Vorhandenes Fachwissen und gute methodische Konzepte müssen noch mehr in der Jugendhilfe ankommen.

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Transkript:

Damit Leben gelingen kann. Aufbruch an einem sicheren Ort. 2.St.Vincent-Fachtagung Zum Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen in der Heimerziehung in Regensburg am 27.November 2009 Interview mit Frau Wilma Weiss, der Hauptreferentin der Fachtagung: 50 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Heimen sind traumatisiert: Vorhandenes Fachwissen und gute methodische Konzepte müssen noch mehr in der Jugendhilfe ankommen. Traumatisierungen erkennen, Kinder und Jugendliche mit Traumen verstehen, einen pädagogisch richtigen Umgang mit traumatisierten Mädchen und Jungen finden: Das stellt Pädagogen und andere Fachkräfte in der Jugendhilfe vor große Herausforderungen. Wilma Weiß ist Mitbegründerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Traumapädagogik und Fachleiterin des Zentrums für Traumapädagogik in Hanau. Seit vielen Jahren beschäftigt sie sich mit traumatisierten Kindern in verschiedenen Arbeitsfeldern der Jugendhilfe. In einem Gespräch skizziert die Expertin, welche Folgen Traumatisierungen nach sich ziehen und wie professionelle Hilfe aussehen kann. Fachkräfte sind angehalten, ihre eigene psychische Gesundheit nicht außer acht zu lassen. Was versteht man unter einem Trauma? Gibt es spezifische Kennzeichen? Die WHO versteht unter Trauma.. ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Die amerikanische Definition beschreibt Traumen als potenzielle oder reale Todesbedrohungen, ernsthafte Verletzung oder eine Bedrohung der körperlichen Unversehrtheit bei sich oder bei anderen, auf die mit intensiver Furcht, Hilflosigkeit oder Schrecken reagiert wird. Sigmund Freud definiert Trauma als ein Erlebnis, welches dem Seelenleben innerhalb kurzer Zeit einen so starken Reizzuwachs bringt, dass die Aufarbeitung in normal gewohnter Weise missglückt, woraus dauernde Störungen im Energiebetrieb resultieren müssen. Interessant ist auch die Definition von Peter Levine und Maggie Kline: Das Trauma liegt nicht im Ereignis; es ist vielmehr so, dass sich das Trauma im Nervensystem befindet. Welche Arten von Traumen gibt es?

Wir unterscheiden einmalige und anhaltende Trauma- Ereignisse sowie Ereignisse, die entweder fremde Personen oder Bindungspersonen verursachen. Sie arbeiten seit über 25 Jahren mit traumatisierten Mädchen und Jungen. Was haben diese Kinder hinter sich? Diese Kinder mussten über einen längeren oder langen Zeitraum viele verschiedene belastende Lebensumstände in zum Teil extremer Weise überstehen: Sie wurden abgelehnt, extrem vernachlässigt, mussten die Erfahrung machen, völlig alleine zu sein, nicht versorgt und nicht gesehen zu werden. Sie haben körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt erfahren oder leiden unter den Auswirkungen, die eine psychische Erkrankung der Eltern mit sich bringt. Sie hatten keine Möglichkeit, das Erlebte zu bearbeiten. Bei manchen Kindern weiß man nicht gleich, dass ihnen Schlimmes widerfahren ist oder widerfährt. Gibt es Symptome, Entwicklungen, die darauf schließen lassen? Kinder, die stark sexualisieren, Kinder, die große Angst haben, Kinder, bei denen wir das Gefühl haben, sie sind gar nicht anwesend, Kinder, die Stimmen hören, haben Gründe für ihr Verhalten. Oft verbergen sich dahinter extreme traumatische Lebenssituationen. Notwendig ist eine sorgfältige traumabezogene Diagnostik, mit der wir Vorannahmen oder Eindrücke überprüfen. Gibt es Untersuchungen, die aufzeigen, wie viele Kinder und Jugendliche traumatisiert sind? Wie viele von ihnen begegnen uns in der Jugendhilfe? Ich nehme an, dass es mittlerweile weitere Untersuchungen in Einrichtungen gibt. Als aktuellste Studie ist mir die Untersuchung von Dr. Marc Schmid aus