Fachliche Grundlagen des Literaturunterrichts Epik III: Moderne Formen Erzählungen im Unterricht Seminar im SoSe 2009
Gottes Auge von Wolfgang Borchert 1921-1947
Fiktionales Zeitensystem der Erzähldauer 1. Zeitdehnendes Erzählen: z.b. durch die genaue Wiedergabe von Gedanken und komplexen Bewusstseinsund Geschehensabläufen (erzählte Zeit < Erzählzeit) 2. Zeitdeckende Erzählen: z.b. bei Wiedergabe von Dialogen (erzählte Zeit = Erzählzeit) 3. Zeitraffendes Erzählen: durch verkürzendes, verdichtendes, summarisches, exemplarisches Erzählen (erzählte Zeit > Erzählzeit)
Fiktionales Zeitensystem der Erzählfolge 1. Erzählgegenwart: ist das jeweils (i.a. im Präteritum oder auch Präsens) erzählte Erzählgeschehen. 2. Erzählvergangenheit: liegt vor dem jeweils als Erzählgegenwart erzählten Erzählgeschehen (Rückwendungen durch Rückblicke, Rückgriffe, Rückschritte) 3. Erzählzukunft: liegt nach dem jeweils als Erzählgegenwart erzählten Erzählgeschehen (zukunfts(un)gewisse Vorausdeutungen) Erzählgeschehen V G Z
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 1. Erzählerrede im epischen Präteritum - üblichste Redeform des Erzählens, - Erzähler spricht über ein insgesamt Geschehenes Den Mann befremdete, dass die Plastiktasche leer war. Das räumte die Verkäuferin ein, sah aber einen Vorteil darin, dass so doch der ganze Dreck weg war. Das sah der Mann ein, nahm die Tasche, bezahlte die Rechnung und ging.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 2. Erzählerrede im historischen Präsens - Geschehenes wird besonders spannend und wichtig, indem es so, als ob es gegenwärtig geschähe, erzählt wird. Den Mann befremdet, dass die Plastiktasche leer ist. Das räumt die Verkäuferin ein, sieht aber einen Vorteil darin, dass so doch der ganze Dreck weg ist. Das sieht der Mann ein, nimmt die Tasche, bezahlt die Rechnung und geht.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 3. Die indirekte Erzählerrede - Rolle des Erzählers ist stark abgeschwächt Franz Hohler erzählt, der Mann habe gesagt, die Tasche sei ja leer; das habe die Verkäuferin bestätigt, aber zu bedenken gegeben, dass so der entsetzliche Dreck weg sei; darin habe ihr der Mann Recht gegeben, habe die Tasche genommen, die Rechnung bezahlt und sei gegangen.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 4. Die Erzählerrede als Bewusstseinsbericht: - Erzähler sieht ins Innere seiner Figuren und - berichtet über ihr Bewusstsein (was sie denken, fühlen, wollen, planen). Den Mann befremdete sehr, dass die Plastiktasche leer war. Die Verkäuferin bestätigte das durchaus, wollte ihn aber besänftigen und machte daher geltend, dass auf diese Weise immerhin der Dreck weg war. Das sah der Mann auch ein, nahm die Tasche, bezahlte die Rechnung und ging.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 5. Die indirekte Figurenrede: - ohne Anführungszeichen im Konjunktiv, - grammatisch abhängig von der Erzählerrede (Teil der Erzählerrede) Die Tasche sei ja leer, sagte der Mann. Das sei in der Tat so, erwiderte die Verkäuferin, doch sei dafür der entsetzliche Dreck weg. Darin habe sie recht, sagte der Mann, nahm die Tasche, bezahlte die Rechnung und ging.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 6. Die erlebte Rede: - Erzähler übernimmt die Figurenrede, d.h. die Figur spricht mit der Stimme des Erzählers und beide Instanzen werden vermengt. Die Plastiktasche hier war leer. Das gab die Verkäuferin auch gleich zu, machte aber geltend, dass so doch dieser ganze Dreck weg war. Und damit hatte sie ja auch recht. Was sollte er machen? So nahm er denn die Tasche, bezahlte und ging.
