Fokus Volkswirtschaft

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Transkript:

Fokus Volkswirtschaft ISSN 2194-9433 Nr. 1, 26. November 1 Was bestimmt Umverteilung? Wahrnehmung und Bewertung von Ungleichheit Autor: Jan-Felix Schneider, research@kfw.de In Sachen Ungleichheit weichen Wahrnehmung und Wirklichkeit oft voneinander ab. Ähnlich schwierig ist die Einschätzung der eigenen Einkommensposition. Dieses Auseinanderfallen zwischen Wahrnehmung und Realität bietet eine Lösung für ein Problem der klassischen Theorie über Umverteilung: Nach dieser führt eine stärkere gemessene Einkommensungleichheit zu einer höheren Nachfrage nach Umverteilung. Empirisch ist der Zusammenhang jedoch nur schwer nachzuweisen. Wird allerdings die Wahrnehmung von Ungleichheit herangezogen, so zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang zur Umverteilung. Dabei spielen weitere Faktoren wie das Werteregime einer Gesellschaft oder die wahrgenommene Fairness der Einkommensverteilung ebenfalls eine Rolle. Die Sozialausgaben in Deutschland belaufen sich auf 2 % des BIP. In den USA ist dieser Anteil mit rd. 19 % niedriger, obwohl hier die Ungleichheit im Einkommen bevor der Staat durch Steuern und Transfers korrigierend eingreift deutlich höher ist. Entsprechend bleibt die stärkere Ungleichheit auch nach der Umverteilung von Einkommen durch den Staat bestehen. Die Umverteilung muss zumindest in einer Demokratie von der Gesellschaft gewünscht sein: Denn auf der einen Seite wird Personen Einkommen entzogen, während andere Personen Transfers erhalten. Obwohl Ungleichheit generell unerwünscht ist, muss offenbar eine höhere Ungleichheit nicht zwingend mit stärkerer Umverteilung einhergehen. Dies liegt auch daran, dass für die von der Gesellschaft gewünschte Umverteilung die wahrgenommene Stärke und die Bewertung von Ungleichheit eine entscheidende Rolle spielt. Die klassische ökonomische Theorie liefert keine befriedigende Erklärung Die klassische Theorie postuliert in Demokratien einen eindeutigen positiven Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Umverteilung von Einkommen. Sowohl die grundsätzliche Nachfrage nach Umverteilung als auch ihre Höhe hängen vom individuellen Nutzen ab, den die Wähler aus Umverteilung ziehen. Wähler, deren Einkommen so hoch ist, dass sie die Transfers finanzieren, sind gegen Umverteilung, da sie Einkommen verlieren. Wähler mit Einkommen unter der Umverteilungsschwelle sind Transferempfänger und stimmen als Profiteure für eine Umverteilung. Eine Umverteilung von Einkommen reduziert jedoch die Arbeitsanreize für die Nettozahler. Dadurch sinken die Produktivität einer Volkswirtschaft und auch das Grafik 1: Ungleichheit und Umverteilung nach Ländern Sozialausgaben / BIP (in Proztent) Hinweis: Dieses Papier gibt die Meinung der Autoren wieder und repräsentiert nicht notwendigerweise die Position der KfW. 3 3 2 1 KR Anmerkungen: Für die Jahre 9/. Der Gini-Koeffizient ist ein Maß für die Einkommensungleichheit. Ein Wert von gibt eine völlige Gleichverteilung der Einkommen an, ein Wert von 1 die maximale Ungleichheit. Verwendet wurde der Gini-Koeffizient für die Einkommensverteilung vor Steuern und Abgaben (Marktungleichheit). Quelle: OECD, eigene Berechnungen. IS CH NO DK FR SE IT FI BE DE AT SL NZ PL ES JP GB PT SK CZ US EE AU IL TR,32,36,4,44,48,2 Gini-Koeffizient Einkommen der