dem Jahr 2007 Psychische Gesundheit von Heimkindern. Eine Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe bekannt. Anhand dieser Ergebnisse kommt Schmid zu dem Schluss, dass 50 bis 60 Prozent der Kinder und Jugendlichen aus Heimen körperlich misshandelt, vernachlässigt oder missbraucht worden sind. Welche Folgen können Traumatisierungen bei Kindern und Jugendlichen nach sich ziehen? Wir kennen entwicklungsspezifische Folgen, die Selbstkonzept und Bindungskonzept betreffen. Die Kinder entwickeln eine negative Weltsicht - die traumatische Erwartung. Ihre Entwicklungskompetenzen sind beeinträchtigt, Schule ist viel anstrengender. Die moralische Entwicklung hat wenig Grundlage, Werte und Normen sind oft selbst- und fremdschädigend. Sie übertragen traumatische Erfahrungen in aktuelle Beziehungen, haben Rückblenden und Alpträume. Peter Levine und Maggie Kline beschreiben als Folge des nicht Lösen- Könnens der traumatischen Erfahrungen sekundäre Traumasymptome mit den Symptomgruppen chronische Übererregung, Dissoziation und Kontraktion, Erstarren. Wir sprechen im Zentrum für Traumapädagogik in Hanau von traumatischen Erinnerungsebenen. Äußern sich die Folgen bei Mädchen und Jungen unterschiedlich? Meiner Erfahrung nach richten Mädchen die Bewältigungsversuche eher nach innen, verharren eher in der Opferrolle. Jungen richten ihre Bewältigungsversuche eher nach außen, flüchten eher in die Täterrolle. Eher heißt, es gibt diese Tendenz - nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Traumatisierte Kinder und Jugendliche müssen erfahren, dass sie geschützt werden können und dass jemand ihr Verhalten versteht. Wie können traumatisierte Kinder und Jugendliche ihre Erlebnisse bewältigen? Sie müssen zuerst einmal erfahren, dass sie geschützt werden können und dass jemand ihr Verhalten versteht. Im nächsten Schritt geht es darum, dass wir die Mädchen und Jungen bei der Selbstbemächtigung unterstützen: Sie sollen sich verstehen und annehmen, in kleinen, langsamen Schritten lernen, traumatischen Stress zu regulieren, in Beziehungen zu gehen und bleiben zu können, für sich zu sorgen etc. Was schützt Kinder und Jugendliche vor Traumatisierung? Der wichtigste Schutz sind gute primäre Bindungserfahrungen und die Entwicklung eines stabilen Selbst. Hilfen für traumatisierte Kinder und Jugendliche scheitern oft. Woran liegt das? Derzeit liegt es sicher daran, dass das vorhandene Fachwissen und die vielen guten methodischen Konzepte nicht ausreichend in der Jugendhilfe angekommen sind. Die Enttabuisierung von Trauma und Traumafolgen ist nicht so alt, die frühen traumapädagogischen Konzepte in der Ausbildung und der Fachdiskussion führten ein Schattendasein. Letztendlich gibt es viele ideologische Gründe und die Angst, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Wenn Einrichtungen sich dieser Auseinandersetzung stellen, kostet das Kraft: Strukturen müssen unter Umständen verändert werden, die Menschen sind aufgefordert, ihr berufliches Handeln und die eigene Geschichte zu reflektieren - zumindest dann, wenn die Auseinandersetzung mit der Traumapädagogik nicht auf ein Aneinanderreihen von Methoden reduziert werden soll. Pflegefamilien und Erziehungsstellen, die traumatisierte Kinder aufnehmen, sind nicht ausreichend vorbereitet. Welche professionellen Hilfen, welche korrigierenden Erfahrungen helfen traumatisierten Kindern und Jugendlichen? Sie brauchen einen sicheren äußeren Ort und sollten vor Machtmissbrauch geschützt sein. Wir empfehlen Einrichtungen, schon in der ersten Zeit mit den Mädchen und Jungen Auslöser von Rückblenden zu identifizieren. Sie brauchen gute liebevolle Beziehungen, die sich durch Transparenz z. B. öffentliche Dienst- und Urlaubspläne - und eine respektvolle Haltung auszeichnen. Wir sagen traumapädagogisch dazu: Das beinhaltet Respekt vor der Lebensleistung