Diagnostik von Sprachentwicklungsstörungen bei Kindern mit Deutsch als früher Zweitsprache (DafZ) Birgit Ehl Lehr- und Forschungslogopädin (M.Sc.) 21. Robert-Koch-Tagung, Oldenburg 11. September 2014
Relevanz 2012 haben in Deutschland 20% der Bevölkerung einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2012) Bei den unter 5jährigen liegt der Anteil bei 35,4%, in Westdeutschland z.t. über 40% (Bundesministerium für Bildung und Forschung, Bildungsbericht 2014) Die meisten Personen mit Migrationshintergrund stammen aus der Türkei (18,3%), Polen (9,4%), Russische Föderation (7,4%) und Italien (4,6%) (Statistisches Bundesamt, Mikrozensus 2012) 2
Erwerbsarten Sukzessiver Erwerb Simultaner Erwerb Erwerb nacheinander Erwerb gleichzeitig Mind. 2;0 J. bei Beginn Erwerbsbeginn in der des Zweitspracherwerbs Zeit zwischen Geburt (Chilla et al. 2010) bis spät. 1;11 J. Beginn des Erwerbs 2;0 (Schulz & Tracy, 2011) 3;11 J. früher Zweitspracherwerb Inputquantität: tägl. mind. 4 Std. Inputqualität: Deutsch auf Erstsprachniveau (Chilla et al. 2010; Schulz et al. 2008) 3
Sukzessiver Erwerb v.a. wg. kürzerer Kontaktdauer sind Sprachkompetenzen Normen für Monolinguale nicht anwendbar Simultaner Erwerb wie Erstspracherwerb in jeder Sprache = Doppelter Erstspracherwerb Normen für Monolinguale anwendbar (Chilla et al., 2010; Paradis, 2010; (Tracy, 1996; Meisel, 2006) Schulz & Grimm, 2012, Dubowy et al., 2008) Wenn bei Testverfahren für Mehrsprachige beide Erwerbsformen nicht unterschieden werden, sind Normen für keine der beiden Gruppen aussagekräftig (Schrey-Dern & Ehl, 2012) 4
Elternberatung Eltern haben eine Sprachvorbildfunktion Sprechen Sie in der Sprache zu Ihrem Kind, die Sie am besten beherrschen. Kontakt zu Muttersprachlern gewährleisten Je öfter Ihr Kind mit deutschen Kindern im Kindergarten spielt, desto schneller wird es die deutsche Sprache erlernen. 5
Sozialer Status und Migrationshintergrund Kinder und Jugendliche, mit beidseitigem Migrationshintergrund (beide Eltern zugewandert) leben zu einem hohen Ausmaß (53,7 %) in sozial benachteiligter Lage Die Inanspruchnahme von U-Untersuchungen ist vergleichsweise gering (Robert-Koch-Institut, KiGGS 2008). 6
Sozialer Status und Sprachkompetenz Die Ausgangslage im sozialen Umfeld beeinflusst die Sprachkompetenz der Kinder stärker als ein MH oder die nicht-deutsche Familiensprache (Universität Duisburg-Essen, 2013) Einigkeit besteht, dass Mehrsprachigkeit weder eine Ursache für Sprachentwicklungsstörungen ist (Rothweiler, 2007) noch zu einer Verstärkung der Ausprägung einer SES führt (Hakansson, Salameh & Nettelbladt, 2003) 7
Sprachentwicklungsdiagnostik Ziel Behandlungsbedürftige Sprachentwicklungsstörungen rechtzeitig erkennen, d.h. von förderungsbedürftigen Auffälligkeiten abzugrenzen, und ggf. eine Sprachtherapie einzuleiten (AWMF, 2011)? Wie kann man bei Kindern mit DafZ zeitliche und inhaltliche Abweichungen von der!für DafZ normalen! Sprachentwicklung erkennen? 8