Leistungsempfänger. Dieser Effizienzverlust wird in die individuelle Nutzenabwägung einbezogen. Im politischen Wettbewerb setzt sich die Umverteilungspräferenz der Person mit dem mittleren Einkommen durch. Nur dieser Vorschlag ist mehrheitsfähig, da alle Personen mit höherem Einkommen dieses Niveau an Umverteilung ablehnen und weniger oder gar keine Umverteilung fordern. Alle Wähler mit weniger Einkommen würden sich zwar mehr Umverteilung wünschen, wissen aber, dass ein höheres Niveau nicht mehr mehrheitsfähig ist. Dieses Modell einer kollektiven, demokratischen Entscheidung nennt sich Medianwählermodell. Ist die Ungleichheit in einem Land groß, so ist der individuelle Nutzen des entscheidenden Wählers aus Umverteilung im Vergleich zum individuellen Effizienzverlust relativ hoch. Er fordert ein höheres Niveau an Umverteilung und setzt sich damit im politischen Wettbewerb durch. Daher sollte eine größere Ungleichheit zu mehr Umverteilung führen. 1 Dieses eindeutige theoretische Ergebnis lässt sich in der Realität jedoch nicht be- CL

obachten. Der direkte Zusammenhang zwischen gemessener Ungleichheit und Umverteilung ist relativ schwach ausgeprägt (Grafik 1). Eine mögliche Erklärung ist, dass zum einen Wähler nur schlecht einschätzen können, ob sie sich über- oder unterhalb der Umverteilungsschwelle befinden. Zusätzlich müssten sie wissen, in welchem Verhältnis Effizienzverlust und persönlicher Nutzen aus Umverteilung stehen, und deshalb müssten sie generell einschätzen können, wie ausgeprägt die Ungleichheit in ihrem Land ist. Zum anderen bestimmt auch die individuelle Bewertung von Ungleichheit die Nachfrage nach Umverteilung. Tendenz zur Mitte bei Einschätzung der eigenen Einkommensposition Menschen haben keinen intuitiven Sinn für Statistik. Daher fällt es ihnen schwer, ihre eigene Position in der Einkommensverteilung korrekt zu schätzen. Dies zeigen Befragungen, bei der sich Personen in eine gesellschaftliche Schicht einordnen sollen. Ein überproportionaler Anteil der Befragten tendiert dabei zu den mittleren Kategorien (Grafik 2). Nur vergleichsweise wenige Personen ordnen sich dabei in die äußeren Gruppen der Einkommensverteilung ein. Einkommensstarke Personen unterschätzen somit tendenziell ihre Position, während Grafik 2: Selbsteinordnung von Personen in die Einkommensverteilung für Deutschland einkommensschwache sie überbewerten. Diese unzutreffende Einschätzung ist in fast allen untersuchten Ländern vorhanden. Die Psychologie liefert eine Erklärung für diese Tendenz zur Mitte: Wenn Personen ihre eigene Einkommensposition bestimmen, suchen sie sich zunächst eine Gruppe von Menschen, zu der sie ihr Einkommen ins Verhältnis setzen. Diese Referenzgruppe ist jedoch keine repräsentative Stichprobe der Gesellschaft, sondern stark vom sozialen Umfeld geprägt. Daher liegt auch das mittlere Einkommen dieser Referenzgruppe meist relativ nah am eigenen Einkommen. In der Folge ist die Zahl der Personen, die sich der Mittelschicht zugehörig fühlen, größer als deren tatsächliche Zahl. 2 Diese von der Realität abweichende Wahrnehmung der eigenen Position in der Einkommensverteilung hat Folgen auf die Nachfrage nach Umverteilung. Überschätzen Personen ihre Einkommensposition, würden sie tatsächlich mehr von einer Umverteilung profitieren als sie dies subjektiv erwarten. Entsprechend würden sie für mehr Umverteilung stimmen, wenn