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 7. Die direkte Figurenrede als Dialog: - kann durch Erzählerrede eingeleitet sein, - gibt aber die Figurenrede, markiert durch Anführungszeichen, original wieder. - Erzähler tritt dabei ganz zurück (Szene dramatisch umsetzbar).»die Tasche ist ja leer!ja, aber dafür ist dieser entsetzliche Dreck weg.da haben Sie auch wieder Recht; geben Sie her. Was macht die Rechnung?... Bitte sehr. Auf Wiedersehen!«
Fiktionales Redesystem Erzählerrede - Figurenrede 8. Die direkte Figurenrede als innerer Monolog: - Geschehen kann ohne Beteiligung eines Erzählers ganz aus der Sicht einer Erzählfigur erzählt werden. - Innerer Monolog erzählt ganz in Innensicht als innere Rede der Erzählfigur. Das ist ja ein Ding die Tasche ist leer! Und die Verkäuferin gibt es auch noch zu. Ich fasse es nicht! Sie meint, jetzt sei immerhin der ganze Dreck weg. Und meine Hose? Aber eigentlich hat sie recht. Der Dreck war entsetzlich, und es ist nur gut, dass er jetzt weg ist... Also dann nehm ich mal die Tasche. Ja, bezahlen muss ich wohl auch. Wofür eigentlich? Egal, ich zahl jetzt und geh.
Moderne Formen des Erzählens Dekonstruktion der Erzählfigur Dekonstruktion des Erzählgeschehens Dekonstruktion des fiktionalen Erzählens
Dekonstruktion der Erzählfiguren Sie will den fremden Herrn nicht aufhalten. [...] Ihr Mann, wie gesagt, weilt in London. Ich bin jetzt, wie durch einen Alarm, plötzlich sehr nüchtern; nur der fremde Herr, den sie nicht aufhalten will [er selbst], ist nach wie vor betrunken, nicht schlimm, immerhin so, dass ich mich von ihm unterscheide. Peru, sagt er, sei das Land seiner Hoffnung! Während ich es einen Quatsch finde, was er da sagt, hört sie großäugig zu, es gefällt ihr, scheint es, und man plaudert also von Peru, das ich nicht kenne. Max Frisch Mein Name sei Gantenbein
Dekonstruktion des Erzählgeschehens Ulysses von James Joyce: 18 Kapitel in 18 verschiedenen Erzähltechniken über 3 Figuren (Leopold Bloom, seine Frau Molly und Stephen Dedalus) an einem Tag in Dublin. 1882-1941 Odyssee von Homer: 24 Gesänge über Odysseus 10jährige Irrfahrt und Rückkehr nach Ithaka. Komplexe Erzählweise mit Parallelhandlungen, Rückblenden, Einschüben, Perspektiv- und Erzählerwechseln. ca. 8. Jh. v. Chr.
Dekonstruktion des fiktiven Erzählens Eine wahre Geschichte: Die Frau des Hausherrn nimmt ein Bad, im Zimmer sitzt der Hausherr mit seinem Freund, sie trinken etwas, Bier vielleicht. Nach einiger Zeit behauptet der Freund, dringend zu müssen, und der großzügige Herr weist den Freund ins Badezimmer und wartet, und der Freund kehrt nicht zurück, und die Sache endet mit einer Schlägerei mit Treppenstürzen [...; der Hausherr stirbt]. Peter Bichsel Im Badezimmer Multiperspektivisches Erzählen Metafiktion Textcollage
Epik im Literaturunterricht Joachim Pfeiffer (2002) fordert Aufbau literarischer Kompetenz durch Vermittlung zunehmend komplexere Texte Komplexität durch Modernität: auf der Ebene von Episoden, Handlungssträngen und Figuren bei der Verknüpfung und Verkettung von Gliedern der Narration bei der Kombination mehrerer (dann mehrphasiger) Narrationen durch mehrsträngiges Erzählen (Parallelführung und Überkreuzung von Geschichten ) durch retrospektives, assoziatives, sprunghaftes Erzählen durch Multiperspektivität
Epik im Literaturunterricht? Wie? Wie soll Epik im Literaturunterricht vermittelt werden? Analytische Verfahren Textproduktive Verfahren z.b. Gestaltendes Interpretieren Gestaltendes Interpretieren Text soll über eigenen Schreibprozess besser verstanden werden Grundlage ist Textanalyse (nach Inhalt, Aufbau, Stil) Gestaltendes Interpretieren = textgebundene Form der Darstellung
Gestaltendes Interpretieren Reflexionen Ausfabulieren Ausgestaltungen von Leerstellen Rollenbiografien Auseinandersetzungen
Gestaltendes Interpretieren Fortsetzungen Lücken füllen Ergänzungen neue Figuren einführen Hinzufügungen
Gestaltendes Interpretieren Parallelgestaltungen - inhaltlich - formal Gestaltungsformen Umgestaltungen - Gegengestaltung - Veränderungen - inhaltlich - formal
Gestaltendes Interpretieren Beurteilungskriterien: - Verstehenskompetenz - Stimmigkeit - Durchgestaltung