Lew S. Wygotski ( )

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Lew S. Wygotski (1896-1934) 1. Biographie 2. Kurzer Abriss zur Theorie 2.1 Wichtige Begriffe 2.2 Methodologie 3. Bezug zur Syndromanalyse / Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.1 Bezug zur Syndromanalyse 3.2 Bezug zu anderen Personen 3.2.1 Lurija und Leontjew 3.2.2 Lewin 3.2.3 Piaget Literatur 1

1. Biographie 1896 Geboren in Orshe (im heutigen Weißrussland) als Kind einer gebildeten jüdischen Familie 1913/14 Beginn des Studiums (Jura). Seine Interessen lagen auf dem Gebiet der Literatur und Philosophie. Als Jude durfte Wygotski im zaristischen Russland kein Lehrer werden. Als Arzt oder Jurist durfte er außerhalb der für Juden bestimmten Gebiete wohnen. Das war entscheidend für seine Berufswahl. 1917 Abschluss des Jurastudiums in Moskau 1917 Oktoberrevolution 1919 Lehrtätigkeit in Gomel an der Berufsschule 1924 Vermittelt durch A. Lurija erhält Wygotski eine Stelle am Psychologischen Institut in Moskau. ab 1924 Gemeinsame Forschung mit Lurija und Leontjew (Troika). Wygotski zeigt großes Interesse an Kindern mit geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen (Blindheit, Aphasien, schwere geistige Beeinträchtigung) 1925 Dissertation und damit Lehrberechtigung an Hochschulen und Teilnahme an einer internationalen Konferenz zur Bildung gehörloser Kinder in London 1925-26 Tuberkuloseerkrankung 1930er Anfang der 1930er Jahre, in der Stalin-Ära, galt Wygotski als bourgeoiser Psychologe, u.a. weil er sich auf westliche Autoren wie Piaget bezog ab 1931 Vorlesungs- und Forschungstätigkeit 12.6.1934 Stirbt Wygotski an Tuberkulose 1934 erscheint sein Werk Denken und Sprechen 1936-56 Verbot seiner Werke in der Sowjetunion 1962 Englische Übersetzung von Denken und Sprechen 1987 Englische Veröffentlichung der sechs Bände Collected Words of L. S. Vygotsky 2

2. Kurzer Abriss zur Theorie Wygotski entwickelte zusammen mit Lurija und Leontjew die Grundprinzipen der kulturhistorischen Schule. Dabei übertrug er die Vorstellungen von Marx und Engels auf die Psychologie. Von zentraler Bedeutung war die Frage nach der Herausbildung der höheren psychischen Funktionen. Die Gemeinschaft (oder wie Wygotski sagt: Das Kollektiv) der Erwachsenen ist für die kognitive Entwicklung und die Teilhabe am gesellschaftlichen Wissen der Kinder und anderer Menschen zuständig. Das dialektische Prinzip der Veränderung bedeutet für die kognitiven Strukturen, dass die bisher erlernten Schemata ständig auf neue Erfahrungen und Anforderungen treffen, die ihnen widersprechen. Dabei kommt es zu immer neuen Konflikten zwischen den schon vorhandenen Strukturen und den sich neu entwickelnden Konzepten, oder zwischen dem Kind und seiner Umwelt. Die Synthese dieser widerstreitenden und widersprüchlichen Elemente ist für Wygotski Entwicklung. (Miller 1993: 342f) Nach Kölbl formulierte Wygotski drei Gesetzmäßigkeiten der kulturhistorischen Schule: 1. Das Gesetz des Übergangs von den unmittelbaren, angeborenen, natürlichen Verhaltensweisen zu den vermittelten, künstlichen, im Prozess der kulturellen Entwicklung entstandenen psychischen Funktionen (Wygotski 1987a: 625, zitiert nach Kölbl: 35) 2. dass die Beziehungen zwischen den höheren psychischen Funktionen einmal reale Beziehungen zwischen Menschen waren. Die kollektiven, sozialen Verhaltensweisen werden im Entwicklungsprozess zu Verfahren für die individuelle Anpassung, zu Verhaltens- und Denkformen der Persönlichkeit (Wygotski 1987a: 626, zitiert nach Kölbl: 35) 3. das Gesetz des Wanders der Funktion von außen nach innen (Wygotski 1987a: 630, zitiert nach Kölbl: 35) 2.1 Wichtige Begriffe Wichtige Grundbegriffe Wygotskis sind: Das aktive Kind, das Intramentale, die Zone der nächsten Entwicklung und die psychischen Werkzeuge. Diese Begriffe sollen im folgenden kurz erläutert werden. Wygotski geht davon aus, dass das Kind immer in einen Kontext eingebunden ist. Der soziale Kontext, in dem sich ein Kind bewegt, besteht aus vielen 3