sie ihre Einkommensposition korrekt einschätzen. Personen der höheren Einkommensklassen hingegen würden ihre Präferenz nur geringfügig anpassen, da sie auch in ihrer subjektiven Wahrnehmung zu den Transferzahlern gehören und sie deswegen Umverteilung nach der individuellen Nutzenabwägung eher ablehnen. Diese Überlegungen werden durch eine Studie über Ungleichheit in Argentinien gestützt: 3 Dort klärten die Forscher die Befragten über ihren Irrtum bei der Einkommenseinschätzung auf. Einkommensstarke Personen, die ihre Position unterschätzten, änderten ihre Präferenz für Umverteilung nicht. Dagegen forderten die Befragten, die sich überschätzt haben, deutlich mehr Umverteilung. Fehleinschätzung bei besonders hohen und niedrigen Einkommen Ein weiterer Hinweis, für wie ungleich eine Gesellschaft gehalten wird, kommt aus der Einschätzung der Ränder der Einkommensverteilung: Das Einkommen von Spitzenverdienern und der Anteil der Personen, die von Armut betroffen sind. Werden Personen gebeten, das Einkommen von Spitzenverdienern und geringqualifizierten Arbeitskräften zu schätzen, dann verdienen nach dem subjektiven Empfinden der Befragten die Spitzenverdiener in Schweden im Median der Einschätzung 4-mal so viel wie Geringqualifizierte, in Deutschland 17- und in den USA 3-mal. Diese Schät- Grafik 3: Unterschied zwischen wahrgenommener und tatsächlicher Ungleichheit nach Ländern Anteil der Antworten (in Prozent) 2 1 2 1-1,3-2,7-3, -,6-7,3-6,8 4,,,7 1,2 2, 2,3 3, 3,1 8,1 8,6, Einkommensdezile (in Prozent) Selbsteinordnung der Befragten Wirklichkeitsgetreue Verteilung Anmerkungen: Basierend auf der Frage: In welcher Einkommensgruppe befindet sich Ihr Haushalt auf einer Skala von 1, wobei die höchste Einkommensgruppe und 1 die niedrigste Einkommensgruppe darstellt? Bei einer realistischen Einordnung und verlässlichem Stichprobendesign würde sich eine Gleichverteilung ergeben, da sich bspw. % der Haushalte in das Quantil der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen einordnen sollten. Anmerkungen: Dargestellt ist die Differenz von wahrgenommenen und tatsächlichem Gini-Koeffizienten (nach Steuern) in Prozentpunkten. Ein Wert größer als Null bedeutet, dass die Ungleichheit überschätzt wird, ein kleinerer Wert als Null bedeutet, dass sie unterschätzt wird. Quelle: ISSP 9, eigene Berechnungen. Quelle: World Values Survey 1. 2

zungen liegen dramatisch unter den wahren Werten. In Schweden verdient der durchschnittliche Spitzenverdiener tatsächlich 89-mal so viel wie ein einfacher Arbeiter, in Deutschland ist der Faktor 147 und in den USA beträgt er sogar 34. 4 Am oberen Ende der Einkommen wird demnach das Ausmaß an Ungleichheit stark unterschätzt. Ungleichheit in Form von Armut wird dagegen tendenziell überschätzt. In einer Umfrage des Eurobarometers sollten Menschen die Armutsrate in ihrem Land schätzen also den Anteil der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze (6 % des Median-Nettoeinkommens) leben. In Deutschland über- oder unterschätzten 42 % der Befragten die tatsächliche Armutsrate um mehr als Prozentpunkte. In den meisten europäischen Ländern sieht das Bild sehr ähnlich aus, wobei die Armut zumeist überschätzt wird. Des Weiteren schätzten in Deutschland ca. 9 % der Befragten, dass die Armut in den letzten drei Jahren zugenommen hat (ausgehend von ). In diesem Zeitraum ist die Armutsquote