P RAKTISCHE V ERNUNFT, M ODALITÄT UND TRANSZENDENTALE E INHEIT

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[Erschienen in: KANT. Analysen Probleme Kritik, hrsg. v. H. Oberer und G. Seel Hans Wagner gewidmet) Würzburg (Königshausen & Neumann) 1988, S. 127-167. ISBN 3-88479-319-5] Auflage ohne weiteres plausibel sind 4, sondern auch, daß Kant selbst den Begriff der transzendentalen Erkenntnis später gelegentlich auf Elemente der praktischen Reflexion (etwa auf die Rechtfertigung des Begriffs des höchsten 129 Bernward Grünewald (Bonn) P RAKTISCHE V ERNUNFT, M ODALITÄT UND TRANSZENDENTALE E INHEIT Das Problem einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes In der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft schließt Kant die obersten Grundsätze der Moralität aus der Transzendentalphilosophie aus 1 ; und in der Kritik der praktischen Vernunft verneint er die Möglichkeit einer Deduction des moralischen Princips. 2 Doch hat Kant noch im dritten Abschnitt der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine Deduktion des Sittengesetzes für möglich gehalten; ja, er beansprucht sie offensichtlich geleistet zu haben. 3 Gegen den Ausschluß alles Praktischen aus der Transzendentalphilosophie a- ber spricht nicht nur, daß die betreffenden Argumente weder in der Fassung der 1. Auflage der KdrV noch in der abgeänderten und erweiterten der 2. (Kants Schriften werden nach Band-, Seiten- und Zeilenzahl der Akademieausgabe zitiert, bei der KdrV ist die jeweilige Seitenzahl der Originalauflagen (A und B) vorangestellt.) 1 Vgl. A 14 f.; IV 24 32-25 4 und B 28 f.; III 45 21-32. 2 Vgl. den Absatz V 47, 21-48, 16, in dem Kant an die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduction des moralischen Princips eine Art von Creditiv des moralischen Gesetzes, da es selbst als ein Princip der Deduction der Freiheit... aufgestellt wird treten läßt. 3 Vgl. IV 454 20 f., wo Kant, offenbar mit Bezug auf das unmittelbar Vorangehende, insbes. den Absatz 454 6-19 sagt: Der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft bestätigt die Richtigkeit dieser Deduktion. - Das Problem des Verhältnisses zwischen den beiden zumindest auf den ersten Blick gegensätzlichen Stellungnahmen Kants in dieser Frage wollen wir hier nicht in den Vordergrund der Betrachtung stellen; vgl. dazu etwa: D. Henrich, Die Deduktion des Sittengesetzes. Über die Gründe der Dunkelheit des letzten Abschnittes von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Denken im Schatten des Nihilismus, Fs. f. W. Weischedel, hrsg. v. A. Schwan, Darmstadt 1975; A.C. Genova, Kant s Transcendental Deduction of the Moral Law, in: Kant-Stud. 69, 1978, S. 299-313; M.H. McCarthy, Kant's Rejection of the Argument of Groundwork III, in: Kant-Stud. 73, 1982 sowie den Beitrag von R. Brandt in diesem Bande. 127 128 4 Die wichtigste Differenz der beiden Fassungen (A 14 f./b 28 f. - s. Anm. 1) scheint zu sein, daß bei der Aufzählung der empirischen Begriffe, welche bei den moralischen Grundsätzen vorausgesetzt werden müssen und um derentwillen die letzteren nicht in die Transzendentalphilosophie gehören, neben den Begriffen der Lust und Unlust, der Begierden und Neigungen (vor einem usw. ) in der l. Auflage, aber nicht in der 2. Auflage, der Begriff der Willkür genannt wird: Dies scheint uns darauf hinzuweisen, daß der eigentliche Ausschlußgrund in den beiden Auflagen ein höchst verschiedener ist. Wird der Begriff der Willkür als empirischer Begriff aufgefaßt, so nimmt Kant letztlich die Perspektive der theoretischen Philosophie ein, nach der die Willkür eine von den mancherlei Naturursachen in der Welt ist (vgl. mit Bezug auf den Begriff des Willens als Begehrungsvermögens die Einl. zur KdU, V 172 4-11), von deren Existenz man a priori ebenso wenig wissen kann wie von der Existenz der Bewegung, der Materie und der bewegenden Kräfte (vgl. in der Vorrede zu den MAdN, IV 469 31-470 12, die Unterscheidung zwischen dem transzendental-allgemeinen und dem besonderen durch empirische Begriffe mitkonstituierten Teil der Metaphysik der Natur). - In der praktischen Philosophie jedoch (die sich nicht mit Seins- und Existenz-Fragen, sondern mit Fragen des Sollens befaßt) ist der Begriff der Willkür von vornherein ein Moment im Begriff des Willens überhaupt, ohne den die praktische Problemstellung gar nicht möglich wäre (vgl. etwa die begrifflichen Expositionen der Einleitung zur MdS, VI 211 ff., insbes. 213 14-26). Dagegen spricht die Tatsache des sinnlichen Affiziertseins unserer Willkür ebenso wenig, wie die Tatsache der sinnlichen Affektion unseres Erkenntnisvermögens gegen die Behandlung unserer Erfahrung überhaupt und unserer Sinnlichkeit überhaupt in der theoretischen Transzendentalphilosophie. Die in der 2. Auflage übrig gebliebenen Begriffe dagegen müssen nicht mehr mit der Differenz zwischen einer allgemeinen und einer durch empirische Begriffe bedingten besonderen Metaphysik in Beziehung gesetzt werden. Vielmehr geht es nunmehr, wie die neu hinzugefügte Erläuterung sagt, um sinnliche Hindernisse der Pflicht und Anreize, welche die Sittlichkeit gerade nicht zum Bewegungsgrunde zu machen fordert und die nur insofern im Begriffe der Pflicht... in die Abfassung des Systems der reinen Sittlichkeit mit hineinzuziehen sind (vgl. III 45 23-29). Liegt der ersten Fassung zwar eine architektonisch einsichtige Überlegung zugrunde, aber doch eine solche, die nicht eigentlich die praktische Philosophie betrifft (weshalb sie vielleicht in der 2. Auflage eliminiert wurde), so ist der 2. Fassung entgegenzuhalten, daß (a) die in einer Wissenschaft bloß negativ behandelten Prinzipien doch nicht gut für die systematische Stellung der Wissenschaft verantwortlich sein können und (b) die genannten Prinzipien der Sinnlichkeit etwa in der KdpV doch nur als sinnliche Bestimmungsgründe überhaupt zu thematisieren sind und also nicht anders, als auch in der theoretischen Philosophie die Prinzipien der Sinnlichkeit ihre grundsätzliche (dort aber sogar positive) Behandlung erfahren. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die im letzten Satz der Argumentation (in der 2. Fassung) genannten Triebfedern, welche alles Praktische enthalte und um derentwillen es sich auf ( zu empirischen Erkenntnißquellen gehörende) Gefühle, sich beziehe, sich im Falle der moralischen Triebfeder gerade auf das Sittengesetz selbst reduzieren (vgl. V 71 28-72 11). Dieses aber können wir samt dem durch es erzeugten Gefühl der Achtung völlig a priori erkennen (vgl. V 72 28-73 37). - Es bleibt also, zumindest nach dem Standpunkt Kants in der KdpV, nicht eben viel von dem empirischen Einschlag der praktischen Philosophie, als Grund ihres Ausschlusses aus der Transzendentalphilosophie, übrig. - Zu einer eventuellen philosophiegeschichtlichen Motivation dieses Ausschlusses vgl. K. Bärthlein, Von der Transzendentalphilosophie der Alten zu der Kants, in: Archiv.f.G.d.Ph. 58, 1976, S. 353-392, insbes. 370 f. und 388-390. I