der Kinder, das Verstehen ihrer Verhaltensweisen - Du hast einen guten Grund, so zu handeln - und den Wunsch, die Kinder in ihrer Selbstbemächtigung zu unterstützen. Wie sehen viel versprechende Hilfen aus? Was muss die Jugendhilfe leisten? Viel versprechende Hilfen orientieren sich am Kind und seiner Geschichte. In den Wohngruppen besteht ausreichend Fachwissen und die KollegInnen werden von Supervisoren und Leitungen dabei unterstützt, die extremen Verhaltensweisen der Kinder zu verstehen, in Beziehung zu bleiben und die Kinder bei der Bearbeitung zu begleiten. Dazu braucht es zusätzlich Doppeldienste und Fortbildung. Ein therapeutischer Dienst ist dann hilfreich, wenn er nicht dazu benutzt wird, das Thema Trauma aus der Wohngruppe zu halten. Wissen über die Dynamik traumatisierter Kinder in Gruppen ist

nötig und birgt darüber hinaus viele Handlungsmöglichkeiten, um die Ressourcen der Gruppe nutzen zu können. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, die bisherigen Beziehungserfahrungen der Kinder zu benennen. Traumatisierte Kinder und Jugendliche sind extrem verunsichert. Wie gestaltet man da Beziehung? Beziehung muss transparent gestaltet sein. Wenn die Kinder nicht wissen, wer wann da ist, sind sie extrem verunsichert. Wir haben gute Erfahrungen damit gemacht, die bisherigen Beziehungserfahrungen der Kinder zu benennen - z. B. Vernachlässigung, körperliche Gewalt, Misstrauen - und damit eine Offenheit für neue Erfahrungen zu ermöglichen. Regeln sollte es nicht zu viele geben. Hier geht es vielmehr um die Präsenz der PädagogInnen, um ihre Fähigkeiten, in Beziehung zu gehen und standzuhalten. Können sich Traumafolgen, etwa dissoziale Symptome, durch verständnisvolle Zuwendung verstärken und verfestigen? Wann ist bedingungslose Annahme, wann sind Grenzen-Setzen und Konfrontieren angebracht? Diese Frage ist nicht so schnell zu beantworten. Der Gruppenalltag muss ja für alle lebbar sein. Es ist immer ein Spagat zwischen verständnisvoller Zuwendung und Grenzsetzung oder auch Konfrontation. Wobei Konfrontieren die Mädchen und Jungen beim Verstehen ihres Verhaltens auch unterstützen soll. Das ist eine Grundlage, um andere Verhaltensmöglichkeiten zu suchen und zu üben. Wir machen sehr gute Erfahrungen mit der Weilfrage*. Traumapädagogik und Traumatherapie : Welche Überschneidungen und Abgrenzungen der Begriffe und Indikationen gibt es? Es gibt viele Überschneidungen. Traumapädagogik wie Therapie sind nur auf der Grundlage einer annehmenden Beziehung möglich. In der Traumapädagogik unterstützen wir die Mädchen und Jungen, indem wir ihnen die Dynamik von Traumatisierung offen legen. Wir unterstützen sie dabei, selbst- und fremdschädigende Normen zu verändern, ihr Selbstkonzept. Es geht um neue Beziehungserfahrungen. Traumapädagogen können sofern sie sich damit auseinandergesetzt haben und die strukturellen Bedingungen stimmen die Mädchen und Jungen unterstützen, den traumatischen Stress zu regulieren. Das alles findet auch in einer Traumatherapie statt. Hier ist das Setting so angelegt, dass das eigentliche Trauma mehr in den Focus rückt. Um Aufdeckung soll es in der Traumapädagogik nicht gehen. PädagogInnen sind keine Detektive, sie sind Entwicklungshelfer, wie Martin Kühn es ausdrückt. Es kann aber nicht sein, dass ein Kind in seiner Einrichtung niemanden findet, der bereit ist, ihm bei der Schilderung traumatischer Erlebnisse zuzuhören. Es gibt Mädchen und Jungen, die kinderpsychiatrische Unterstützung brauchen, und es gibt Indikationen, die andere Hilfen erfordern. Da dies alles sehr individuell ist, sind eine sorgfältige Diagnostik, die auch sozialpädagogisch traumabezogen sein kann, und eine gute interdisziplinäre Zusammenarbeit nötig. Welche Probleme und Herausforderungen treten bei der Beschulung, bei Leistungsanforderungen in Schule und Ausbildung auf?