jedoch annähernd konstant geblieben. Ungleichheit: Amerikaner sind zu optimistisch, Deutsche zu pessimistisch Die Wahrnehmung der Ungleichheit für die gesamte Einkommensverteilung weicht ebenfalls von der tatsächlichen Ungleichheit ab. In einigen Ländern wird Grafik 4: Wahrgenommene und tatsächliche Ungleichheit und Umverteilungspräferenz nach Ländern Anteil von Personen mit starkter Umverteillungspräferenz ( in Prozent) 9 8 7 6 4 3,,2,3,3,4,4,, wahrgenommener Gini-Koeffizient tatsächlicher Gini-Koeffizient die Ungleichheit deutlich überschätzt, in anderen unterschätzt (siehe Grafik 3). 6 Dabei sind die Deutschen eher pessimistisch und überschätzten die Ungleichheit in ihrem Land. Die Briten und Amerikaner sind dagegen zu optimistisch und unterschätzen das Ausmaß der Ungleichheit. Die von der Realität abweichende Wahrnehmung der Ungleichheit gibt eine mögliche Antwort auf die Frage, warum in Deutschland trotz geringerer tatsächlicher Ungleichheit mehr umverteilt wird als in den USA. Während das tatsächliche Ausmaß der Ungleichheit nur gering mit den Umverteilungspräferenzen zusammenhängt, korreliert die wahrgenommene Ungleichheit relativ stark mit der Nachfrage nach Umverteilung (siehe Grafik 4). Damit wäre nicht wie theoretisch postuliert die objektive, sondern die wahrgenommene Ungleichheit ausschlaggebend für das Ausmaß der Umverteilung in einem Land. Dieses Ergebnis zeigt sich auch in tiefer gehenden empirischen Studien. 7 Wertung von Ungleichheit: Fairness beeinflusst Umverteilung Grafik : Wahrgenommene Fairness und tatsächliche Umverteilung Wahrgenommene Fairness 9 8 7 6 4 Neben der Wahrnehmung von Ungleichheit beeinflusst auch ihre Bewertung die Nachfrage nach Umverteilung. Selbst wenn Personen die tatsächliche Einkommensverteilung kennen, können sie unterschiedliche Einstellungen zur Ungleichheit besitzen und daraus folgen unterschiedliche Vorstellungen, wie sehr Ungleichheit durch Umverteilung reduziert werden soll. Unterschiede im Einkommen können durchaus berechtigte Ursachen haben: Menschen arbeiten unterschiedlich lang, in unterschiedlichen Berufen oder sie haben unterschiedliche Fähigkeiten und Qualifikationen. Jedoch gibt es ebenso Faktoren, die der Einzelne nicht beeinflussen kann: den Familienhintergrund, das Geschlecht oder die Hautfarbe. Wie Ungleichheit zu Stande kommt, hat einen bedeutenden Effekt auf die Umverteilungspräferenzen. 8 Ein wichtiger Aspekt ist, ob das Zustandekommen der Ungleichheit als fair eingeschätzt wird. Der Begriff Fairness wird in der ökonomischen Literatur definiert als Leistungsgerechtigkeit dass derjenige, der sich mehr anstrengt und mehr leistet, mehr bekommt und Chancengleichheit dass die Einkommensposition nicht von Faktoren bestimmt wird, die der Einzelne nicht beeinflussen kann. 9 Im Allgemeinen sollten Menschen in Gesellschaften, in denen die Einkommensverteilung als fair angesehen wird, weniger Umverteilung fordern. Diese Hypothese wird von Analysen unterstützt, die einen negativen Zusammenhang zwischen wahrgenommener Fairness und Umverteilungspräferenzen finden. Zudem ist in Gesellschaften mit größerer Fairnesswahrnehmung der Anteil der 1 2 3 3 Sozialausgaben / BIP (in Prozent) Anmerkung: Umverteilungspräferenzen ermittelt als Anteil der Befragten, die der Aussage Die Ungleichheit in meinem Land ist zu hoch stark zustimmen. Gini-Koeffizient ermittelt auf Basis der Einkommensverteilung nach Steuern. Quelle: ISSP 9, eigene Berechnungen. Anmerkung: Wahrgenommene Fairness ermittelt als Anteil der Befragten, die harte Arbeit als äußerst wichtig oder sehr wichtig für das Vorankommen im Leben einschätzen. Quelle: ISSP (9), OECD (9/), eigene Berechnungen. 3

