zielen (Richartz, Albert, Sallen & Hoffmann 2008). Das Projekt konzentriert sich auf Spitzensportlerinnen bzw. -sportler im späten Jugend- und frühen Erwachsenenalter. Vertreten sind A- bis D/C-Kaderathletinnen und -athleten aus den sechs Sportartengruppen Ausdauer-, Kraft-/Schnellkraft-, Zweikampf-, Spiel-, Schießsport, technisch-kompositorischer Sport und Mehrkampf. Die Sportlerinnen bzw. Sportler gehen unterschiedlichen Bildungs-/Berufstätigkeiten nach (Schule, Ausbildung, Studium, Wehrdienst, Berufstätigkeit etc.). Den Zugang zu den Sportlerinnen und Sportlern ermöglichten Laufbahnberaterinnen und -berater von 19 Olympiastützpunkten. Am ersten Befragungszeitpunkt (MZP 1) nahmen 242 Sportlerinnen bzw. Sportler teil. Von ihnen konnten 97 für eine 1.Follow-Up- Befragung (MZP 2) wieder gewonnen werden. An der dritten Befragungswelle (MZP 3) nahmen 103 Sportlerinnen und Sportler aus MZP 1 und 115 neu rekrutierte Sportlerinnen und Sportler teil. Abb. 1. Untersuchungsdesign

Chronische Belastungen und persönliche Ziele... 309 Ergebnisse Hier werden Ergebnisse auf der Basis des ersten Messzeitpunktes präsentiert. Globaler Stresswert Die Ergebnisse für den MZP 1 zeigen, dass Sportlerinnen bzw. Sportler im Spitzensport einen höheren Stressglobalwert (Screeningwert TICS) aufweisen als die ihnen entsprechende Altersgruppe (16-30 Jahre) in der Normalbevölkerung (Normstichprobe TICS). Die hohen Anforderungen im Spitzensport spiegeln sich demnach auch im Belastungsempfinden der Sportlerinnen und Sportler wider. Diejenigen unter ihnen, die sehr hohe Belastungen wahrnehmen, bedürfen besonderer pädagogischer Aufmerksamkeit. Sie ließen sich anhand soziodemographischer Merkmale und Merkmale der sportlichen Rahmenbedingungen signifikant bestimmen: Höher belastet sind eher jüngere, weibliche Personen und Sportlerinnen bzw. Sportler niedriger Kaderstufen. Im Vergleich von Bildungs-/Berufsgruppen fallen Schülerinnen bzw. Schüler und Studierende durch erhöhte Stresswerte auf. Keine Unterschiede zeigten sich hinsichtlich des zeitlichen Trainingsumfangs. Stressbereiche Chronisches Belastungserleben wurde in neun Bereichen erfasst (TICS): (1) Arbeitsüberlastung, (2) Soziale Überlastung, (3) Erfolgsdruck, (4) Mangel an sozialer Anerkennung, (5) Soziale Spannungen, (6) Soziale Isolation, (7) Arbeitsüberforderung, (8) Arbeitsunzufriedenheit und (9) Chronische Besorgnis. Unter den Begriff der Arbeit sind Anforderungen in den Bereichen Bildung, Beruf, Leistungssport und Privates subsummiert. Die höchsten Belastungen werden von den Sportlerinnen und Sportlern (N = 242) im Zusammenhang mit hohen Anforderungen wahrgenommen. Die Belastungsbereiche Arbeitsüberlastung und Erfolgsdruck weisen hohe Belastungswerte auf. Gleiches gilt für den Bereich der chronischen Besorgnis. Detaillierte Analysen für einzelne Tätigkeitsgruppen zeigen, dass sich je nach Tätigkeitsgruppe die Hauptbelastungsbereiche verschieben können. So erweisen sich bspw. bei Schülerinnen und Schülern die Belastungsbereiche Arbeitsüberlastung, Soziale Spannungen und Mangel an sozialer Anerkennung als Bereiche mit den höchsten Stresswerten. Diese Bereiche dominierten auch in den Interviews mit der Sportlergruppe. Die Interviewdaten konnten weiterhin zeigen, dass die Belastungsbereiche wechselseitig miteinander in Beziehung stehen und wie sie sich gegenseitig beeinflussen (z. B. soziale Spannungen und Mangel an sozialer Anerkennung). Untersucht wurden zudem Zusammenhänge zwischen soziodemographischen Merkmalen und Stresserleben (Hoffmann et al., 2009). Für die Merkmale Geschlecht, Alter und bildungsbezogene bzw. berufliche Tätigkeit können signifikante Haupteffekte bestätigt werden: Sportlerinnen erweisen sich in allen Belastungsbereichen tendenziell stärker belastet als Sportler. Statistisch signifikant ist der Unterschied hinsichtlich Arbeitsüberforderung und chronischer Besorgnis. Die Ergebnisse unterstützen Befunde der TICS-Autoren (Schulz et al., 2004, S. 48).