Kinder, deren Kopf mit traumatischen Fragmenten überfrachtet ist, die nicht in der Lage sind, den Denker Großhirn ausreichend zu benutzen, haben große Schwierigkeiten in der Schule. Das ist nicht zwangsläufig; ich kenne einige Mädchen und Jungen, die zu enormen intellektuellen Leistungen fähig waren. Dennoch schädigen die Bedingungen und Strukturen in der Schule die meisten dieser Kinder. Ihre Chance für soziale Teilhabe endet praktisch hier. Lehrer und Lehrerinnen haben oft nicht das nötige Fachwissen. Projekte, die traumatisierten Kindern das Lernen erleichtern wollen, werden selten unterstützt. Manche werden gleich ausgeschult. Da bleibt noch sehr viel zu tun. Was ist besonders in der Zusammenarbeit mit Eltern und Familien von traumatisierten Kindern und Jugendlichen zu beachten? Es kommt darauf an, die Kinder vor weiteren Traumatisierungen und auch Rückblenden zu schützen. Vor allem, wenn man Besuchskontakte plant, sind die verheerenden Auswirkungen erneuter Traumatisierungen, aber auch Rückblenden zu beachten. Für die Entwicklung der Kinder und ihre Traumabearbeitung sind Eltern unschätzbar, die wirklich Verantwortung für das, was sie getan haben, übernehmen. Oft bedarf das wenn es überhaupt gelingt - einer langen Zuwendung an die Eltern: Sind sie motiviert, etwas zu ändern? Was haben sie erlebt? Was hat sie zu ihrem Handeln geführt? Wo stecken sie in traumareaktiven Mustern? Eine gute Elternarbeit kann nicht nur Lippenbekenntnis sein, sondern bedarf finanzieller und personeller Ressourcen und eines durchdachten Konzeptes. Die Biographien traumatisierter Kinder und Jugendlicher gehen einem nahe und belasten. Was empfehlen Sie Kolleginnen und Kollegen, die sich der Arbeit mit traumatisierten Menschen verschrieben haben, für ihre eigene psychische Gesundheit? Viel Urlaub an den schönsten Plätzen der Welt. Es geht auch immer wieder darum zu schauen, wie geht es mir? Habe ich noch Freude an meinem Leben, gehe ich mit Freunden aus, gönne ich mir Schönes? Bin ich mir wichtig? Kann ich irgendwann abschalten? Die Aussage Nur wer nichts mit nach Hause nimmt, ist professionell.. entspricht nicht unseren Erfahrungen. Wenn ich zuviel und zu oft Bilder von den Kindern oder dem Geschehen mit nach Hause nehme, ist das allerdings gefährlich für meine Gesundheit. Schauen Sie nach den Bedingungen in Ihrer Einrichtung: Haben Sie ein Team, in dem Sie sich wohl fühlen? Werden Sie ausreichend durch Supervision und Leitung unterstützt? Ist die Belastung durch traumatische Übertragungen und Gegenreaktionen zentrales Thema Ihrer Fallarbeit? Mögen Sie die Kinder? Können Sie an ihrem Arbeitsplatz Projekte oder Unternehmungen starten, die Spaß machen? Sich nicht der Arbeit verschreiben, sondern immer wieder prüfen, ob es noch stimmt. Herzlichen Dank für das Interview! * www.welle-ev.de/trauma, Link Methoden Interview: Anita Kellermeier, Isolde Hilt

Literatur: Bausum, J.; Besser, L.; Kühn, M., Weiß, W. (2009): Traumapädagogik. Grundlagen, Methoden, Arbeitsfelder für die pädagogische Praxis. Ding, Ulrike (2009): Trauma und Schule. Was lässt Peter wieder lernen? Über unsichere Bedingungen und sichere Orte in der Schule. In: Bausum, Besser, Kühn, Weiß Kühn, M. (2008): Wieso brauchen wir eine Traumapädagogik?... Annäherung an einen neuen Begriff. In: Schmid/Fegert (Gastherausgeber): Trauma und Gewalt. Forschung und Praxisfelder. Themenheft Traumapädagogik I., S. 318 327. Levine, Peter; Kline, Maggie (2005): Verwundete Kinderseelen heilen. Wie Kinder und Jugendliche traumatische Erlebnisse überwinden können. Schmid,, Marc (2007): Psychische Gesundheit von Heimkindern. Eine Studie zur Prävalenz psychischer Störungen in der stationären Jugendhilfe. Weiß, Wilma (2009) Selbstbemächtigung ein Kernstück der Traumapädagogik. In: Bausum, Besser, Kühn, Weiß