Grafik 6: Umverteilung als Aufgabe des Staates Anteil der Befragten (in Prozent) % 8 % 6 % 4 % % % 3 % 21 % 48 % liberal Anmerkung: Basierend auf der Frage, ob es Aufgabe des Staates ist, Ungleichheit zu reduzieren. Einteilung der Werteregimes nach Dallinger (11): Liberale Länder: GBR, USA, NZL, AUS, JAP; Sozialdemokratisch: SWE, NOR, DNK, FIN; Christlich-Konservativ: FRA, AUT, ESP, ITA, PRT, DEU; Post-Kommunistisch: BGR, HRV, CZE, EST, HUN, LTU, POL, RUS, SVK, SVN, UKR Quelle: ISSP 9, eigene Berechnungen. 22 % 18 % 6 % Sozialausgaben am BIP deutlich geringer (siehe Grafik ). 11 Soziale Mobilität: Ist ein Aufstieg oder ein Abstieg wahrscheinlicher? Eine ungleiche Einkommensverteilung birgt Chancen und Risiken und diese sind bei der Bewertung von Ungleichheit und Nachfrage nach Umverteilung ebenfalls von Bedeutung: Eine ungleiche Verteilung kann durchaus toleriert werden, wenn der Einzelne erwartet, in eine höhere Einkommensschicht aufzusteigen. Hingegen sehen Personen, die einen sozialen Abstieg befürchten, Ungleichheit eher kritisch und wollen sich gegen die Risiken absichern. % 7 % 11 % 11 % 79 % 82 % Zustimmung Neutral Ablehnung sozialdemokratisch christlichkonservativ postkommunistisch So zeigt eine Studie aus den USA, dass Personen, die einen Einkommenszuwachs über das Medianeinkommen erwarten, deutlich niedrigere Umverteilungspräferenzen haben. Frauen, Afroamerikaner und kürzlich Arbeitslose fordern hingegen mehr Umverteilung, da die Wahrscheinlichkeit, dass sie zukünftig von Transferleistungen profitieren, höher ist als bei anderen Gruppen. 12 Wertegemeinschaft, politisches System, Kultur und Geschichte Neben Fairness und sozialer Mobilität gibt es weitere Faktoren, die die Bewertung von Ungleichheit beeinflussen. Vorstellungen zur Verteilungsgerechtigkeit auf Ebene der Volkswirtschaft werden von der Kultur, dem politischen System, der Wertegemeinschaft und der Geschichte eines Landes geprägt. Zum Beispiel stimmen in liberal geprägten Ländern wie den USA und Großbritannien nur 48 % der Befragten der Aussage zu, dass es Aufgabe des Staates ist, Ungleichheit zu reduzieren. In postkommunistischen Ländern sind es dagegen 82 %. 13 Schlussfolgerung Der einfache Zusammenhang zwischen der tatsächlich gemessenen Einkommensungleichheit und staatlicher Umverteilung, der sich aus dem klassischen Modell des Medianwählers ergibt, ist empirisch kaum nachzuweisen. Denn Personen haben nicht immer einen objektiven Blick auf die Realität und treffen ihre Entscheidungen nicht nur nach individuellen Nutzenkriterien. Ihre Umverteilungspräferenzen werden daher auch von der Wahrnehmung und der Bewertung von Ungleichheit geprägt und nicht ausschließlich von der objektiv messbaren Ungleichheit. Entsprechend ist eine Erweiterung des klassischen Medianwählermodells um Faktoren wie der subjektiven Einschätzung von Einkommensposition und Ungleichheit notwendig. Auch die Bewertung von Ungleichheit sollte bei der Erklärung von Umverteilung in die Analyse einbezogen werden. Denn diese können ebenfalls Unterschiede im Umverteilungsniveau zwischen Ländern erklären. 