unterschiedlichen Feldern, die sich bedingen, ineinander greifen, sich überschneiden und eingebunden sind in ein kulturelles Überzeugungssystem. Die Umwelteinflüsse spielen eine wichtige Rolle bei der Entwicklung des Kindes. Das Kind und sein Gegenüber (eine andere Person) sind miteinander verbunden durch Aktivität und ihren sozialen Kontext. Das aktive Kind und die andere Person verschmelzen mit dem Kontext in ihrer Aktivität. Wygotski sagt, dass der Weg vom Objekt zum Kind und vom Kind zum Objekt verläuft (Wygotski 1978: 30). Der Kontext formt das Kind, und wird vom Kind geformt. Wygotski betrachtet das aktive Kind und seine Umwelt als eine Prozesseinheit. Das aktive Kind bezieht seine Umwelt mit ein und entwickelt sich über sie und die eigene Person hinaus. Das kulturelle Überzeugungssystem beeinflusst in welchem Maße und worüber Kinder nachdenken, welche Fähigkeiten und Fertigkeiten sie erwerben wollen und sollen, und wann sie diese beherrschen sollten. Das wirkt auf das Kind ein durch die Interaktion mit seiner unmittelbaren Umgebung (Eltern, Peergroup). Ein Kind ist in Interaktion mit einem Erwachsenen oder einem älteren Kind. Es findet ein geistiger Austausch (intermentale Ebene) zwischen ihnen statt und wird internalisiert (verinnerlicht). Der verinnerlichte Prozess integriert sich in die intramentale (innerseelische) Ebene des Kindes. Was extern ist, wird intern. So betrachtet ist Denken immer sozial und reflektiert die Kultur, in der eine Dyade operiert (Miller 1993: S. 352). Wenn ein Kind sich durch die Zone der proximalen Entwicklung bewegt, so wird intermentale Interaktion mit dem Partner zur intramentalen Problemlösestrategie, indem das Kind mit sich selbst interagiert und lernt, sich selbst solche Fragen zu stellen, die ihm bisher vom Partner gestellt wurden. So wie zwei Menschen miteinander kommunizieren, so kommuniziert ein Kind beim Denken mit sich selbst. Dabei ist das Intramentale keine exakte Kopie des Intermentalen. So ist das innere Sprechen eine verkürzte, persönliche Form des äußeren Sprechens. Das Intermentale konstruiert das Intramentale (Miller 1993: S. 352). Die These, dass die sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen das Bewusstsein bestimmen, stand im Widerspruch zu der Annahme westlicher Psychologen, die von der Kognition innerhalb einer Person ausgingen und Kontextveränderungen nicht beachteten (Miller 1993: S. 353). Die Zone der nächsten (proximalen) Entwicklung beschreibt Wygotski als die Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes und der nächst höheren Ebene. Das aktuelle Entwicklungsniveau drückt sich in der Fähigkeit eines Kindes aus, selbstständig Probleme zu lösen. Die nächst höhere Ebene ist das 4