Gutes und auf das rechtsphilosophische Prinzip der Publizität) anwendet. 5 - Welches ist dann aber das Problem, das der Gedanke einer Deduktion, oder gar transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes für Kants praktische Philosophie mit sich führt? Und ist dieses Problem auf der Grundlage der Kantischen Überlegungen und mit den Kantischen Mitteln wirklich so unlösbar, wie dies zumindest die Ausführungen der Kritik der praktischen Vernunft vermuten lassen? Diese beiden Fragen lassen sich kaum durch eine bloße Analyse der Kantischen Haupttexte im 3. Abschnitt der Grundlegung und in der KdpV beantworten - nicht nur, weil Kant selbst nirgendwo deutlich erklärt, ob er die Position der KdpV wirklich als ein Revision der Grundlegung verstanden wissen will, sondern auch, weil diese Fragen letztlich systematische Fragen sind. Wir wollen uns deshalb hier weniger eine vollständige Analyse der Texte und gar einen Vergleich der beiden Positionen zum Ziel setzen (so notwendig auch dies sein mag), sondern einmal versuchen, die systematischen Bedingungen für die Lösung des Problems so weit wie möglich in der Kantischen Philosophie freizulegen. Einer Antwort auf die beiden Fragen wollen wir uns in fünf Schritten nähern: Wir werden 1. den Begriff und das mit gewissem Recht modaltheoretisch zu nennende Programm der Transzendentalphilosophie, insbes. nach der 2. Auflage der KdrV, skizzieren, soweit Kant beides in der theoretischen Philosophie entwickelt. Wir werden 2. diese modaltheoretischen Strukturen in der Problemstellung der praktischen Philosophie Kants wiederzufinden versuchen. 3. werden wir die transzendentalphilosophische Durchführung des modaltheoretischen Programms in der KdrV, insbes. in der transzendentalen Deduktion der Kategorien, kurz charakterisieren. Dabei wollen wir vor allem die Strukturen herausarbeiten, die sich für Kant aus dem transzendentalen Prinzip der Einheit ergeben, welches in gewisser Weise an die Transzendentalphilosophie der Alten 6 anknüpft, und 4. den Andeutungen des entsprechenden transzendentalen Prinzips und der in ihm begründeten Strukturen in Kants praktischer Philosophie nachgehen und die damit verbundenen prinzipientheoretischen Schwierigkeiten verdeutlichen, um dann 5. den Versuch zu machen, durch eine systematische Ausschöpfung der Kantischen Ansätze die Möglichkeit einer transzendentalen Deduktion des Sittengesetzes nachzuweisen. 5 Vgl. V 113 5-12 und VIII 381-386, insbes. 381 2 f. und 22-25 sowie 386 10-13. 6 Vgl. 12 der 2. Auflage der KdrV, B 113 ff.; III 97,20-99 6. 1. Begriff und modaltheoretisches Programm der (theoretischen) Transzendentalphilosophie Die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft ist... in der Frage enthalten: Wie sind synthetische Urtheile a priori möglich? 7. Aus dieser Frage ergibt sich die Idee einer besondern Wissenschaft, die Kritik der reinen Vernunft heißen kann 8 und welche die Propädeutik zum System der reinen Vernunft oder zur Transscendental-Philosophie 9 darstellt. Bedenken wir, daß in der Frage nach der Möglichkeit gewisser Urteile auch die Frage nach der Möglichkeit der darin enthaltenen Begriffe vorausgesetzt ist, so ist der Begriff des Transzendentalen (zumindest nach dem Text der 2. Auflage) letztlich durch die Ausgangsfrage der Kritik der reinen Vernunft, die eigentliche Aufgabe der reinen Vernunft bestimmt, wie dies auch in der Definition der transzendentalen Erkenntnis zum Ausdruck kommt: Ich nenne alle Erkenntniß transscendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnißart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. 10 Worauf zielt nun genau der modale Begriff der Möglichkeit, der in der Ausgangsfrage und in der Definition der transzendentalen Erkenntnis benutzt wird? Hier müssen wir uns zunächst klarmachen, daß dasjenige, nach dessen Möglichkeit gefragt wird, von vornherein eine Geltungseinheit ist. Es geht um die Möglichkeit gültiger Urteile und die Möglichkeit gültiger, d.h. wahrhaft auf Gegenstände bezogener Begriffe, und nicht etwa nur um die Möglichkeit faktischer Behauptungen. So ist denn auch die Wirklichkeit synthetischer Urteile a priori, die Kant gemäß dem Text der Prolegomena und der 2. Auflage der 7 B 19; III 39 27-29. 8 Vgl. B 24; III 42 29 f. 9 Vgl. B 25; III 43 11 f. und 19 f. 10 B 25; III 43 16-19; Die entsprechende Formulierung der 1. Auflage bezieht sich zumindest weniger deutlich auf das Problem der synthetischen Urteile a priori, indem sie statt von der Erkenntnisart und ihrer Möglichkeit a priori nur von Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt spricht (vgl. A 11 f; IV 23 8-11). Diese Formulierung ist offenbar in dem folgenden Satz auch noch der 2. Auflage vorausgesetzt, wenn es heißt: Ein System solcher Begriffe würde Transscendental-Philosophie heißen. (B 25; III 43 19 f.). - Zu der Frage, inwieweit Kant mit der Neuformulierung der Definition der transzendentalen Erkenntnis eine tiefgreifende Veränderung in der Konzeption der Transzendentalphilosophie vorgenommen hat, vgl. T. Pinder, Kants Begriff der transzendentalen Erkenntnis. Zur Interpretation der Definition des Begriffs transzendental in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft (A 11 f./b 25), in: Kant-Stud. 77, 1986, S. 1-40. - Wir werden uns im folgenden hauptsächlich an der 2. Auflage der KdrV orientieren 130 II

