Die deutsche REVOLUTION 1918/19

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Transkript:

SEBASTIAN HAFFNER Die deutsche REVOLUTION 1918/19 ANACONDA 3

Lizenzausgabe mit freundlicher Genehmigung der Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg. Copyright 1979/2002 by Kindler Verlag GmbH, Berlin. Die Originalausgabe erschien 1969 unter dem Titel Die verratene Revolution im Scherz Verlag Bern/München/Berlin. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar. dieser Ausgabe 2008 Anaconda Verlag GmbH, Köln Alle Rechte vorbehalten. Umschlagmotiv: Berlin, 9. November 1918. Demonstrationszug Unter den Linden. Foto: akg-images, Berlin Umschlaggestaltung: dyadesign, Düsseldorf, www.dya.de Printed in Czech Republic 2008 ISBN 978-3-86647-268-6 info@anacondaverlag.de

Inhalt Vorwort 9 1 Kaiserreich und Sozialdemokratie 11 2 Der 29. September 1918 27 3 Oktober 41 4 Die Revolution 59 5 Der 9. November 79 6 Die Stunde Eberts 95 7 Der 10. November: Die Marneschlacht der Revolution 109 8 Zwischen Revolution und Gegenrevolution 122 9 Die Weihnachtskrise 139 10 Entscheidung im Januar 155 11 Die Verfolgung und Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs 169 12 Der Bürgerkrieg 183 13 Die Münchner Räterepublik 197 14 Nemesis 213 15 Drei Legenden 235 Nachwort zur Neuausgabe von 1979 246 Personenverzeichnis 251 5

Und lasst der Welt, die noch nicht weiß, mich sagen, Wie alles dies geschah; so sollt ihr hören Von Taten, fleischlich, blutig, unnatürlich, Zufälligen Gerichten, blindem Mord; Von Toden, durch Gewalt und List bewirkt, Und Planen, die verfehlt zurückgefallen Auf der Erfinder Haupt: Dies alles kann ich Mit Wahrheit melden. William Shakespeare (Hamlet, V, 2) 7

Kaiserreich und Sozialdemokratie 1 Das Deutsche Reich und die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sind nicht nur gleichzeitig entstanden, sie haben dieselbe Wurzel: die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848. Diese Revolution hatte zwei Ziele gehabt, nationale Einigung nach außen und demokratische Neugestaltung im Innern. Beides war fällig. Kleinstaaterei und Feudalismus, immer noch die Grundlagen des vormärzlichen Deutschland, waren im beginnenden Industriezeitalter liquidationsreif. Aber die bürgerliche Revolution scheiterte, und das deutsche Bürgertum fand sich mit ihrem Scheitern ab. Was seine Aufgabe gewesen wäre, übernahmen andere. Die nationale Einigung die Einebnung überholter Staatsgrenzen besorgte statt seiner Bismarck, an der Spitze der preußischen Junkerklasse und mit Hilfe der preußischen Armee. Die innere Modernisierung die Einebnung überholter Standesgrenzen nahm der vierte Stand als unerledigte Aufgabe aus den schwach gewordenen Händen des dritten. Bismarck und die beginnende deutsche Arbeiterbewegung hielten in den sechziger Jahren je ein Ende des 1849 abgerissenen Fadens in der Hand. Hätten sie zusammengestanden, so hätte in den Jahren um 1870 das 1848 Verfehlte nachgeholt werden und ein moderner, gesunder, langlebiger deutscher Nationalstaat entstehen können. Aber sie standen nicht zusammen, sie standen gegeneinander, und das konnte wohl auch nicht anders sein Kaiserreich und Sozialdemokratie 11