Doppeltes Risiko von Fehldiagnosen Risiko der Überschätzung : bei SES werden die Symptome als typisch für Zweitsprachlerner fehlinterpretiert (missed identity) Risiko der Unterschätzung : Aufgrund mangelnder kommunikativer Aktivität werden dem Kind Probleme in der Sprachentwicklung unterstellt (mistaken identity) (Paradis, 2005) 9
SES bei Kindern mit DafZ Für Diagnose Sprachstörung müssen Symptome immer in allen Sprachen des Kindes ausgeprägt sein (Hakansson et al., 2003, Chilla et al., 2010) Erstsprachentwicklung abklären Sprachdiagnostik in der Zweitsprache 10
Indikatoren für SES in der Erstsprache Wissenschaftl. Erkenntnisse SES prägt sich immer in allen Sprachen des Kindes aus (Hakansson et al., 2003; Paradis et al,. 2006) Genetische Ursache für SES (Leonard, 1998) Ausspracheerwerb verläuft in verschiedenen Sprachen sehr ähnlich(fox, 2005) Anamnesefragen (Schwarze et al., 2011) Wann hat das Kind erste Wörter gesprochen? V.a. SES bei EW >18 Mon. Wann hat das Kind erste Mehrwortäußerungen gesprochen? V.a. SES bei MW >24 Mon. (Rothweiler 2007) Gibt es Familienmitglieder, die spät sprechen gelernt haben und/oder die mit dem Schriftspracherwerb Probleme gehabt haben? Kann Ihr Kind alle Laute in der Erstsprache richtig aussprechen? 11
DafZ: Normaler und gestörter Erwerb Morphologie/Syntax DafZ normal DafZ: Zeitliche u. inhaltliche Abweichung Verbstellung (Kroffke & Rothweiler, 2006) Verbflexion (Thoma & Tracy, 2006) ZWÄ/MWÄ 6 KM Vollständige HS 12 KM Nebensätze 18 KM Korrekte Verbflexion 12 KM Kasus Akkusativ 12 KM verzögert verzögert inhaltl.: Im HS Verbendstellung ( Der Hund Ball spielt ) verzögert inhaltl.: Ich spielt Es ist normal, dass bei Schuleintritt noch resistente Probleme in Genus, Kasus, Präpositionen, Plural und in der Flexion unreg. Verben bestehen (Tracy, 2008) 12
DafZ: Normaler und gestörter Erwerb Phonetik/Phonologie DafZ normal DafZ: Zeitliche u. inhaltliche Abweichung Lauterwerb Folgt universellen Grundzügen in verschiedenen Sprachen: Übereinstimmung der Prozesse (z.b. /k,g/ [t,d]) (Fox, 2005) In Erstsprache erworbene Phoneme werden direkt in der Zweitsprache realisiert verzögert: Prozesse werden verzögert überwunden, auch in der Erstsprache inhaltl.: Pathologische Prozesse: z.b. Rückverlagerung /t,d/ [k,g] 13
DafZ: Normaler und gestörter Erwerb Semantik/Lexikon DafZ normal DafZ: Zeitliche u. inhaltliche Abweichung Wortarten (Thoma & Tracy, 2006) Wortschatzumfang (Snedeker, Geren & Shafto, 2007) Nomen Verben u.a. 12-16 KM Entwicklungsalter 1;6J. 3KM Grundwortschatz 24 KM verzögert inhalt.: Wenig Verben verzögert inhaltl.:/ Wortschatzumfang in L2 in ersten Kontaktjahren geringer als Monolinguale (Kaltenbacher & Klages, 2006). Deshalb Gebrauch von Allzweckwörtern (z.b. machen ) u. Umschreibungen. Noch im Schulalter großer Rückstand in der Zweitsprache (Willenberg, 2008) 14
Indikatoren für SES in DafZ 1. Hinweise auf SES in der Erstsprache 2. Spracherwerb DafZ verzögert (vgl. Meilensteine zuvor) 3. Abweichungen in Verbflexion (z.b. wir geht ) und Verbstellung (z.b. der Hund in ein Haus geht ) wie bei Monolingualen mit SES 4. Wortschatz trotz gutem Input sehr begrenzt 5. Aussprache in Zweitsprache auffällig (Rothweiler, 2008) 6. Nachsprechen von Pseudowörtern auffällig Bei einem dieser Indikatoren: Interdisziplinäre Diagnostik u.a. LogopädIn 15