Kritik der reinen Vernunft in der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft gegeben sieht 11, Wirklichkeit von gültigen synthetischen Urteilen a priori, d.i. Entschiedenheit ihrer Geltungsdifferenz. Das Problem ist nun aber nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit solcher Urteile. - Was heißt das? Die Entschiedenheit der Geltungsdifferenz von Urteilen hängt, zumindest, wenn wir nicht von Urteilen an sich, sondern von ihrer Realisierung in menschlichen Subjekten reden wollen, von vielerlei im weitesten Sinne historischen Gegebenheiten ab. Auch wenn alle diese Gegebenheiten der Fall wären, könnten wir (einerseits) immer noch fragen, wodurch denn solche Urteile unter diesen Gegebenheiten als gültige Urteile ü- berhaupt möglich seien. Würden wir dagegen diesen Grund der Möglichkeit kennen, so wäre dadurch (andererseits) noch nichts über die Wirklichkeit (im Sinne der Entschiedenheit jedes einzelnen) solcher Urteile gesagt. Wir hätten allenfalls ein Geltungsprinzip an der Hand, mit dessen Hilfe wir jeweils in einem Prüfverfahren über die Geltung eines jeden entscheiden könnten. Das Problem nun der Möglichkeit (gültiger) synthetischer Urteile a priori besteht bekannter Maßen darin, daß in ihnen von einem Subjektsbegriff ein Prädikatsbegriff ausgesagt wird, der nicht in diesem Subjektsbegriff enthalten ist, ohne daß doch ein Entscheidungsgrund für diese Synthesis in irgendeiner Erfahrung gegeben wäre. Daher können wir auch sagen, daß die Möglichkeitsfrage auf ein `Drittes neben dem Subjekts- und dem Prädikatsbegriff zielt, welches zwischen Subjekts- und Prädikatsbegriff vermittelt. 12 Mit dem Problem der synthetischen Urteile a priori ist dasjenige der reinen Begriffe a priori verbunden. Auch sie stehen unter dem Verdacht, ungültig zu sein, und zwar in dem Sinne, daß sie sich gar nicht auf Gegenstände beziehen, da sie per Defini- 11 Vgl. IV 279 15-28 und B 20; III 40 17-25; es ist ein wenig irreführend, die Deduktion, welche die Prolegomena von der Möglichkeit der reinen Mathematik und der reinen Naturwissenschaft geben, (nicht wegen geringer Ausführlichkeit, sondern schon ihrer Zielsetzung nach) eine schwache Deduktion zu nennen (vgl. D. Henrich, Die Deduktion..., S. 30-32). Wird nachgewiesen, wie gewisse Urteile möglich sind, so spielt es für die Bewertung der Deduktions-Leistung keine Rolle, ob vorher (gemäß der analytischen Methode) angenommen wurde, daß sie möglich seien (weil sie schon für wirklich gehalten werden). Gelänge nämlich der Nachweis nicht, so müßte die Annahme natürlich revidiert werden. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Logik einer transzendentalen Deduktion nicht von derjenigen eines trivialen Beweises: Die Argumente sind, wenn sie geliefert werden, für jemanden, der die These vorher bezweifelt hat, dieselben und ebenso verbindlich, wie für den, der sie immer schon vertreten hat. Wenn wir nicht auf den Grad der Ausführlichkeit achten, so liegt der Unterschied der beiden Deduktionsformen allein in der Methode sowie in der literarischen und didaktischen Absicht. 12 Vgl. B 194; III 144 1-5, wo auch vom Medium aller synthetischen Urtheile gesprochen wird; vgl. auch B 13; III 35 27-36 1: das Unbekannte = x. 131 tionem nicht aus der Erfahrung, unserer alltäglichen Quelle für Gegenstandsbezüge, genommen sind. 13 Die Antwort Kants auf die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori wie auch auf die nach der Möglichkeit von Begriffen a priori ist nun wiederum in einer modaltheoretischen Formulierung zu finden: Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das, was allen unseren Erkenntnissen a priori objective Realität giebt. 14 Auch diese Antwort enthält also den Begriff der Möglichkeit einer Geltungseinheit, nun aber nicht einer Geltungseinheit a priori, sondern a posteriori, die Möglichkeit von aufgrund sinnlicher Anschauungen entscheidbaren Urteilen. Aber (und das ist nun wichtig) die Möglichkeit dieser empirischen Erkenntnis überhaupt ist selbst nichts Empirisches, sondern ein Prinzip a priori: Schon vor aller faktischen Erfahrung muß ich wissen können, ob und wie grundsätzlich über die Gültigkeit der empirischen Urteile entschieden werden kann. Um uns klar zu machen, worauf die Leistungsfähigkeit dieses Prinzips beruht, wollen wir es kurz einem anderen Prinzip gegenüberstellen, das uns e- benfalls als Begründungsprinzip in den Sinn kommen könnte. Wie könnten sagen: Die Kategorien sind reine Verstandesbegriffe und die synthetischen Urteile a priori reine Verstandesgrundsätze; sie definieren, eventuell zusammen mit den formal-logischen Prinzipien, dasjenige, was der (menschliche) Verstand selbst ist. Was aber sollte theoretische Gültigkeit besitzen, wenn nicht die Prinzipien des Verstandes selbst? - Wir sehen sogleich, daß mit diesen Sätzen (eines dogmatischen Rationalisten ) so richtig sie sein mögen, nichts bewiesen ist. Gerade wenn der Begriff des Verstandes durch jene Prinzipien zu definieren ist, würden wir uns im Zirkel bewegen. Wir würden unseren Verstand als einen (Gegenstände) wahrhaft erkennenden Verstand annehmen, um die Kategorien und die synthetischen Urteile a priori als gültig zu denken; und wir würden nachher jene Prinzipien als gerechtfertigt betrachten, weil wir unseren Verstand als wahrhaft erkennendes Vermögen gedacht hätten. Inwiefern nun das Prinzip der möglichen Erfahrung mehr leisten kann als ein so verwendeter Begriff des Verstandes, erklärt ein wenig genauer jener Absatz, welcher unmittelbar auf die Formulierung des obersten Grundsatzes aller synthetischen Urteile folgt und eine Art von (transzendentaler) Deduktion der synthetischen Urteile a priori enthält, und zwar, indem er das Verhältnis zwi- 13 Vgl. B 120; III 101 19-104 2. 14 B 195; III 144 32 f; vgl. auch mit Bezug auf die Kategorien B 167; III 128 16-23 und B 126; III 105 1-12. III 132