310 Chronische Belastungen und persönliche Ziele... Das Belastungserleben nimmt mit zunehmendem Alter in allen Bereichen tendenziell ab. Signifikant unterscheiden sich die drei Altersgruppen (15-18 Jahre, 19-21 Jahre, über 21 Jahre) hinsichtlich der Arbeitsunzufriedenheit. Auch im Originalinstrument wies das Autorenteam ähnliche Effekte des Alters nach (Schulz et al., 2004, S. 48). Sportlerinnen bzw. Sportler in unterschiedlichen Tätigkeitskontexten unterscheiden sich in ihren Belastungswerten. Schülerinnen bzw. Schüler erleben tendenziell in fast allen Bereichen höhere Belastungen als Berufstätige, Auszubildende und Wehrdienstleistende. Die stärkste Arbeitsüberlastung wird von Studierenden wahrgenommen. Für die sportlichen Rahmenbedingungen Kaderstatus, Trainingsumfang und Sportart lassen sich keine signifikanten Haupteffekte nachweisen. Bei der genaueren Untersuchung zeitlicher Anforderungen zeigt sich, dass einzelne zeitliche Anforderungen aus Training oder Beruf nicht zu erhöhtem Belastungserleben führen. Bei Sportlerinnen und Sportlern hingegen, die sich in der Bildungslaufbahn befinden, lassen sich Zusammenhänge zwischen Trainingsumfang, Zeiten für Schule/Studium und chronischem Stresserleben nachweisen. Soziale Unterstützung Die Sportlerinnen bzw. Sportler wurden gefragt, welche Personen und Institutionen bei der Koordination von Leistungssport, Bildung und Beruf wirksam unterstützen können (Unterstützungserwartungen). Personen im sozialen Umfeld der Spitzensportlerinnen und -sportler, wie Familie, Partner/Partnerin und Freundeskreis, werden primär als Unterstützungsquellen wahrgenommen, gefolgt von Heimtrainer/Heimtrainerin sowie Sportkameraden bzw. -kameradinnen. Fast die Hälfte der Befragten gibt an, keine Erfahrungen mit Sportkoordinatoren bzw. -koordinatorinnen oder Mentoren bzw. Mentorinnen zu haben. Auch die Erwartungen an eine unterstützende Rolle dieser Personengruppe sind vergleichsweise gering, obwohl diese Positionen an Schulen, Ausbildungseinrichtungen und Hochschulen für eben diese Unterstützung eingerichtet worden sind. Die Hälfte der Befragten gibt an, keine Erfahrungen mit Sportpsychologinnen bzw. -psychologen zu haben. Diejenigen, die Erfahrungen mit sportpsychologischer Betreuung haben, schätzen sie als sehr hilfreich ein und dies, obwohl die Vereinbarkeit von Bildung und Sport kein primäres Aufgabenfeld der Sportpsychologie ist. Laufbahnberaterinnen bzw. -berater erreichen erwartungsgemäß ebenfalls hohe Unterstützungserwartungswerte, da die Vereinbarkeit von Spitzensport und Bildung zu ihrem genuinen Aufgabenbereich zählt. Erstaunlich ist die geringe Unterstützungserwartung bezüglich der Lehrenden bzw. Dozierenden an Bildungseinrichtungen. Über ein Drittel der Befragten gibt an, Lehrende bzw. Dozierende seien weder unterstützend noch hemmend. Fast ein Fünftel nehmen sie gar als hemmend wahr. Diese negative Wahrnehmung übersteigen nur die Bundestrainerinnen bzw -trainer. Hier besteht, wie auch bei den Sportkoordinatorinnen/-koordinatoren und Mentorinnen/Mentoren sowie bei den Lehrenden und Dozierenden deutlicher Optimierungsbedarf. Die Interviewergebnisse verweisen darauf, dass gering belastete Sportlerinnen und Sportler über eine sehr gute Beziehungsqualität zu Eltern, Partner/Partnerin, Freundeskreis und Trainerteam verfügen und sich auf unterstützende soziale Netzwerke