SOPESS bei Kindern mit DafZ Vor SOPESS-Durchführung nach Indikatoren für SES in der Erstsprache fragen Ausspracheuntersuchung bei SOPESS durchführen Untertests Präpositionen und Pluralbildung nicht durchführen (Daseking et al., 2010) Problematisch ist, dass die Stichprobe sehr heterogen ist, da Sprachkompetenzen von Monolingualen und Mehrsprachigen enthalten sind Für Normierung kritisch (Schrey-Dern & Ehl, 2013) 16
SOPESS bei Kindern mit DafZ Untertest Pseudowörter aus SOPESS eignet sich gut bei DafZ, allerdings beachten, dass Pseudowörter nicht muttersprachspezifisch sind (Kiese-Himmel & Reeh, 2008) Anhand Bildbeschreibung / Spontansprache kann man nicht den Wortschatz beurteilen Aktiver Wortschatz wird bei SOPESS nicht untersucht und auch nicht bei Fit in Deutsch Desiderat Es existiert kein valider Wortschatztest für DafZ Daher werden Testverfahren für Monolinguale angewendet und mit den Altersnormen ausgewertet (Lengyel, 2001; Lüke & Ritterfeld, 2011) 17
Forschungsprojekt Eignung des Aktiven Wortschatztests Revision (AWST-R) als differentialdiagnostisches Instrument bei Kindern mit DafZ Standardisiert, Normen (für Monolinguale) für die Altersspannen 3;0 bis 5;5 Jahre Testgütekriterien erfüllt Diagnostik von SES bei sukzessiv mehrsprachigen Kindern, 18
Relevanz Ein quantitativ und qualitativ ausreichend differenzierter Wortschatz ist entscheidend für eine erfolgreiche Bildungskarriere für das Lernen im Allgemeinen und Lesenlernen im Speziellen (Rothweiler & Ruberg, 2011; Wittmann, 2009) Eingeschränkte lexikalische Fähigkeiten kommen als Symptom einer Sprachstörung vor (Gathercole & Baddeley, 1989) 19
Ein unterdurchschnittliches Testergebnis im AWST-R erfüllt verschiedene Aufgaben: (1) Indikationsstellung zu einer logopädischen Therapie (2) Objektivierung von Wortschatzdefiziten in der deutschen Sprache z.b. bei Migrantenkindern??? Wirklich??? 20
Ziel Überprüfung der diagnostischen Validität in Bezug auf Sensitivität und Spezifität : Kann der AWST-R bei Kindern mit DafZ unterscheiden zwischen: Auffälligem Wortschatzumfang aufgrund einer Sprachstörung Unauffälligem Wortschatzumfang bei ungestörter Sprachentwicklung Bei Bedarf Herleitung einer alternativen Auswertungsmöglichkeit für sukzessive Erwerbsbedingungen 21
Einschlusskriterien: Erwerbsart DafZ Mind. 12 Kontaktmonate Im Alter zwischen 3;0 5;5 Jahre Ausschlusskriterium: Unterdurchschnittliche non-verbale Intelligenz 22
Untersuchungsablauf 14 Kinder mit Sprachstörung 28 Kinder Anamnese Nonverbale Intelligenz Sprachdiagnostik AWST-R SETK-2 Produktion I u.a. Indikatoren für SES in Erstsprache nach Schwarze et al. (2011) u.a. LiSe-DaZ*; Mottier 14 Kinder ohne Sprachstörung * Linguistische Sprachstandserhebung Deutsch als Zweitsprache (Schulz & Tracy, 2011) 23