schen jenem Prinzip und den synthetischen Urteilen a priori (einschließlich ihrer begrifflichen Elemente) angibt: Auf solche Weise sind synthetische Urtheile a priori möglich, wenn wir die formalen Bedingungen der Anschauung a priori, die Synthesis der Einbildungskraft und die nothwendige Einheit derselben in einer transscendentalen Apperception, auf ein mögliches Erfahrungserkenntniß überhaupt beziehen und sagen: die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung, und haben darum objective Gültigkeit in einem synthetischen Urtheile a priori. 15 Wir wollen auf die erste Hälfte dieses Absatzes erst im Zusammenhang unserer Überlegungen zum Prinzip der transzendentalen Einheit näher eingehen und zunächst nur die berühmte Schlußformel des Absatzes beachten, welche zwei Bedingungskomplexe miteinander identifiziert. Diese Formel ist, für sich genommen, keineswegs ohne weiteres plausibel, denn es ist ja nicht einzusehen, inwiefern die Bedingungen der Möglichkeit von so etwas Subjektivem wie der Erfahrung,zugleich Bedingungen der Möglichkeit von etwas gar nicht Subjektivem, nämlich den Gegenständen dieser Erfahrung, sein sollen. Die Formel stellt allenfalls ein Deduktionsprogramm, aber noch nicht dessen Durchführung dar. Immerhin macht uns die Formel aber klar, daß Kant jene Bedingungen eben darum, wegen dieser Identität, objektive Gültigkeit zudenkt und daß die synthetischen Urteile a priori, um die es Kant geht, eben diese Bedingungen enthalten oder (zumindest zum Teil) mit ihnen identisch sind. Ein Empirist jedoch wird auf diese Deduktions-Formel ungläubig reagieren: Warum sollten die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung mit denen der Gegenstände identisch sein? wird er sagen. Gewiß, falls wir irgend etwas über Gegenstände wissen können, so wissen wir es aus Erfahrung. Die Bedingungen, die wir dafür in Anschlag bringen müssen, sind zum einen sinnliche Anschauungen, und zunächst Eindrücke; sie garantieren den unmittelbaren Gegenstandsbezug und geben der Erfahrung überhaupt erst einen Inhalt; und zum anderen brauchen wir natürlich zur Vergleichung und Zusammenfassung solcher Anschauungen gewisse logische Regeln, damit wir nicht alles durcheinanderwerfen und auch bei den kompliziertesten Operationen wirklich an dem festhalten, was wir erfahren haben. Dies sind Bedingungen der Möglichkeit für jede Erfahrung. Aber ich sehe keinerlei Sinn darin, diese Bedingungen nun den Gegenständen selbst zu unterlegen: Die Gegenstände brauchen ja weder logische Regeln noch Anschauungen zu ihrer Möglichkeit. 15 B 197; III 145 30-37; man beachte die Parallele zur Einleitung des Deduktionsabsatzes in der Grundlegung : Und so sind kategorische Imperativen möglich... (IV 454 6; s.u. S. 140). 133 Kant würde auf diesen Einwand hin sicherlich zunächst die Charakterisierung der Erfahrung durch den Empiristen akzeptieren (wenn wir von dem Ausschließlichkeitsanspruch für die Erfahrungserkenntnis einmal absehen). Er würde darauf hinweisen, daß das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung sich eben deshalb für seine Zwecke eigne, weil er in einer ganzen Reihe von Feststellungen über das, was Erfahrung sei, mit dem Empiristen einig sei. Erfahrung sei eben das Problem, das ihn mit dem Empiristen verbinde; und eben deshalb wolle er von den unstrei- tigen Definitionsstücken dieses Problems ausgehen, um nachzuweisen, daß noch ganz andere Bedingungen gegeben sein müßten, damit eben dieses so definierte Problem auch in Angriff genommen und gelöst werden könne. Wir wollen nun das Prinzip der möglichen Erfahrung kurz das Problemprinzip der Rechtfertigung synthetischer Urteile a priori (und der Kategorien) nennen und die korrelative Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung als Referenzprinzip der Rechtfertigung bezeichnen. In modaltheoretischer Hinsicht ist das Prinzip der Möglichkeit der Erfahrung der Grund dafür, daß die entsprechenden Bedingungen notwendige Bedingungen, die betreffenden Urteile apodiktische Urteile und als solche möglich sind. Die Möglichkeit dieser Urteile meint eben nicht den Urteilsmodus der Problematizität (der Nicht- Entschiedenheit), der diesen Urteilen selbst zukäme. Vielmehr ist sie das Korrelat eines auf diese Urteile bezogenen Reflexionsurteils von der Form Es ist möglich, daß solche Urteile a priori entschieden werden (weshalb sie dann als notwendig, d.i. vorentschieden, zu betrachten sind). - Die Apodiktizität der Urteile beruht demnach darauf, daß ohne sie (ohne daß sie gelten würden) Erfahrung nicht möglich wäre. Zumindest bei jedem einzelnen synthetischen Urteil a priori beruht übrigens seine Notwendigkeit nicht auf einer schlichten Möglichkeit der Erfahrung, sondern auf einer Möglichkeit, nur wenn.., die wir auch als replikative Möglichkeit bezeichnen können 16. Wir werden später der transzendentalphilosophischen Durchführung des modaltheoretisch formulierten Programms ein wenig genauer nachgehen, 16 Vgl. des näheren hierzu: Vf., Modalität und empirisches Denken. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Kantischen Modaltheorie, Hamburg 1986, S. 86 ff.; vgl. dort auch die Analysen zur modalen Urteilsfunktion überhaupt als Grad der Entschiedenheit von Urteilen, S. 35 ff. und S. 70 ff. Zur genaueren modaltheoretischen Bestimmung des in der transzendentalen Reflexion benutzten Möglichkeitsbegriffs sei darauf hingewiesen, daß es sich hier immer um den weiten Möglichkeitsbegriff der Entscheidbarkeit überhaupt handelt. In der gegenstandstheoretischen Modalproblematik dagegen kennt Kant noch einen engen Begriff der bloßen Möglichkeit, der auf bloß subjektive Entscheidbarkeit (die des alternativen oder zielt, welche zugleich eine objektive Unentscheidbarkeit bedeutet (vgl. die Phänomenologie der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, IV 555 15-556 25 und 559 f., Anm. sowie Vf., a.a.0. S. 23 ff., 59 ff. und 135 ff.). IV 134

wodurch Kant die Identität der Bedingungen des Problemprinzips auf der einen und des Referenzprinzips auf der anderen Seite nachgewiesen und damit den Erklärungsgrund für die Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori bereitgestellt hat. Vorher wollen wir zusehen, inwieweit wir die bisher skizzierten Strukturen der fundamentalen theoretischen Überlegungen Kants auch in der Grundlegung seiner praktischen Philosophie wiederfinden können. 2. Exposition der modaltheoretischen Strukturen in Kants Grundlegung der praktischen Philosophie Allem Anschein nach finden wir in Kants praktischer Philosophie eine der Ausgangsfrage der theoretischen Philosophie genau entsprechende Frage: Wie ist ein kategorischer Imperativ möglich? 17 Ein kategorischer Imperativ ist ein synthetisch-praktischer Satz a priori 18. Der (nicht explizit genannte) Subjektsbegriff dieses synthetischen Satzes ist der Begriff des Willens eines vernünftigen Wesens 19 ; der Prädikatsbegriff besteht in dem Gehalt des Imperativs, in der ersten Formulierung der Grundlegung :... handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. 