Chronische Belastungen und persönliche Ziele... 311 verlassen. Auch aktivieren sie frühzeitiger adäquate Unterstützungsquellen. Insgesamt zeigt sich in den Interviews, dass die Komm -Strukturen institutionell angebundener Unterstützungsquellen besonders für hoch belastete Sportlerinnen und Sportler hinderlich sind. Hier wäre eine aufsuchende/aktive Arbeit professioneller Helferinnen und Helfer angeraten. Aus Sicht der Sportlerinnen bzw. Sportler und der Funktionsträgerinnen bzw. -träger gibt es bei hohen chronischen Belastungen bislang keine professionelle Anlaufstelle. Viele Sportlerinnen bzw. Sportler vertreten sogar die Ansicht, bei Arbeitsüberforderung, Erfolgsdruck oder chronischer Besorgnis könne ihnen keiner helfen. Wenn überhaupt, assoziieren sie damit den Aufgabenbereich von Sportpsychologinnen bzw. -psychologen. Persönliche Ziele Sportlerinnen und Sportler haben Ziele in allen Lebensbereichen, die sie miteinander vereinbaren müssen. Werden die persönlichen Ziele erreicht, fördert dies das subjektive Wohlbefinden und damit eine Reduktion chronischen Stresserlebens sowie das Setzen höherer Ziele. Stehen persönliche Ziele konkurrierend zueinander, können sie schwerer erfolgreich realisiert werden. Die Daten zeigen, dass Ziele in Leistungssport, Beruf/Bildung und Privatleben von den meisten Sportlerinnen bzw. Sportlern nicht als unvereinbar erlebt werden. Allerdings gibt es eine Gruppe unter ihnen, die sich Zielkonflikten in hohem Maße ausgesetzt sieht. Zielkonflikte bestehen bei Sportlerinnen und Sportlern im Spitzensport überwiegend zwischen Zielen aus verschiedenen Lebensbereichen. Aber auch innerhalb eines Lebensbereichs können Zielkonflikte auftreten. Grund für Zielkonflikte sind limitierte Ressourcen, sich gegenseitig ausschließende sowie widersprüchliche Ziele. Eine wichtige Strategie, Zielkonflikte zu minimieren bzw. zu beseitigen, besteht im Setzen von Prioritäten. Sich für ein persönlich bedeutsames Ziel zu entscheiden und andere zurück zu stellen oder ganz aufzugeben, kann vor Überlastungen und Überforderungen bewahren. Die Befragten im Spitzensport räumen sportlichen Zielen die höchste Priorität ein, gefolgt von Bildungs-/Berufszielen und privaten Zielen. Allerdings fällt den Sportlerinnen bzw. Sportlern die Entscheidung für ein Sportziel und gegen ein Bildungs-/Berufsziel schwer, was die Bedeutung des Lebensbereichs Bildung/Beruf für die Befragten unterstreicht. In der qualitativen Teilstudie wurde deutlich, dass es keine Institution oder Unterstützungsquelle gibt, die bei der Abstimmung von persönlichen Zielen in Sport, Bildung/ Beruf und Privatleben behilflich ist. Für folgende Aufgaben sind die Zuständigkeiten bisher ungeklärt: Zielklärung (Prioritätensetzung), Aufdeckung und Lösung von Zielkonflikten, Hilfestellung bei Zielformulierungen, Planung konkreter Schritte zur Zielerreichung, Prüfung der Realisierungschancen, Zielprozessbegleitung und Evaluation, Unterstützung bei der Abwendung von Zielen, wenn diese nicht (mehr) realisierbar sind.