1 Dieses Medianwählermodell geht auf Meltzer, A. H. and S. F. Richard (1981). A rational theory of the size of government. The Journal of Political Economy, 914 927.zurück. 2 Cruces, G., Perez-Truglia, R. and M. Tetaz (13). Biased perceptions of income distribution and preferences for redistribution: Evidence from a survey experiment. Journal of Public Economics, 98, 112. 3 Cruces, G., Perez-Truglia, R. and M. Tetaz (13). Biased perceptions of income distribution and preferences for redistribution: Evidence from a survey experiment. Journal of Public Economics, 98, 112. 4 Quelle: für das tatsächliche Verhältnis: AFL-CIO (11), für die Schätzung: International Social Survey Project 9 Soziale Gerechtigkeit IV Fragen V23 und V2. Gimpelson, V. and D. Treisman (1). Misperceiving Inequality (No. w21174). National Bureau of Economic Research. Datenquellen: Eurobarometer, Eurostat. 6 Quelle: International Survey Project 9, In Deutschland lautete die Frage für die wahrgenommene Ungleichheit wie folgt (V4): Welche Gesellschaftsform hat Deutschland heute? Welches Diagramm kommt dieser Gesellschaftsform am nächsten? Antwortmöglichkeiten: (1) Eine kleine Elite oben, nur sehr wenige Menschen in der Mitte und die große Masse der Bevölkerung unten. (2) Eine Gesellschaft, die einer Pyramide gleicht, mit einer kleinen Elite oben, mehr Menschen in der Mitte und den meisten Menschen unten (3) Eine Gesellschaft, die einer Pyramide gleicht, aber mit nur wenigen Menschen ganz unten. (4) Eine Gesellschaft, in der sich die meisten Menschen in der Mitte befinden. () Viele Menschen im oberen Bereich und nur wenige Menschen im unteren Bereich. ; zu den Antwortmöglichkeiten wurden Diagramme gezeigt. Jeder Antwortmöglichkeit der Frage V4 wurde ein geschätzer Gini-Wert zugeordnet. Die Zuordnung der Gini-Koeffizienten erfolgte nach Gimpelson, V. and D. Treisman (1). Misperceiving Inequality (No. w21174). National Bureau of Economic Research.. Durch Durchschnittsbildung kann man den geschätzen Gini- Koeffizienten für ein Land errechnen. 4

7 vgl. Niehues, J. (14). Subjective perceptions of inequality and redistributive preferences: An international comparison. IW-TRENDS Discussion Papers, (2).; Engelhardt, C. and A. Wagener (14). Biased Perceptions of Income Inequality and Redistribution.; Gimpelson, V. and D. Treisman (1). Misperceiving Inequality (No. w21174). National Bureau of Economic Research. 8 Alesina, A. F. and P. Giuliano (9). Preferences for redistribution (No. w1482). National Bureau of Economic Research. 9 Vgl. Alesina, A. and G. M. Angeletos (). Fairness and redistribution: US vs. Europe. American Economic Review, 9; Alesina, A. F. and P. Giuliano (9). Preferences for redistribution (No. w1482). National Bureau of Economic Research. Alesina, A. F. and P. Giuliano (9). Preferences for redistribution (No. w1482). National Bureau of Economic Research. 11 Alesina, A. and G. M. Angeletos (). Fairness and redistribution: US vs. Europe. American Economic Review, 9. 12 Alesina, A. and E. La Ferrara (). Preferences for redistribution in the land of opportunities. Journal of Public Economics, 89(), 897 931. 13 Dallinger, U. (). Public support for redistribution: what explains cross-national differences?. Journal of European Social Policy, (4), 333 349.; International Social Survey Project (9), eigene Berechnungen