20 Das Prädikat ist also ein gewisses Sollen, das Kant freilich auch als das,wollen einer Handlung bezeichnet, nämlich unter der Idee einer Vernunft, die über alle subjective Bewegursachen völlige Gewalt hätte. 21 Zu Beginn des dritten Abschnittes der Grundlegung findet sich auch eine scheinbar theoretische, in Wirklichkeit aber axiologische Umformulierung des synthetischpraktischen Satzes:... ein schlechterdings guter Wille ist derjenige, dessen Maxime jederzeit sich selbst, als allgemeines Gesetz betrachtet, in sich enthal- 17 17. Vgl. den dritten Zwischentitel im 3. Abschnitt der GMS, IV 453 16. 18 Vgl. z.b. IV 420 14 und die zugehörige Fußnote, ebda. Z. 29-35; man beachte, daß der Terminus Satz bei Kant nicht die Bedeutung einer sprachlichen Einheit hat, sondern die einer gedanklichen (noematischen) Einheit (vgl. dazu IX 109 11-22 und VIII 193 f., Anm.). Seine Bedeutung ist einerseits enger als die des Terminus Urteil : Nur (mindestens) assertorische, also entschiedene Urteile sind Sätze; andererseits erstreckt sie sich nicht bloß auf theoretische, sondern auch auf praktisch-entschiedene Gedanken (vgl. IX 110 1-6). Gerade in letzterer Hinsicht scheint uns der Terminus in seiner nicht-sprachlichen Bedeutung unentbehrlich zu sein. 19 Vgl. IV 420, 34 f. und IV 440 20-24. 20 IV 421 7 f. 21 Vgl. IV 420 31 f. 135 ten kann. 22 Der Prädikatsbegriff ist hier Autonomie, d.i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein 23, während der Subjektsbegriff zwar schon das Wertprädikat der schlechthinnigen Güte enthält, aber nach Kants Intention in einem Sinne, der (anders übrigens als der positive Begriff der Freiheit) noch nicht das Sittengesetz selbst impliziert, weil der Satz sonst kein synthetischer Satz wäre. 24 Der schlechterdings gute Wille ist also seinem bloßen Begriff nach (jedenfalls in dem soeben zitierten Satz) ebenso wenig wie der Wille eines vernünftigen Wesens schon in einem eigentlich moralischen Sinne aufzufassen. Zwar spricht Kant in diesem Zusammenhang nicht von einer transzendentalen Erkenntnis, aber die Problemstellung und der in der Grundlegung ins Auge gefaßte Lösungsweg scheinen doch ganz dem zu entsprechen, was Kant in der KdrV als transzendentale Erkenntnis charakterisiert. Auch hier geht es um die Erkenntnisart, wodurch ein synthetischer Satz a priori möglich ist, auch hier müssen wir über die Beschäftigung mit dem Gegenstand des Satzes zu einer Kritik des Subjekts hinausgehen: Im 2. Abschnitt der Grundlegung heißt es im Vorblick auf das Geschäft des 3. Abschnittes:... man müßte über die Erkenntniß der Objecte zu einer Kritik des Subjects, d.i. der reinen praktischen Vernunft, hinausgehen, denn völlig a priori muß dieser synthetische Satz, der apodiktisch gebietet, erkannt werden können... 25 Wie die theoretisch-synthetischen Sätze a priori, so bedürfen auch die praktischsynthetischen Sätze a priori zu ihrer Möglichkeit, zur Entscheidbarkeit ihrer Geltungsdifferenz, eines Dritten', welches den Grund der Entscheidung und der Verknüpfung zwischen Subjekts- und Prädikatsbegriff abgibt. 26 Dieses Dritte nun liegt im Text der Grundlegung nicht ebenso offen zu Tage wie dies bei der Möglichkeit der Erfahrung im Text der Kritik der reinen Vernunft der Fall ist, obwohl Kant die Frage nach diesem Dritten explizit stellt und implizit sogar beantwortet zu haben beansprucht. Unmittelbar sagt uns Kant zunächst nur, daß der positive Begriff der Freiheit dieses Dritte schaffe 22 IV 447 10-12. 23 Vgl. IV 447 1 f. 24 Vgl. IV 447 12-14 und nochmals 420 32-35; man vergegenwärtige sich im Gegensatz dazu das Verhältnis zwischen den Begriffen der Freiheit und des Sittengesetzes (vgl. auch Anm. 55). 25 Vgl. IV 440 24-27; nimmt man hinzu, was Kant an der anfangs genannten Stelle V 113 5-8 über die Deduktion des Begriffs des höchsten Gutes sagt, so kann kein Zweifel bestehen, daß wir auch hier von einer transzendentalen Erkenntnis sprechen dürfen 26 Vgl. IV 447 14-17. 136 V

und daß uns die Freiheit darauf weise ; er deutet an, daß die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs zugleich mit der Deduction des Begriffs der Freiheit aus der reinen Vernunft begreiflich zu machen sei; aber zu alledem bedürfe es noch einiger Vorbereitung. 27 Wir wollen nun nicht den gesamten Text, der diese Vorbereitung leistet, analysieren (vgl. dazu den Beitrag von R. Brandt in diesem Bande), sondern lediglich die Analogien zu Kants Vorgehen in der theoretischen Philosophie herausarbeiten. Legen wir eine Analogie zum Vorgehen in der KdrV einmal versuchsweise zugrunde, so erwarten wir (übrigens auch gemäß der zitierten Vordeutung auf die Kritik des Subjekts im 2. Abschnitt), daß das gesuchte Dritte in einer notwendigen (und möglichst unbestrittenen) Leistung des Subjekts bestehe, deren bloße Möglichkeit als Problemprinzip der Möglichkeit synthetisch-praktischer Sätze a priori zugrunde liege. Kant scheint dieses Dritte, freilich ohne es als solches ausdrücklich zu kennzeichnen, zunächst in einer vorläufigen Überlegung und dann, nach der Diskus- sion eines Einwandes, in einer endgültigen Deduktion ins Spiel zu bringen. In der vorläufigen Überlegung setzt Kant den Subjektsbegriff des synthetisch-praktischen Satzes, den des Willens eines vernünftigen Wesens (der bisher nur sozusagen objektiv, als eine Art von Causalität bestimmt worden ist), mit seinem Handlungsbewußtsein in Beziehung. 28 Hierin könnten wir einen ersten Schritt des im 2. Abschnitt angekündigten Übergangs von der Erkenntnis der Objekte zu einer Kritik des Subjekts erblicken. Kant stellt die These auf, daß ein solches Wesen nur unter der Idee der Freiheit handeln könne. Dies aber impliziere, daß dieses Wesen zugleich auch das Gesetz eben dieser Freiheit für sich als gültig betrachten müsse: Ein jedes Wesen, das nicht anderes als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei, d.i. es gelten für dasselbe alle Gesetze, die mit der Freiheit unzertrennlich verbunden sind, eben so als ob sein Wille auch an sich selbst und in der theoretischen Philosophie gültig für frei erklärt würde. 