Potential, das ein Kind entwickelt, wenn es unter Anleitung eines Erwachsenen oder fähigeren Kindes ein Problem löst. Wygotski geht von einem dynamischen Entwicklungsbegriff aus. Er sucht nach den Fähigkeiten eines Kindes, nach seinen Potentialen. Relevant ist das Verhalten eines Kindes im Problemlösungsprozess nicht die richtige Antwort, wie z.b. im Intelligenztest von Binet. Binet misst den aktuellen Stand eines Kindes, Wygotski legt seinen Hauptaugenmerk auf das Potential eines Kindes (auch unter Anleitung) Probleme zu lösen (dynamische Tests). Wenn ein Kind gemeinsam mit einer kompetenteren Person versucht eine Lösung für einen Konflikt zu finden, und sich dabei durch aktive Beteiligung über seinen aktuellen Entwicklungsstand hinaus bewegt, handelt es sich um die Zone der nächsten Entwicklung. Wygotski entwickelte das Konzept der psychischen Werkzeuge (Zahlensysteme, Schemata, Sprache). Es besagt, dass die Interaktion von Kindern in einem sozialen Umfeld (Kontext) und die dabei verwendeten Werkzeuge die Kinder formen und prägen. Die psychischen Werkzeuge verändern die innere Struktur des Menschen: Der Umgang mit ihnen schafft Denken. Der Mensch erschafft sich selbst durch seine Handlungen und diese Handlungen werden von außen durch Werkzeuge bestimmt. Auf die anfangs erwähnten höheren geistigen Fähigkeiten haben die psychologischen Werkzeuge einen großen Einfluss. Sie verändern die elementaren geistigen Funktionen, die durch externe Reize gesteuert werden, zu höheren geistigen Funktionen wie dem logischen abstrakten Denken. Die Werkzeuge prägen und formen die kognitiven Fähigkeiten. So erfordert der Einsatz eines Computers andere Fähigkeiten, als das Schreiben mit einer Schreibmaschine oder mit der Hand. Es verändert die Art und Weise zu denken, da es z.b. viel einfacher ist mit dem Computer Worte und Sätze zu korrigieren. Dafür benötigt der Mensch ein größeres technisches Verständnis und andere motorische Fähigkeiten als beim Schreiben auf Papier. Für Wygotski ist die Sprache das wichtigste psychologische Werkzeug (Miller 1993: 356). Die Sprache ermöglicht die Vermittlung von Erfahrungen. Sie macht die Zukunft für uns planbar und die Vergangenheit zu etwas, aus dem wir lernen können. In den unterschiedlichen Kontexten und Kulturen werden verschiedene Werkzeuge entwickelt und wertgeschätzt, was wiederum zu unterschiedlichen Wertvorstellungen und Normen führt. 2.2 Methodologie Wie oben schon erwähnt sprach sich Wygotski für einen dynamischen Entwicklungsbegriff aus. In seiner Theorie ist das potentielle Entwicklungsniveau 5

eines Kindes entscheidender als seine momentanen Fähigkeiten. So können zwei Kinder in einem Intelligenztest einen ähnlichen Intelligenzquotienten zugewiesen bekommen, sich in ihren Leistungen, die sie unter Anleitung eines fähigen Partners erbringen, aber sehr unterscheiden. Wygotski versuchte den Augenblick einer Entwicklung zu erfassen, in dem er die Veränderung beobachtete. Er gab einen Hinweisreiz an das Kind und verfolgte, wie das Kind den Reiz aufnahm und der Lösung näher kam. Oder er baute z.b. Hindernisse ein (er entfernte Materialien, die das Kind eigentlich zur Lösung des Problems brauchte) und beobachtete dann wie die Kinder damit fertig wurden. Er stellte verschiedene Werkzeuge zur Lösung der Aufgabe zur Verfügung und untersuchte, welche Altersgruppe welche Werkzeuge wählte und wie sie verwendet wurden. Er beobachtete die Veränderung des Verhaltens der Kinder direkt in der Situation oder innerhalb mehrerer Sitzungen. Er bediente sich auch der Methode der doppelten Stimulation. Er stellte eine Aufgabe, wobei das Kind gewisse psychologische Werkzeuge als Hilfestellung erhielt. Es waren immer ein symbolisches Stimulus und ein nicht symbolischer Stimulus vorhanden. Auf den nicht symbolischen Stimulus bezog sich die Aufgabenstellung direkt, der zweite Stimulus diente als Hilfestellung. Ein Beispiel sind die heute als Wygotski Blöcke bekannten Bauklötze. Die unterschiedlich farbigen und in ihrer Größe verschiedenen Klötze haben auf der einen Seite so genannte nonsense-wörter. Kinder sollen Kategorie finden um die Klötze in Gruppen zu ordnen. Die kurzen, kleinen Blöcke tragen die Aufschrift bik, die hohen, kleinen die Aufschrift mur und die hohen großen die Aufschrift lag. Die Kinder versuchen die Klötze nach Größe und Farbe zu ordnen. Der Versuchsleiter nimmt die Korrektur vor und gibt ihnen einen Hinweis auf die nonsense-wörter. Es wird die Effizienz des Kindes bei der Problemlösung untersucht (Miller 1993: S. 363). Ein anderes Verfahren arbeitet mit abgestuften Hinweisen. Das Kinder beschreiben einen Kirschbaum. Die Versuchsleiterin zählt die aufgezählten Merkmale und gibt dem Kind Paare mit Bildern, anhand dessen es nun neue Merkmale erlernen soll. Falls das Kind das neue Merkmale nicht erkennt, erhält es zusätzliche Hinweise. Danach wird der erste Test wiederholt. (Miller 1993: S. 359). Leider ist Wygotski sehr früh gestorben, so dass er nur kurze Zeit forschen und wissenschaftlich arbeiten konnte. Einige Begriffe (Zone der nächsten Entwicklung) bleiben sehr offen. Auch hinterlässt Wygotski kein standardisiertes Verfahren zur Beobachtung von Entwicklung. Sein dynamischer Entwicklungsbegriff und die Einbeziehung des Kontextes in seinen Untersuchungen sind als die Stärken seiner Theorie zu nennen. Wygotski stellt die Unterschiedlichkeit von Entwicklung dar und 6