trotz des kurzen, faszinierenden, aber unfruchtbaren Flirts zwischen Bismarck und Lassalle. Das Ergebnis war ein Deutsches Reich, das, mächtig und gefürchtet nach außen, seinem inneren Zustand nach einer schief zugeknöpften Weste glich. Dass es als Nationalstaat etwas Ungenaues, Ungefähres darstellte es schloss bekanntlich viele Deutsche aus, viele Nichtdeutsche ein, war vielleicht unvermeidlich und mochte hingehen. Auch das merkwürdig Verbaute, etwas Unwahrhaftige der Bismarck schen Verfassung der ungelöste Dualismus zwischen Reich und Preußen, die Scheinmacht der Bundesfürsten und des Bundesrats, die unklar geteilte Allmacht von Kaiser und Reichskanzler, die institutionalisierte Ohnmacht des Reichstags, die unintegrierte Armee war nicht das Grundübel dieses Staats; Verfassungen lassen sich ändern. Was Bismarcks Reich, bei allem Glanz der Waffensiege, «von Anfang an todkrank» machte (so der Historiker Arthur Rosenberg in seinem Werk Entstehung der Weimarer Republik), war eine falsche, überholte, geschichtswidrige Machtverteilung zwischen seinen Klassen. Der Staat stand unter falschem Management. Die wirtschaftlich absinkenden, langsam parasitär werdenden preußischen Junker, die nicht wussten, wie ihnen geschah, hatten plötzlich einen modernen Industriestaat zu führen. Das kapitalistische Bürgertum, seit 1849 an Verantwortungslosigkeit gewöhnt und durch Verantwortungslosigkeit verwöhnt, suchte draußen die Macht, die ihm drinnen verwehrt war, und drängte auf außenpolitische Abenteuer. Und die sozialdemokratischen Arbeiter, objektiv die stärkste Reserve der Nation, die willigen Erben der Verantwortung, auf die das Bürgertum verzichtet hatte, waren «Reichsfeinde». Waren sie es wirklich? Sie waren gefürchtet, verfemt, verhasst und in den letzten zwölf Jahren der Bismarck-Zeit, von 1878 bis 1890, verfolgt. Ohne Zweifel waren sie damals unversöhnliche Gegner der Staats- und Gesellschaftsordnung, 12 Kaiserreich und Sozialdemokratie

die Bismarck seinem Reich gegeben hatte. Ohne Zweifel proklamierten sie die politische und soziale Revolution, über die sie freilich schon damals keine klaren Vorstellungen hatten, von konkreten Plänen ganz zu schweigen. Ohne Zweifel hatten sie, ebenso wie die anderen «Reichsfeinde», die katholischen Zentrumswähler, Bindungen und Loyalitäten über die Reichsgrenzen hinaus; was für jene die katholische Weltkirche war, war für sie die Sozialistische Internationale. Und trotzdem waren die einen so wenig Reichsfeinde wie die anderen. Im Gegenteil: Sozialdemokratie und Zentrum waren von Anfang an die eigentlichen Reichsparteien: im Reich, mit dem Reich und durch das Reich entstanden und gewachsen; tiefer in ihm verwurzelt als seine preußischen Gründer. Weder Sozialdemokraten noch Zentrum dachten im Traum daran, das Deutsche Reich, das ihr Lebenselement war, aufzulösen oder seine Auflösung zu wünschen. Sie fühlten sich vielmehr die Sozialdemokraten noch mehr als das Zentrum von Anfang an als Anwärter auf sein Erbe. Es ist nur leicht übertrieben, wenn Arthur Rosenberg schreibt: «So war der sozialdemokratische Parteivorstand die heimliche Gegenregierung und August Bebel auf der Höhe seines Einflusses eine Art von Gegenkaiser.» Die Sozialdemokraten des Bismarck-Reiches waren revolutionäre Patrioten. Sie wollten inneren Umsturz und Umbau keineswegs wollten sie äußere Ohnmacht und Auflösung. Sie wollten aus Bismarcks Reich ihr Reich machen nicht um es zu schwächen oder gar abzuschaffen, sondern um es auf die Höhe der Zeit zu bringen. Freilich ist eine solche Haltung, theoretisch klar genug, in der Praxis nicht ohne Widersprüchlichkeiten. Es liegt ein gewisser Widerspruch in den beiden berühmtesten Aussprüchen des langjährigen Parteiführers August Bebel: «Diesem System keinen Mann und keinen Groschen!» und «Wenn es gegen Rußland geht, werde ich selbst die Flinte nehmen!» Aber es ist nicht dieser Widerspruch, an Kaiserreich und Sozialdemokratie 13