312 Chronische Belastungen und persönliche Ziele... In einem separaten Auswertungsschritt wurde aus den offenen Zielangaben im Fragebogen eine Zieltaxonomie entwickelt, mit deren Hilfe unabhängig von den Lebensbereichen Ziele nach ihren Zielinhalten kategorisiert werden können. Durch die Zieltaxonomie kann festgestellt werden, welche Art von Zielen sich Spitzensportlerinnen bzw. -sportler vornehmlich setzen, welche Zielmerkmale den Zielkategorien zugeschrieben werden und wie die Ziele in den verschiedenen Zielkategorien von Sportlerinnen bzw. Sportlern erreicht werden. Die Zieltaxonomie ist die bislang einzige im deutschsprachigen Raum für aktive Sportlerinnen und Sportler im Spitzensport (Sallen et al., 2010). Die Längsschnittanalysen innerhalb des Forschungsprojekts werden weitere Einblicke in die Zusammenhänge zwischen chronischem Stresserleben und psychosozialen Ressourcen ergeben. Untersucht werden ferner die Auswirkungen chronischen Stresserlebens auf das Erreichen persönlicher Ziele sowie auf eine erfolgreiche Sport- bzw. Bildungs-/Berufskarriere. Diskussion und Ausblick Erstmalig wurde chronischer Stress von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Spitzensport mit einer spezifischen Methode der Stressforschung untersucht. Dabei war der Fokus nicht nur auf den Lebensbereich Sport, sondern auf die ebenfalls bedeutsamen Lebensbereiche Bildung/Beruf und Privatleben gerichtet. Der verwendete Fragebogen (TICS) erwies sich als tauglich, da seine Skalen nicht arbeitsfeld- oder situationsspezifisch ausgerichtet sind, sondern allgemein chronische Belastungen erheben. Sportlerinnen und Sportler im Spitzensport empfinden im Vergleich zur Normalbevölkerung höhere chronische Belastungen. Anhand soziodemographischer Merkmale lässt sich mit Vorsicht eine Risikogruppe beschreiben. Mit Vorsicht deswegen, weil hauptsächlich individuell verfügbare protektive Ressourcen dafür verantwortlich sind, wie stark chronische Belastungen bei ähnlichen objektiven Anforderungen ausgeprägt sind. Daher empfiehlt sich bei Verdacht auf ein hohes Belastungserleben eine Individualdiagnostik. Für die Identifizierung besonders hoch belasteter Sportlerinnen und Sportler hat sich die Screeningskala des TICS als ökonomisches Werkzeug erwiesen. Eine spezifische Normstichprobe für Spitzensportlerinnen und -sportler, welche im Rahmen einer Projekterweiterung momentan erarbeitet wird, soll das Herausfiltern hoch belasteter Sportlerinnen und Sportler zukünftig erleichtern. In einem Folgeschritt können bei hoch belasteten Personen anhand des ausführlichen Stressfragebogens (TICS) dominante Belastungsbereiche herausgefiltert werden. Diese Stressbereiche bilden gute Anhaltspunkte, um differenzierte Unterstützungsangebote in der Einzelberatung zu entwickeln. Spitzensportlerinnen bzw. -sportler erleben chronische Belastungen in allen neun Stressbereichen. Maßnahmen der strukturellen Kopplung sind zwar wichtig, zielen jedoch nur auf eine Reduktion der Arbeitsüberlastung und müssen durch andere Maßnahmen auf individueller und institutioneller Ebene ergänzt werden.

Chronische Belastungen und persönliche Ziele... 313 Dies könnten beispielsweise sein: Stressresistenztraining, Verbesserung des Konfliktmanagements (soziale Spannungen), Optimierung von Zielplanungs- und -managementprozessen (Erfolgsdruck, Arbeitsüberlastung, Arbeitsüberforderung). Chronische Belastungen stellen bislang ein wenig beachtetes Problemfeld im Spitzensport dar. Demzufolge gibt es im Feld auch keine professionellen Unterstützungsquellen, die sich als zuständig für die Identifikation hoch belasteter Sportlerinnen und Sportler sehen und gezielte Hilfen zur Belastungsbewältigung anbieten. Hierfür müssen Zuständigkeiten geschaffen bzw. Vermittlungswege etabliert und geeignete Rahmenbedingungen und Ressourcen bereitgestellt werden. Literatur Hoffmann, K., Sallen, J., Albert, K. & Richartz, A. (2009). Chronische Belastungen von Spitzensportlern. Welche Rolle spielen soziodemographische und sportliche Rahmenbedingungen. Vortrag auf der 41. Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft für Sportpsychologie (asp) vom 21.-23. Mai 2009 in Leipzig (S. 69). Hamburg: Czwalina. Lazarus, R. S. (1991). Emotion and adaptation. New York: Oxford University Press. Richartz, A., Albert, K., Sallen, J. & Hoffmann, K. (2008). Chronische Belastungen und persönliche Ziele in Leistungssport- und Bildungskarriere. Zwischenbericht für den Zeitraum 07/2008-12/2008. Unveröffentlichter Bericht für das Bundesinstitut für Sportwissenschaft. Richartz, A., Hoffmann, K. & Sallen, J. (2009). Kinder im Leistungssport. Chronische Belastungen und protektive Ressourcen. Schorndorf: Hofmann. Sallen, J., Albert, K., Hoffmann, K. & Richartz, A. (2010, im Druck). Persönliche Ziele von Spitzensportler/innen in verschiedenen Lebensbereichen: Inhalte, Konflikte und Prioritäten. Tagungsband der dvs-jahrestagung der Sektion Sportpädagogik vom 11.-13. Juni 2009 in Hildesheim. Hamburg: Czwalina. Schulz, P., Schlotz, W. & Becker, P. (2004). Das Trierer Inventar zum chronischen Stress (TICS, Version 3) Manual. Göttingen: Hogrefe.