betont, dass nur weil ein Mensch eine bestimmte Fähigkeit nicht zeigen würde, man daraus nicht automatisch schließen könnte, dass er sie auch nicht besäße. 3. Bezug zur Syndromanalyse / Vergleiche bzw. Bezüge zu anderen Personen 3.1 Bezug zur Syndromanalyse Wygotski entwickelte den Begriff der Lebenssituation. Die soziale Lebenssituation war geprägt durch den Erhalt und die Entwicklung von Subjektivität. Daraus ergab sich die Schlussfolgerung, dass jedes Verhalten vernünftig und sinnvoll ist. Eine Diagnose und Analyse der sozialen Lebenssituation ist nur als Rekonstruktion des Innenbeobachterstandpunktes möglich. Es kann für eine Person sinnvoll sein eine bestimmte Fähigkeit nicht zu zeigen, da sie die Notwendigkeit nicht sieht (z.b. Verknüpfung von anderen Zusammenhängen durch andere Lebenssituationen), was aber nichts darüber aussagt, ob die Person über diese Fähigkeit verfügt oder nicht. Der Begriff Syndromanalyse geht auf Lurija zurück, der sich stark auf die Forschung von Wygotski zur Lebenssituation und dem Innenbeobachterstandpunkt bezog. 3.2 Bezug zu anderen Personen 3.2.1 Leontjew und Lurija Leontjew und Lurija bildeten zusammen mit Wygotski die Troika am Psychologischen Institut von Moskau. Sie entwickelten die Grundprinzipien einer neuen psychologischen Schule, die den Kontext/Umwelt mit in die Analyse einbezog. Sie arbeiteten eng zusammen und Lurija führte die Forschungen von Wygotski z.b. im Bereich des egozentrischen Sprechen bei Kindern fort. Auch bezog er sich auf die Entwicklung von Kindern unter besonderen Bedingungen (der Isolation) und das Zusammenspiel auf die funktionellen Hirnsysteme. Leontjew und Wygotski arbeiteten gemeinsam in der Zwillingsforschung und führten Feldexperimente durch (Untersuchung von Bauern). Leontjew bezog sich eng auf den Begriff der Sprache als Werkzeug von Wygotski. Er sah Sprache als Spiegel des Bewusstseins. 3.2.2 Lewin Im Rahmen der Entwicklung der Kulturhistorischen Schule befasste sich Wygotski auch mit der Theorie von Kurt Lewin. Durch seinen frühen Tod und die Einteilung der Welt in West und Ost kaum es leider zu keinem direkten Kontakt. 7