29 Dieser Gedanke setzt jedoch voraus, daß das Handeln eines vernünftigen Wesens, das einen Willen hat, nicht irgendeine Kausalität, sondern die Kausalität einer ihrer selbst bewußten Vernunft ist:... in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d.i. Causalität in Ansehung ihrer Objecte 27 Vgl. IV 447 20-25. 28 Vgl. IV 448 4-22 mit 446 7-12. 29 IV 448 4-9 hat. 30 Vernunft aber muß sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen unabhängig von fremden Einflüssen 31, wobei Kant offenbar annimmt, daß dies bei der praktischen Vernunft nicht anders sein könne als bei der theoretischen: Man könne sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewußtsein in Ansehung ihrer Urtheile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdann würde das Subject nicht seiner Vernunft, sondern einem Antriebe die Bestimmung der Urtheilskraft zuschreiben. 32 Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß die Urteilskraft tatsächlich einmal durch Antriebe irritiert würde, sondern lediglich, daß die Vernunft mit ihrem eigenen Bewußtsein dies zulassen würde. Welches ist also nach diesem Gedankengang das Dritte, welches die Verknüpfung des Subjekts- mit dem Prädikatsbegriff in einem kategorischen Imperativ vermittelt? Allem Anschein nach ist es auch hier die Möglichkeit einer Leistung des Subjekts, nämlich des Bewußtsein zu Handeln, u. zw. insofern, als es 137 das Handlungsbewußtsein eines vernünftigen und mit einem Willen begabten 138 Wesens ist. Die Idee der Freiheit aber (und mittelbar das Gesetz der Moralität) ist dann eine Bedingung dieses Dritten - oder, wie Kant später, im Rückblick auf seine Deduktion formuliert:... in praktischer Absicht ist der Fußsteig der Freiheit der einzige, auf welchem es möglich ist, von seiner Vernunft bei unserm Thun und Lassen Gebrauch zu machen. 33 Auch in der praktischen Philosophie korrespondiert der modal formulierten Frage nach der Möglichkeit synthetisch-praktischer Sätze eine modal formulierte Anwort, die auf die Möglichkeit einer Subjektsleistung als eines die beiden Termini des Satzes vermittelnden Dritten verweist. Nennen wir dieses Dritte die Möglichkeit des Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtseins, so enthält diese Formulierung freilich (ebenso wie die verschiedenen Varianten des Kantischen Textes) eine Zweideutigkeit, die wir in heutiger Redeweise durch die Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Freiheit erläutern könnten: Muß das Handlungsbewußtsein eines vernünftigen Wesens wirklich die Idee einer sich in praktischer Hinsicht selbst bestim- 30 ebda. Z 11-13 31 Vgl. ebda. Z. 17 f. 32 ebda. Z 13-16; zur Problematik dieses Übergangs wegen der Denkbarkeit des Fatalismus vgl. D. Henrich, Die Deduktion..., S. 68 ff. 33 Vgl. IV 455 33-456 1; dieses Zitat faßt innerhalb von Überlegungen, die sich auf die theoretische Möglichkeit der Freiheit (im Sinne der dritten Antinomie der transzendentalen Dialektik) beziehen, im Rückblick auf das Vorangegangene noch einmal das Ergebnis der praktischen Deduktion zusammen. VI

menden Vernunft (und damit der Freiheit) enthalten? Diese Frage scheint durch die Kantische Argumentation noch nicht recht geklärt zu sein, und man hat darauf hingewiesen, daß die Vernunft eines solchen Wesens ja ebenso gut nur die Funktion haben könnte, für anderweitig schon gegebene Zwecke, bloß durch theoretische Überlegung, die Mittel zu erschließen (also die Funktion der bloßen Zweckrationalität). 34 Wir müssen also fragen, warum erst Freiheit und Moralität, und nicht schon Zweckrationalität, die zureichenden Bedingungen der Möglichkeit des Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtseins darstellen. Auch wenn wir dieses Bedingungsverhältnis einmal voraussetzen, müssen wir noch fragen, ob es sich dabei nicht um ein analytisches Verhältnis handelt: Inwiefern ist der Begriff des Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtsein vermittelndes und begründendes Drittes für die Idee der Freiheit und die Verknüpfung von Subjekts- und Prädikatsbegriff im Sittengesetz? Er muß mehr leisten als der Begriff der Freiheit selbst, da Freiheit und Sittengesetz Wechselbegriffe sind. 35 Wenn er nicht mehr leisten könnte, als diese beiden Begriffe, so liefe das auf einen ähnlichen Zirkel hinaus, als wollten wir den Grund für die synthetischen Urteile a priori schon darin erblicken, daß sie die reinen Verstandesgesetze seien. Dies ist offenbar genau der Verdacht, den Kant vor seinem endgültigen Deduktionsversuch ausräumen zu müssen meint: Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von Cirkel, aus dem, wie es scheint, nicht heraus zu kommen ist. Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben... 36 Was somit noch nicht gezeigt werden muß, ist dies, daß das Prinzip der Möglichkeit des Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtseins wirklich als ein Drittes fungieren kann, dessen Bedingungen die Idee der Freiheit und die Gültigkeit des Sittengesetzes sind, und das doch selbst noch etwas anderes und möglichst Unbestritteneres ist als diese beiden Begriffe. Um das Problem noch einmal deutlich mit den Worten Kants zu bezeichnen: Wir müssen den Ver- 139 dacht ausräumen, daß wir... vielleicht die Idee der Freiheit nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legen. 37 Um jenes von der Freiheit wohlunterschiedenen Dritten willen müssen wir uns dem Sittengesetz unterworfen denken. Das in der theoretischen Philosophie angesetzte Dritte, die Möglichkeit der Erfahrung, könnte seine Begründungsfunktion nicht erfüllen, wenn es (in rationalistischer Manier) auf den bloßen Verstand reduziert werden könnte oder wenn es (nach der Vorstellung des Empiristen) auf bloße Sinnlichkeit und ihre allenfalls formallogische Regulation reduzierbar wäre. Seine (eigens nachzuweisende) Leistungsfähigkeit beruht gerade auf seiner Funktion, die beiden heterogenen Erkenntnisquellen miteinander in Beziehung zu setzen. Die transzendentale Deduktion der Kategorien und die Analytik der Grundsätze führen deshalb den Nachweis, daß Erfahrung nur möglich ist, wenn zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur beruht, möglich machen. 