Die psychiatrische Diagnostik aus der Sichtweise von Emil Kraepelin im Vergleich zur Sichtweise von Karl Jaspers im Licht der "Kritik der reinen Vernunft" von Immanuel Kant Othmar Mäser www.psychiater-psychotherapie.at Freier Vortrag gehalten am DGPPN Kongress 2013 im ehrenvollen Andenken an Karl Jaspers zum 100 jährigen Erscheinen der Allgemeinen Psychopathologie DGPPN Kongress 2013, *ICC, Neue Kantstraße Nr. 1, Berlin, Deutschland
Inhaltsübersicht *Einleitung Beginn der Diagnostik in der Psychiatrie Sichtweise von Emil Kraepelin Psychiatrie von Emil Kraepelin (6. Aufl. 1899) Sichtweise von Karl Jaspers Allgemeine Psychopathologie von Karl Jaspers (9. unveränd. Aufl. 1973) Vergleich der Sichtweisen Ergebnis
Rückblick Einleitung - Beginn der Diagnostik in der Psychiatrie * Philippe Pinel (1745 1826) hat die geistig Kranken (malades mentaux) als solche erkannt und erste => psychische Symptomenkomplexe Philippe Pinel in der Salpetrière in Paris beschrieben
Einleitung - Beginn der Diagnostik in der Psychiatrie *Wilhelm Griesinger (1818-1868) hat eine erste umfassende psychiatrische Klassifikation (Nosologie) geschaffen: Wilhelm Griesinger hat die Hauptgruppen: Psychische Depressionszustände Psychische Exaltationszustände Psychische Schwächezustände beschrieben und damit definiert.* * Wilhem Griesinger Die Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten, Berlin 1887, Nachdruck ISBN 90 75541 30 X
Einleitung - Beginn der Diagnostik in der Psychiatrie *und es hat Wilhelm Griesinger (1818-1868) geglaubt, dass in Zukunft Eine Eintheilung der psychischen Krankheiten nach ihrem Wesen, d.h. nach den ihnen zu Grunde liegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns in Zukunft möglich ist.* Andererseits hat W. Griesinger richtig erkannt, dass derzeit die Klassifikation der psychischen Krankheiten nur auf der Grundlage der psychischen Anomalie und somit nur psychologisch möglich ist.* * Wilhem Griesinger Die Pathologie und Therapie der Psychischen Krankheiten, Berlin 1887, Seite 211, 6. Aufl., Nachdruck ISBN 90 75541 30 X
Einleitung - Entwicklung der psychiatrischen Diagnostik *Emil Kraepelin (1856-1926) hat die psychiatrische Klassifikation wesentlich weiter entwickelt. Emil Kraepelin hat neue Einheiten, etwa die Einheit Dementia praecox von Augustin Benedict Morel, in die psychiatrische Klassifikation eingeführt und gegenüber dem manisch depressiven Irresein beschrieben und damit definiert.* *Emil Kraepelin, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, Sechste Auflage (1899), Nachdruck, ISBN 90 75341 16 4
Psychiatrische Diagnostik - die Sichtweise von Emil Kraepelin, 1. Teil *Emil Kraepelin (1856-1926) war davon überzeugt, dass die Psychiatrie auf der Grundlage des naturwissenschaftlichen Verständnisses sich zu einem kräftigen Zweig der medicinischen Wissenschaft fortentwickelt.* *Emil Kraepelin, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, Sechste Auflage (1899), I. Band, Seite 1-2, Nachdruck, ISBN 90 75341 16 4
Psychiatrische Diagnostik - die Sichtweise von Emil Kraepelin, 2. Teil *und es hat Emil Kraepelin (1856-1926) geglaubt, dass man bei gewissen psychischen Krankheiten insbesondere bei der Einheit Dementia praecox gesetzmäßige Beziehungen zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungsformen finden wird.* Daher war Emil Kraepelin davon überzeugt, dass man in Zukunft auf der Grundlage dieser Gesetzmäßigkeiten gewisse psychische Krankheiten allgemein gültig bestimmen kann. Diese Sichtweise hat sich durch das Lehrbuch von Emil Kraepelin weltweit verbreitet und wurde zur führenden Sichtweise. Auf dieser Grundlage entstand die Biologische Psychiatrie, die nach biologischen Markern sucht, die gesetzmäßig bei gewissen psychischen Störungen vorkommen, damit auf dieser Grundlage diese psychische Störung (z.b. die Einheit Schizophrenie) allgemein gültig bestimmt werden kann. *Emil Kraepelin, Psychiatrie, Ein Lehrbuch für Studierende und Aerzte, 6. Aufl. (1899), I. Band,Seite 6-7, Nachdruck, ISBN 90 75341 16 4
Psychiatrische Diagnostik die Sichtweise von Karl Jaspers, 1. Teil *Karl Jaspers (1883-1969) hat aus einer anderen Sicht, nämlich auf Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant, erkannt, dass psychische Erscheinungen nur auf der Grundlage von Ideen erkannt und bestimmt werden können. Karl Jaspers schreibt in seinem Buch Allgemeine Psychopathologie : Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm mit Kants Worten durch das Schema der Idee.* *Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, Seite 468, ISBN 3-540-03340-8