3.2.2 Piaget Wygotski hat sich in seinem Buch Denken und Sprechen u.a. auf Piaget bezogen und sich von ihm abgegrenzt. Da beide Entwicklungstheoretiker im Zusammenhang mit der Syndromanalyse eine Rolle spielen (Wygotski als Mitbegründer der Kulturhistorischen Schule/Zusammenarbeit mit Lurjia und Piaget wird von Heinz von Foerster in seinem Buch Wissen und Gewissen in einem Aufsatz behandelt), werde ich Wygotski und Piaget kurz gegenüberstellen und ihre unterschiedlichen Positionen benennen. Wygotski sieht die Entwicklung des kindlichen Denkens nicht wie Piaget im Verlauf vom Individuellen zum Sozialisierten, sondern vom Sozialen zum Individuellen (Wygotski 1986: 44). Für Wygotski ist die ursprüngliche Funktion von Sprache, eine rein soziale. Sie dient der Verständigung und Einwirkung der Menschen auf ihre Umgebung (das gilt für Erwachsene wie für Kinder). Piaget begreift die Entwicklung von Sprache beim Kind als von einem autistischen Zustand über das egozentrische Sprechen zu einer sozialisierten Sprache. Die Entwicklung eines Kindes und sein Denken ist für Piaget eine langsam ansteigende Sozialisierung. Das Soziale steht am Ende dieser Entwicklung, nicht wie bei Wygotski am Anfang. Das Kind interagiert bei Wygotski in/mit seiner sozialen Umwelt, während Piaget den Kontext eines Kindes wissenschaftlich nicht berücksichtig. Piaget geht von einem Stufenmodell der Entwicklung aus, bei dem kein Schritt ausgelassen bzw. übersprungen werden kann. Das bedeutet für Kinder mit Beeinträchtigen, dass sie auf einer Stufe kleben bleiben. Wygotski vertritt die Auffassung, dass Beeinträchtigungen die Wahrnehmung der Welt verändern und damit auch die kognitiven Strukturen. Er verfolgt keine festgelegte Stadientheorie wie Piaget, in der die Entwicklung der Tätigkeit auf höherem Niveau abgesichert und ausgebaut sein muss, bevor die nächst höhere Stufe erreicht werden kann. Sondern bei seiner Zone der nächsten Entwicklung wird die Entwicklung eines Kindes nicht normativ vorgeschrieben, denn die Förderung (Entwicklung durch gelenkte Partizipation) steht im Mittelpunkt. 8

Literatur Huck, L.; Wrege, J. (2002): Die Auseinandersetzung zwischen Jean Piaget und Lew S. Wygotski. Aktuelle Relevanz einer historischen Debatte. In: Forum Kritische Psychologie 45. Evolutionäre Psychologie, Gentechnologie und Geschlechterverhältnisse - Soziale Therapie und Normalität - Wygotski-Piaget- Kontroverse. Berlin: Argument Verlag. Katzenbach, D. (1999): Kognition, Angstregulierung und die Entwicklung der Abwehrmechanismen. In: Datler, W. u.a.(hg): Jahrbuch für Psychologische Pädagogik 10. Die frühe Kindheit Psychoanalytisch-pädagogische Überlegungen zu den Entwicklungsprozessen der ersten Lebensjahre. Gießen: Psychosozial- Verlag. Kölbl, C. (2006): Die Psychologie der kulturhistorischen Schule. Vygotskij, Lurija, Leont ev. Göttingen: Vandenhoeck + Ruprecht. Miller, P. (1993): Theorien der Entwicklungspsychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag. Van der Veer, R. (1993): Lev Vygotsky. In: Lück, H.; Miller, R. (HG): Illustrierte Geschichte der Psychologie. München: Quintessenz. Wygotski, L.S. (1986): Denken und Sprechen. Frankfurt Main: Fischer Taschenbuch Verlag. Wygotski, L.S. 1975: Zur Psychologie und Pädagogik der kindlichen Defektivität. In: Die Sonderschule, Jg. 1975, Berlin (Volk und Wissen), S. 65-72. http://www.erzwiss.unihamburg.de/personal/hoffmann/texte/wygotski/defektologie.html Zimpel, A. 1994: Entwicklung und Diagnostik. Hamburger Einführung, Reihe: Lernen und Entwicklung. Münster Hamburg Wygotski Piaget: Vergleich in Tabellenform. http://www.psycho.uniosnabrueck.de/~fachschaft/skripte/wyg_piag.doc 9