38 So rekapituliert Kant seine theoretische Grundüberlegung anläßlich seiner Deduktion des Sittengesetzes, um die Analogie zwischen beiden Deduktionsgedanken deutlich zu machen. In dem Aufweis einer Verknüpfung von zwei heterogenen Ausgangspunkten besteht nun genau die Problementfaltung, durch die Kant im dritten Abschnitt der Grundlegung den Zirkelverdacht ausräumen und die Möglichkeit eines kategorischen Imperativs zu rechtfertigen versucht. 39 Zitieren wir den entscheidenden und die ganze Argumentation zusammenfassenden Satz, der gleich darauf als Deduction bezeichnet wird 40 zunächst in seiner ganzen Länge: Und so sind kategorische Imperativen möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem Gliede einer intelligibelen Welt macht, wodurch, wenn ich solches allein wäre, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein würden, da ich mich aber zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, gemäß sein sollen, welches kategorische Sollen einen syntheti- 140 34 Eine besondere Form solcher Zweckrationalität stellt nach der Kantischen Religionsphilosohie die Bösartigkeit der menschlichen Natur dar, die das moralische Gesetz selbst nur dazu benutzt, um in die Triebfedern der Neigung unter dem Namen Glückseligkeit Einheit der Maximen zu bringen (vgl. VI 36 ff.; s. auch u. S. 154). 35 Vgl. IV 450 23-29. 36 Vgl. IV 450 18-23. 37 Vgl. IV 453 3-7. 38 Vgl. IV 454 15-19; wir kommen auf den genauen Sinn dieser Formulierung noch einmal zurück (s.u. Anm. 45). 39 Vgl. insbes. IV 450 30-34 ( Eine Auskunft bleibt uns aber noch übrig... ) und 453 3-15 ( Nun ist der Verdacht, den wir oben rege machten, gehoben... ). 40 Vgl. IV 454 31. VII

schen Satz a priori vorstellt, dadurch daß über meinen durch sinnliche Begierden afficirten Willen noch die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens hinzukommt, welcher die oberste Bedingung des ersteren nach der Vernunft enthält.... 41 Dieser Satz (an den sich der vorher zitierte Vergleich zur theoretischen Philosophie mit ungefähr so, wie... anschließt) beginnt beinahe mit derselben Formel wie die an den obersten Grundsatz angeschlossene Deduktion der synthetischen Urteile a priori ( Auf solche Weise sind synthetische Urteile a priori möglich... - s. Anm. 15). Er gibt eine Deduktion der Möglichkeit kategorischer Imperative, grammatisch gesprochen, in zwei dadurch daß - Konstruktionen, wobei die erste dieser Konstruktionen die Möglichkeit des synthetischen Satzes a priori zunächst einmal nur auf das Zugleich zweier Standpunkte zurückführt, während die zweite dieser Konstruktionen die Notwendigkeit der Verknüpfung beider Standpunkte durch ein Bedingungsverhältnis erklärt. Die erste Konstruktion erhält eine Komplikation durch einen Gedanken im Irrealis, der für den Zweck der Deduktion entbehrlich ist: Wäre ich nur Glied einer intelligiblen Welt, so würden alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein ; auf ein solches Wesen bezogen a- ber wäre das Sittengesetz ein analytischer Satz. 42 Lösen wir den irrealen Einschub aus dem ersten Teil der Möglichkeitserklärung heraus, so lautet der Hauptgedanke: Die Idee der Freiheit macht mich zu einem Gliede einer intelligiblen Welt, wodurch, da ich mich zugleich als Glied der Sinnenwelt anschaue, alle meine Handlungen der Autonomie des Willens jederzeit gemäß sein sollen. Die Synthetizität des kategorischen Sollens beruht also darauf, daß mein Handeln von sich aus keineswegs der Autonomie des Willens gemäß ist, weil es ein Handeln in der Sinnenwelt ist. Nun ist damit zwar die Analytizität des kategorischen Sollens und indirekt auch die befürchtete Zirkelhaftigkeit ausgeschlossen 43, aber das bloße Nebeneinander der Standpunkte ergäbe doch, für sich genommen, nichts als einen schlechten Dualismus, wenn nicht ihre Verknüpfung als notwendig aufgewiesen würde. Dies nun soll offenbar die zweite dadurch daß -Konstruktion leisten, die zunächst einmal deutlich macht, daß es in beiden Standpunkten nicht etwa um 141 zwei verschiedene Stücke in mir (etwa meine Freiheit einerseits und meine Handlungen andererseits) handelt, sondern um ebendasselbe, nämlich meinen Willen, aber einerseits um ihn als einen durch sinnliche Begierden afficirten Willen und andererseits um die Idee ebendesselben, aber zur Verstandeswelt gehörigen reinen, für sich selbst praktischen Willens. Die Identität des Willens unter beiden Standpunkten verhindert nun zwar das Auseinanderfallen der beiden Betrachtungsweisen, läßt aber noch nicht ein positives und notwendiges Aufeinander-bezogen-Sein gerade der unterschiedlichen Momente beider Glieder erkennen. Darauf weist erst der abschließende Relativsatz unseres Zitats, wonach der reine, für sich selbst praktische Wille die oberste Bedingung meines durch sinnliche Begierden affizierten Willens nach der Vernunft enthält. Über den doppelten Standpunkt und die Identität des in beiden Standpunkten vorgestellten Willens hinaus haben wir es nach diesem Relativsatz einerseits mit der Behauptung eines Bedingungsverhältnisses und andererseits mit dem Zusatz nach der Vernunft zu tun. In diesem Zusatz wird offenbar dem durch sinnliche Begierden afficirten Willen die Aufgabe gestellt, mehr zu sein als ein bloßes Glied der Sinnenwelt : vielmehr (insgesamt) jener Wille, welcher in einem Wollen als vernünftigem Handlungsbewußtsein enthalten ist - so daß es uns möglich ist, von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen Gebrauch zu machen. 44 Die Bedingung aber für die Erfüllung dieser Aufgabe ist der reine, für sich selbst praktische Wille. In ähnlicher Weise ist das sinnlich affizierte Erkenntnisvermögen, nach der Vernunft, d.h. wenn es seiner eigentlichen Aufgabe gerecht werden soll (wahrhaft Erkenntnis zu leisten), auf die nichtsinnlichen (reinen) Prinzipien des Verstandes angewiesen. Dies besagt der schon zitierte letzte Teil des Deduktionsabsatzes, den wir noch einmal zitieren, wobei wir zwei verdeutlichende Ausdrücke in Klammern hinzufügen:... ungefähr so, wie zu den Anschauungen der Sinnenwelt Begriffe des 142 Verstandes, die für sich selbst nichts als gesetzliche Form (nämlich der angeschauten Gegenstände) überhaupt bedeuten, hinzu kommen und dadurch synthetische Sätze a priori, auf welchen alle Erkenntniß einer Natur [d.i. Erfahrung) beruht, möglich machen. 45 41 IV 454 6-15. 42 Vgl. z.b. IV 447 6 f. und 452 35-453 2. 43 Die befürchtete Zirkelhaftigkeit beruhte ja gerade darauf, daß die Tatsache, daß der Adressat des Imperativs ein Sinnenwesen ist und daher von sich aus keineswegs der Autonomie gemäß handelt, unberücksichtigt blieb. 44 Vgl. nochmals IV 455 34-456 1. 45 Vgl. IV 454 15-19; es wäre ein Mißverständnis, zu meinen, daß nach dieser Formulierung nicht die Möglichkeit der Erfahrung ( Erkenntniß einer Natur ), sondern die Begriffe des Verstandes für sich genommen schon synthetische Sätze a priori möglich machten: Die Verstandesbegriffe ermöglichen, genau besehen, vielmehr auch nach diesem Text die Erfahrung, welche (ihrem Vollbegriff nach) eben darin besteht, daß VIII