Stichprobe: Alters- und Geschlechterverteilung Gruppe: Sprachstörung Gruppe: Keine Sprachstörung 3 Jahre 1 3 4 Jahre 11 6 5 Jahre 2 5 Gesamt 14 14 Durchschnittsalter 4;5 Jahre 4;7 Jahre Standardabweichungen 5,5 8,9 Min. Max. 3;11-5;5 Jahre 3;4-5;5 Jahre Altersunterschied nicht signifikant (p =.603) (U = 90.5; Exakter Mann-Whitney-U- Test; 2-seitig) Gruppe: Sprachstörung Gruppe: Keine Sprachstörung Mädchen 9 8 Jungen 5 6 Gesamt 14 14 Geschlechterunterschied nicht signifikant (p =.449) (χ 2 = 1.3; Exakter Fisher-Test; 2-seitig) 24
Ergebnisse 86% 14% 25
Diagnostische Validität 26
Gruppenvergleich PR unterdurchschnittlich 27
Erwerb des Wortschatzes im frühen Zweitspracherwerb Erwerb des Wortschatzes gleicht den Entwicklungsmustern von Monolingualen (Jeuk, 2003) Im Vergleich zu Monolingualen ist der Wortschatzumfang in der Zweitsprache geringer, u.a. aufgrund der geringeren Kontaktdauer (Kaltenbacher & Klages, 2006) Altersunterschreitung als Auswertungsmöglichkeit durch Ermittlung des Entwicklungsalters 28
Bsp.: Aishe* 4;3 Jahre (51 Monate) `o. Sprachstörung * fiktiver Name Entwicklungsalter Entwicklungsalter 2;11 Jahre (35 Monate) Differenz: Alter Entwicklungsalter 51-35 Monate = 16 Monate Mittelwerte dieser Altersunterschreitung je Gruppe, bereinigt vom Einfluss der Kontaktdauer (p =.474) 29
Altersunterschreitung Mittelwerte Gruppe Mittelwert SD Untergrenze Obergrenze Sprachstörung 23,5 Monate 2 Monate 19,3 Monate 27,7 Monate Keine Sprachstörung 15,5 Monate 2 Monate 11,4 Monate 19,7 Monate Mittelwertsunterschied signifikant (p =.015) Korrekturformel: DafZ normale Altersunterschreitung: Lebensalter 15,5 (± 2) Monate (Ehl, Schrey-Dern & Willmes, 2013) 30
Interpretation Bsp. Aishe: Alter: 4;3 Jahre (51 Monate) Entwicklungsalter: 2;11 Jahre (35 Monate) Normale Altersunterschreitung bei DafZ im Wortschatzumfang: Alter Korrekturfaktor 51 15,5 (± 2) Monate Unauffälliger Wortschatzumfang = 35,5 (± 2) Monate 31
Interpretation monolinguale Normen des AWST-R führten in anderen Studien bei DafZ zu unterdurchschn. Ergebnissen (Göze & Schultz-Ünsal, 2013; Sachse et al. 2010,Mehler & Vogelbacher 2010) monolingualen Normen bei anderen Testverfahren führten bei DafZ zu unterdurchschn. Ergebnissen Asbrock (2009) SETK 3-5; Glück (2009) WWT 6-10 2 Kinder der Studie waren durchschnittlich. Hatten beste Bedingungen: beide 5 Jahre, zu Erwerbsbeginn 2 Jahre, lange Kontaktdauer (KM 36 und 40) Internationale Unterversorgung von mehrsprachigen Kindern mit Sprachstörungen im Vergleich zu Monolingualen (Stow & Dodd, 2003) 32
Kritische Reflexion und Ausblick geringe Gruppengröße, daher Korrekturformel als vorläufige Orientierungshilfe Korrekturformel nur für Kinder mit Einschlusskriterien der Studie im Zusammenhang mit dem AWST-R gültig Weitere Forschungsfragen: Verändert sich Differenz aus Lebensalter und Entwicklungsalter im Wortschatzumfang mit steigendem Alter und zunehmender Kontaktdauer? Diagnostik von SES bei sukzessiv mehrsprachigen Kindern, 33
Fazit 1. Mit der altersbasierten monolingualen Norm ist der AWST-R nicht zur Differenzialdiagnostik bei Kindern mit DafZ geeignet. 2. Die Korrekturformel kann eine Orientierung liefern, welches Entwicklungsalter im AWST-R in etwa zu erwarten ist. 34
Literaturliste auf Nachfrage erhältlich! Kontakt: birgit.ehl@rwth-aachen.de 35