Psychiatrische Diagnostik Erläuterung der Sichtweise von Karl Jaspers auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant Ganze als Idee (= diagnostische Einheit) systematische Einheit (= Einheit der Idee) (= diagnostische Einheit) = Begriff der Idee Schema der Idee Schema der Idee (= Kategorie) Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm mit Kants Worten durch das Schema der Idee. (K. Jaspers) Zitat aus der Kritik der reinen Vernunft von Immanuel Kant: Es ist ein großer Unterschied, ob etwas meiner Vernunft, als ein Gegenstand schlechthin, oder nur als ein Gegenstand in der Idee gegeben wird. In dem ersteren Falle gehen meine Begriffe dahin, den Gegenstand zu bestimmen; im zweiten ist es wirklich nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand auch nicht einmal hypothetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstände, vermittelst der Beziehung auf diese Idee, nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen. * *Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Transzendentale Dialektik, Von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft, Seite 583, Suhrkamp, Taschenbuchausgabe, herausgegeben von Wilhelm Weischedel, 1. Auflage 1974, ISBN 3-538-27653-7
Psychiatrische Diagnostik Erläuterung der Sichtweise von Karl Jaspers auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant Ganze als Idee systematische Einheit (= diagnostische Einheit) (= diagnostische Einheit) Begriff wird durch geistige Synthese erlangt Beispiel: psychiatrische Kategorie ist das Schema der Idee Karl Jaspers schreibt: Wenn ich das Ganze als Idee auch nicht geradezu erkennen kann, so nähere ich mich ihm mit Kants Worten durch das Schema der Idee Beispiel: depressive Störung (Depression) wird festgestellt wenn die psychopathologischen Phänomene: gedrückte Stimmung, Antriebsstörung, Lustlosigkeit, Konzentrationsstörung usf. das Schema der Idee - und damit die psychiatrische Kategorie - hinreichend erfüllen.
Psychiatrische Diagnostik Erläuterung der Sichtweise von Karl Jaspers auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant *In der Psychiatrie können die Einheiten nur (auf der Ebene der Ideen) in Bezug auf (definierte) Typen bestimmt werden wie dies Karl Jaspers aufgezeigt hat.* (z.b. Depression, Schizophrenie, Demenz usf.) Zugehörigkeit zu Typus einleuchtend evident (= subjektiv evident) Erkenntnisobjekt kann nicht auf ein Objekt zurückgeführt werden Zugehörigkeit zu Gattung augenscheinlich evident (= objektiv evident) Erkenntnisobjekt kann auf ein Objekt zurückgeführt werden In der Medizin können im Gegensatz dazu viele Einheiten auf der Ebene der Objekte in Bezug auf Gattungen allgemein gültig bestimmt werden. (z.b. Herzinfarkt, Pneumonie, Anämie, Leukämie usf. das heißt diese Einheiten (Erkenntnisobjekte) können objektiviert werden.) Man gelangt zwar in der Medizin in der Regel vorerst auch zu einer Idee (z.b. Verdacht auf Herzinfarkt), diese Idee kann man jedoch objektivieren. * Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 9. unveränderte Auflage, Springer-Verlag Berlin-Heidelberg-New York 1973, Seite 468 469, ISBN 3-540-03340-8
Psychiatrische Diagnostik Erläuterung der Sichtweise von Karl Jaspers auf der Grundlage der Philosophie von Immanuel Kant *Tatsächlich erkennen wir in der Psychiatrie (Psychologie) auf der Grundlage der definierten Schemata der Ideen nur systematische Einheiten (auf der Ebene der Ideen) in Bezug auf definierte Typen und keine faktischen Einheiten. psychiatrischen Kategorien der psychiatrischen ICD Klassifikation und der DSM Klassifikation sind die Schemata der psychiatrisch-diagnostischen Ideen. das Ganze als Idee (= Diagnose) (= klinisches Erscheinungsbild) Schema (=Kategorie mit den Kriterien) (= Symptomenkomplex)
Ergebnis psychiatrische Diagnostik Vergleich der Sichtweisen von Emil Kraepelin und Karl Jaspers, 1. Teil *Es gibt die Relation zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungen Aber wegen des großen Unterschieds zwischen den Erkenntnisobjekten (=> Kant Zitat) kann man die Relation nicht bestimmen => Es gibt keine gesetzmäßigen Beziehungen und daher keine Gesetzmäßigkeiten zwischen den beiden. (Psycho-biologisch betrachtet kann man sagen: wegen des individuellen mentalen- und des individuellen neuronalen Prozesses kann man keine Gesetzmäßigkeiten finden.) In dieser Hinsicht hat Emil Kraepelin sich getäuscht. Sondern, man kann wie Karl Jaspers geschrieben hat - sich dem Ganzen als Idee (der diagnostischen Einheit und damit der psychiatrischen Diagnose) durch das Schema der Idee (auf der Ebene der Ideen) nur nähern.