Wir wollen nun nicht sogleich fragen, ob diese Deduktion uns völlig zufriedenstellt, sondern nur noch einmal zwei Interpretationsbedingungen hervorheben, ohne welche schon die ganze Deduktionsstruktur (und nicht erst ihr begrifflicher Inhalt) zusammenbrechen würde: Erstens, weder die Idee der Freiheit noch der Gedanke einer intelligiblen Welt kann die Funktion jenes Dritten übernehmen, welches die synthetisch-praktischen Sätze möglich macht. Uns als frei zu denken, bedeutet ja nichts anderes, als uns in die Verstandeswelt als deren Glieder zu versetzen; und dies läßt uns zwar die Autonomie des Willens sammt ihrer Folge, der Moralität erkennen 46, aber nur im Sinne einer Begriffszergliederung. Das heißt: wollten wir daraus allein unsere Verpflichtung durch das Sittengesetz ableiten, so kämen wir über den Zirkel nicht hinaus. Denn der Verpflichtungsgedanke enthält eben mehr als das bloße Sich-Hineinversetzen in die Verstandeswelt. 47 Die zweite Interpretationsbedingung, die wir vor allem auch im Hinblick auf spätere Äußerungen Kants im Auge behalten müssen, ist die, daß wir auf keinen Fall den durch sinnliche Begierden affizierten Willen... nach der Vernunft, den wir wohl auch als eine Vernunft, die praktisch ist 48 bezeichnen können, schon mit der reinen praktischen Vernunft oder dem für sich selbst praktischen Willen identifizieren dürfen, so wenig wir eine oberste Bedingung mit dem durch sie Bedingten identifizieren dürfen. Nur unter diesen beiden Interpretationsbedingungen halten wir das einen kategorischen Imperativ ermöglichende Dritte wirklich als Drittes fest. Auch und gerade wenn wir diese Interpretationsbedingungen festhalten, ist freilich die Frage noch nicht beantwortet, wieso denn eigentlich der reine Wille eine Bedingung des sinnlich affizierten Willens nach der Vernunft sei (und warum nicht bloße Zweckrationalität ausreiche). 49 - Auch diese Deduktidie Verstandesbegriffe zu den Anschauungen der Sinnenwelt... hinzu kommen ; und erst die Tatsache, daß durch dieses Hinzukommen Erfahrung ermöglicht wird, ist der Grund der Möglichkeit der synthetischen Sätze a priori. - Freilich läßt sich nicht leugnen, daß in dieser Formulierung die Möglichkeit der Erfahrung als Problemprinzip nicht sehr deutlich hervortritt und daß dieser Undeutlichkeit wohl auch eine gewisse Undeutlichkeit in der Formulierung des praktischen Analogons entspricht. 46 Vgl. IV 453 12 f. 47 Vgl. die Fortsetzung unseres letzten Zitats, die mit einem aber nicht etwa bloß den anderen Standpunkt, sondern das zugleich der beiden Standpunkte anführt, um den Zirkelverdacht zu heben:... denken wir uns aber als verpflichtet, so betrachten wir uns als zur Sinnenwelt und doch zugleich zur Verstandeswelt gehörig. (ebda. Z. 14 f.). 48 Vgl. nochmals IV 448 11 und den oben, S. 137, besprochenen Textzusammenhang dieser Stelle. 49 Für die Begründung dieses Bedingungsverhältnisses stellt uns Kant allenfalls Hinweise auf zwei analoge, aber höchst unterschiedliche, Bedingungsverhältnisse aus dem Bereich der theoretischen Philosophie zur 143 on stellt eher ein Deduktionsprogramm als dessen Durchführung dar. Mit ihr sind wir daher in der praktischen Philosophie noch nicht weiter, als wir auch in der theoretischen Problematik nach der bloßen Betrachtung der von uns als Deduktionsformel bezeichneten Identifikation der Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsgegenstände waren. Auch jener Formel konnten wir noch nicht entnehmen, wieso denn eigentlich die behaupteten Bedingungsverhältnisse stattfinden. Freilich steht uns in der praktischen Philosophie bisher nicht einmal jenes (im Theoretischen doch wenigstens eine Erklärung andeutende) Verhältnis von Problemprinzip und Referenzprinzip zur Verfügung. Und so sehr wir immer wieder auch Spuren der die theoretische Deduktion bestimmenden modaltheoretischen Struktur entdecken können: So unmittelbar zum Thema wie etwa im Kapitel über den obersten Grundsatz macht Kant die Möglichkeit des Wollens als vernünftigen Handlungsbewußtseins in der praktischen Philosophie nirgends; ja, es fiel uns sogar nicht ganz leicht, überhaupt einen zu allen andeutenden Formulierungen passenden Terminus zu finden. Kants eigene Ausdrücke sprachen etwa von dem durch sinnliche Begierden affizierten Willen nach der Vernunft oder dem Vermögen, von seiner Vernunft bei unserem Thun und Lassen Gebrauch zu machen. 50 Ein ebenso denkbarer Ausdruck wäre die Möglichkeit des praktischen Gebrauchs der menschlichen Vernunft, wiederum als Prinzip betrachtet. Die alltägliche Konkretion dieses Prinzips wäre der praktische Gebrauch der gemeinen Menschenvernunft, von der Kant nun in dem auf die besprochene Deduktion folgenden Absatz behauptet: Er bestätigt die Richtigkeit dieser Deduction. 51 Man hat festgestellt, daß Kant in diesem Satz einerseits beanspruche, eine Deduktion geleistet zu haben, von der er doch später, in der KdpV, allem Anschein nach behauptet, sie sei nicht möglich; daß aber andererseits der nun folgende Absatz, welcher diesen ersten Satz erläutert, auf nichts anderes hinauslaufe als jenes Bewußtsein des Sittengesetzes, welches nach der KdpV ein Verfügung: einerseits darauf, daß der Sinnenwelt der Erscheinungen die Verstandeswelt der Dinge an sich zugrunde liege (vgl. IV 450 37-451 36), andererseits darauf, daß die Verstandesbegriffe (Kategorien) Bedingungen der Möglichkeit der Naturerkenntnis (Erfahrung) seien (vgl. nochmals IV 454 15-19). Keine der beiden Analogien scheint uns schon die entscheidende Behauptung zu rechtfertigen, daß (in praktischer Hinsicht) Die Verstandeswelt den Grund der Sinnenwelt, mithin auch der Gesetze derselben enthält (vgl. IV 453, 31-33) 50 Vgl. nochmals IV 455 34-456 1. 51 Vgl. IV 454 20 f. IX 144