Teil I: Soll der Mensch im Staat leben? Antwort B: Nein, der Staat widerspricht seinem Wesen, tut ihm Zwang an

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Teil I: Soll der Mensch im Staat leben? Antwort B: Nein, der Staat widerspricht seinem Wesen, tut ihm Zwang an Anarchismus: Die Theorie, dass es den Staat, d.h. eine auf Autoritäten oder Gesetze gestützte Zwangsherrschaft in einem Gebiet, nicht geben sollte. Unter dem Terminus A. gibt es diese Theorie erst seit dem 19. Jh. Der Sache nach kommt sie schon in der Antike, vor allem im Kynismus vor. Dessen Ideal ist der autarke Einzelne, mit minimalen Bedürfnissen, die ohne soziale Kooperation zu befriedigen sind (Diogenes). Der moderne Anarchismus beruht begrifflich auf einer Umwertung des traditionell negativ bewerteten Begriffs Anarchie als Unordnung, Chaos, Willkür entweder der Herrschenden oder der Menschen untereinander. (Begriffsgeschichte im Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe ). Die erste positive Ausarbeitung des Anarchismus findet sich bei William Godwin (1793), der erste Anarchist war der Frühsozialist Proudhon (1809-1865). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 1

Arten des Anarchismus: a) individualistischer Anarchismus, für den das Freiheitsrecht der Individuen durch jede Bindung, vor allem durch Zwangsgesetze verletzt wird (Max Stirner 1806-1856) b) sozialer Anarchismus, für den kleine menschliche Gemeinschaften (Familie, Dorf, Kleinbetrieb, Arbeiterzellen) ohne starre Regeln und Zwang harmonisch kooperieren (Tolstoi, Bakunin, Anarchosyndikalisten) c) kommunistischer Anarchismus, für den auch gesellschaftliche Großorganisationen ohne Eigentum, Privatrecht, Gesetze und Staat möglich sind. b) und c) können ineinander übergehen, wenn kleine Kommunen die Basis der Gesamtorganisation sind (Kropotkin 1842-1921). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 2

In seinem Verhältnis zu den bestehenden staatlichen Herrschaften kann man unterscheiden zwischen konservativ-romantischen und sozialistischrevolutionären Vorstellungen eins Zustandes freiwilliger, nicht gesetzlich erzwungener Kooperation (analog zum Naturzustand Lockes oder Aristoteles Gemeinschaftsform des Dorfes ). (1) Konservativ: Gegen die rational geplante, auf allgemeinen Prinzipien beruhende Herrschaft des Flächenstaates und seiner Bürokratie. Gegen den Zentralismus der Staatsgewalt als Resultat von Aufklärung und französischer Revolution (Burke, Godwin, Stirner, teilweise Nietzsche). (2) Sozialistisch-revolutionär: Gegen die Verknüpfung von Staat und Privateigentum bzw. industriellem Kapitalismus (Bakunin, Kropotkin). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 3

Schließlich kann man Anarchismus als Ziel und als Mittel unterscheiden. I. Als Ziel: a) gemäßigt: Abschaffung des Staates nach einem Zustand der automatisierten Überflussgesellschaft (Variante der Marxschen Lehre). Spontane Selbstorganisation zur Kooperation, soweit sie nach gleicher Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums noch notwendig ist. b) radikal: Abschaffung jeglicher Herrschaft von Menschen über Menschen ( government, business, industry, commerce, religion, education, the family Oxford Companion to Philosophy, 30), Egalitarismus, Gemeineigentum, Atheismus als Abschaffung göttlicher Herrschaft. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 4

II. Als Mittel: Schwächung der Herrschaft und Herstellung anarchischer Zustände durch individuelle Anschläge (Terror) gegen die herrschenden Systeme (Bakunin, Anarchosyndikalismus). Freilegung des schöpferischen Chaos spontaner Kooperation. Deren institutionelle Verfestigung muss immer wieder revolutionär aufgebrochen werden (Theorie der permanenten Revolution Sartre, Teile des Maoismus). Mittel und Ziel werden identisch. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 5

Historisch entwickelt sich zwischen dem pro-staatlichen Sozialismus und Kommunismus einerseits und dem anarchischen Kommunismus und Syndikalismus andererseits ein diametraler Gegensatz bis zum Bürgerkrieg (z.b. innerhalb der Linken des spanischen Bürgerkrieges 1936-1939). Teile des Anarchosyndikalismus (Sorel) münden in den faschistischen Terror, der den Staat der Aufklärung durch die rassisch definierte Volksgemeinschaft ersetzen will. Nach dem Sieg über die anarchistischen Strömungen wird sowohl im Kommunismus wie im Faschismus der Superstaat etabliert. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 6

Eine moderne Form des wirtschaftsliberalen Anarchismus ist Robert Nozick: Anarchie, Staat, Utopie (1976). Hier wird die Legitimität des Staates auf die eines Versicherungsunternehmens zur Vermeidung von Gewalt reduziert (minimale Steuern als Versicherungsbeiträge). Das stimmt mit Forderungen des Neoliberalismus (Chicago Schule) überein, allen Einfluss des Staates auf die Marktbeziehungen zurückzudrängen. Durch die Wirkung der Globalisierung ist diese Forderung teilweise real geworden: Schwächung der Staaten durch den internationalen Standortwettbewerb (Abbau der Steuern bzw. staatlichen Einnahmen). Auch das Gewaltmonopol der Staaten erodiert in kulturell und sozial heterogenen Staaten. Das führt aber andererseits auch zu einem Anwachsen staatlicher Gewalt durch die Reaktion auf privat organisierte Gegengewalt (Terrorismus). Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 7

Prinzipielle Probleme des Anarchismus: 1. Zu optimistische Annahmen bezüglich des Humeschen Dreiecks : Statt Knappheit Überfluss, statt mäßiger Sympathie Brüderlichkeit, statt Angewiesenheit auf Kooperation individuelle oder Gruppen-Autarkie. 2. Ersetzung von Gesetzeszwang durch informelle soziale Kontrolle oder Erziehung gefährdet die Autonomie (Dorfmoral, Erziehungsdiktatur). 3. Unterschätzung des Sicherheitsbedürfnisses und der Gewaltbereitschaft ohne die Entlastung durch Institutionen und überlegene legale Gewalt. Verunsicherung durch permanente Verflüssigung führt zum autoritären Staat. 4. Gleichsetzung des Staates mit einem Staatsapparat, der nicht dem Gemeinwohl, sondern den Interessen der Regierenden, des Kapitals, der Eigentümer dient. Prof. Dr. Ludwig Siep - Einführung in die politische Philosophie 8