Ergebnis - psychiatrische Diagnostik Vergleich der Sichtweisen von Emil Kraepelin und Karl Jaspers, 2. Teil Durch biologische Befunde bzw. durch physische Befunde kann man gewisse psychische Störungen erklären, aber diagnostisch bestimmen oder im Sinn der Integrativen Diagnostik der Biologischen Psychiatrie mitbestimmen kann man sie dadurch nicht. Dies ist wegen des großen Unterschieds der Erkenntnisobjekte grundsätzlich nicht möglich, weil eine systematische Einheit eine ganz andere Einheit ist, als eine physisch (körperlich) bestimmbare Einheit, die auf ein Objekt zurückgeführt und auf dieser Grundlage allgemein gültig bestimmt werden kann. (=> Kant Zitat) Durch biologische Befunde bzw. durch physische Befunde kann daher die Validität und die Reliabilität in der psychiatrischen Diagnostik und somit auch der Wissenschaft nicht wirklich erhöht werden. Eine systematische Einheit gibt es nur auf der Ebene der Ideen als abgegrenzte Einheit. Auf der Ebene der Objekte bzw. auf der Ebene der körperlichen Funktion, etwa auf der Ebene der neuronalen Funktion (z.b. fmrt), kann man keine abgegrenzte Einheit (z.b. für die Einheit Schizophrenie ) finden, die mit der mental definierten Einheit korrespondiert. Daher schreibt Karl Jaspers treffend, dass es sich bei diesen Schemata um methodische Hilfsmittel handelt, die grenzenlos korrigierbar und verwandelbar sind.*
Ergebnis psychiatrische Diagnostik Zusammenfassung - Vergleich der Sichtweisen von Emil Kraepelin und Karl Jaspers Karl Jaspers hat die Grundlage der psychiatrischen Diagnostik erkannt. In der Psychiatrie können keine gesetzmäßigen Beziehungen zwischen den körperlichen Vorgängen und den psychischen Erscheinungsformen gefunden werden, wie Emil Kraepelin dies geglaubt hat. Daher kann die psychiatrische Wissenschaft kein allgemein gültiges Wissen hervorbringen.* Und daher muss man sich in der Psychiatrie damit abfinden, dass man auf der Grundlage von - aus der Erfahrung abgeleiteten, definierten Ideen nur beschränktes Wissen erlangt. Es sollte daher das Wissen in der Psychiatrie (und in der Psychologie) das man auf der Grundlage von psychischen Erscheinungen erlangt in der Schwebe gehalten werden - wie dies Karl Jaspers formuliert hat.** * O. Mäser, Fundamenta Psychiatrica, 1994; 8: 65-73, Seite 71, F. K. Schattauer Verlagsgesellschaft mbh (1994) **Karl Jaspers: Psychologie der Weltanschauungen, 6. Auflage, Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York, 1971, Seite 16, ISBN 3-540-05539-8, ISBN 0-387-05539-8
Vielen Dank für ihr Interesse! Weitere Informationen zu dieser Thematik auf www.psychiater-psychothrapie.at Dr. med. Othmar Mäser FA für Psychiatrie und Neurologie Feldkirch, Österreich info@psychiater-psychotherapie.at