Chris Wolf Überzeugend leise! Wie stille Menschen ihre Stärken wirkungsvoll nutzen BusinessVillage
Dieser Zweig der Psychologie entwickelt sich beständig weiter und versucht zu ermitteln, welche Eigenschaften es gibt, wie man sie messen kann, ob sie stabil oder veränderbar sind und wie sie sich über die Lebensspanne entwickeln. Es ist wichtig zu realisieren, dass man mithilfe der Persönlichkeitspsychologie nie sagen kann, WIE ein Mensch nun sei, wie also sein Innerstes aussieht, sondern immer nur, wie er sich selbst wahrnimmt und beschreibt oder wie andere ihn wahrnehmen und beschreiben. Insofern ist es vermessen anzunehmen, dass man Persönlichkeitsmerkmale wirklich und gültig messen kann in dem Sinne, dass man eine Information bekommt, die wahr und unveränderlich ist und bei der nächsten Messung, wann immer sie auch stattfinden möge, genauso wieder herauskommt. Ergebnisse von Persönlichkeitstests sind Momentaufnahmen, die immer nur einen kleinen Ausschnitt mit sehr begrenzten Möglichkeiten ermitteln. Tests sind äußerst unterschiedlich, was die Qualität betrifft, und es ist für den Laien und bisweilen auch den Psychologen extrem schwierig, einzuschätzen, wie nützlich das Ergebnis eines (eines!) Tests nun ist. Man kann den Nutzen solcher Ergebnisse möglicherweise steigern, indem mehrere Tests bearbeitet und die Ergebnisse verglichen werden. Am besten, so finde ich, bildet man sich dann mit den Testergebnissen als einer Informationsquelle unter vielen seine eigene Meinung. Persönlichkeit Was versteht die Persönlichkeitspsychologie nun unter Persönlichkeit? Wenn man sich damit ausführlich befassen möchte, findet man in einschlägigen Lehrbüchern zahlreiche unterschiedliche und kluge Definitionen (vgl. etwa Fisseni 2003). Die folgende bekannte Formulierung (Murray 1953: 53) finde ich sehr aussagekräftig und gefällig: EVERY MAN is in certain respects: a. like all other men, b. like some other men, c. like no other man. 20 Leise Betrachtungen: Sind stille Wasser tief?
Die Autoren stellen mithin fest, dass jeder Mensch in mancher Hinsicht wie alle Menschen ist, in mancher Hinsicht wie manche Menschen und in mancher Hinsicht wie kein anderer Mensch. Die Persönlichkeitspsychologie befasst sich vor allem mit dem zweiten und dritten Punkt. Introversion in der Persönlichkeitspsychologie Innerhalb der Persönlichkeitspsychologie gibt es unzählige und höchst unterschiedliche Theorien und Modelle. In vielen davon kommen Intround Extraversion als Dimensionen vor, beispielsweise erstmalig bei C.G. Jung. Viele gebräuchliche und beliebte Testverfahren, wie der Myers-Briggs- Typindikator, kurz MBTI (Bents/Blank 1992) und viele andere (Überblick: Vergleiche zum Beispiel Wikipedia oder einschlägige Lehrbücher wie etwa Fisseni 2003) nutzen die Dimension. Bisweilen wird Extra- und Introversion als eine Dimension mit zwei Polen formuliert, auf der jeder Mensch eine Lokalisierung hat. Man sei also entweder extra- oder introvertiert. In anderen Theorien werden die beiden eher als gleichzeitig in unterschiedlicher Ausprägung vorhanden betrachtet. Das heißt, manche Autoren geben auf die Frage nach der Introversion als Antwort Ja oder Nein! und andere Autoren beschreiben, in welchem Ausmaß Introversion im Vergleich zum Ausmaß der Extraversion feststellbar sei. Introversion bezeichnet die Tendenz eines Menschen, sich bevorzugt nach innen statt nach außen zu wenden. Introvertierte ziehen Energie aus dem Allein (mit sich) sein, aus der Ruhe, sie überlegen eher länger, bevor sie sich äußern. Introvertierte sprechen ruhiger und eher leise, und sind eher geneigt, vertiefende Gespräche zu führen. Sie reden lieber mit einem oder zweien als mit vielen Menschen. Sie verhalten sich eher reserviert und warten eher etwas ab, wenn sie neue Menschen kennenlernen. Sie arbeiten gerne mit einem oder zwei Kollegen intensiv zusammen und sie vertiefen sich bevorzugt in Themen. Sie brauchen mehr persönlichen Raum und Rückzugsmöglichkeiten (nach Ancowitz 2009: 2, Übersetzung von der Verfasserin). Leise Betrachtungen: Sind stille Wasser tief? 21
Was kennzeichnet den Introvertierten? Sie werden viele Auflistungen finden, die dieser hier sehr ähnlich sind, es werden sich Unterschiede in Nuancen oder auch in etwas bedeutenderen Aspekten finden. Das ist typisch für Merkmale in der Persönlichkeitspsychologie, die man messen will. Häufig werden sie durch eine Reihe von Attributen mehr oder weniger treffend beschrieben und genau diese werden dann auch in Tests verwendet. Wenn die Attribute auch nur leicht unterschiedlich sind, werden natürlich auch die Ergebnisse der Tests verschieden ausfallen. Ein Beispiel für eine solche Reihe von Attributen (Kahnweiler 2009: 2, Übertragung ins Deutsche von der Verfasserin): Introvertiert Aufladen der Batterien durch Alleinsein nach viel Interaktion mit anderen Menschen, Energie wird in der Ruhe gefunden Erst denken, dann reden Gedanken erst gründlich im Kopf verarbeiten Reserviert Weniger deutliche Emotion in der Mimik, wie ein Pelzmantel mit dem Pelz nach innen Besprechen Persönliches mit wenigen Menschen Lieber schreiben als reden Fokus auf Tiefe Extravertiert Energie wird im Zusammensein mit anderen Menschen gefunden, Batterien werden durch andere aufgeladen Erst reden, dann denken Gedanken schnell aussprechen Enthusiastisch Leicht durchschaubar, leicht zu lesen, wie ein Pelzmantel mit dem Pelz nach außen Besprechen Persönliches bereitwillig mit vielen Menschen Lieber reden als schreiben Fokus auf Breite 22 Leise Betrachtungen: Sind stille Wasser tief?
Demnach messen Tests durchaus unterschiedliche Nuancen der Introversion. Und jeder Introvertierte ist eben anders. Das ist selbstverständlich und dennoch erwähnenswert. Am Ende ist die Introversion nur eines von vielen Merkmalen, welche einen Menschen ausmachen. Introversion ist am Ende schlicht das, was ein spezifischer Test zur Introversion misst. Und da wird es natürlich schwierig, wenn man sich auf ein Testergebnis verlassen will. 1.2 Introversion ein Persönlichkeitsmerkmal? Ein Persönlichkeitsmerkmal ist eine Beschreibungsdimension oder das, was ein Test misst. Das klingt zunächst dämlich, wird in der Psychologie aber tatsächlich so definiert. Man nennt das eine operationale Definition, weil sie sich am Messen, an der Operationalisierung orientiert! Unter Operationalisierung versteht man die Übersetzung eines Merkmals in eine messbare Größe inklusive der Angabe der genauen Messvorschriften. Solche Definitionen sind weit weg von alltagstauglichen oder gut verständlichen Definitionen. So kommt es vor, dass es recht unterschiedliche Vorstellungen zu einem Persönlichkeitsmerkmal gibt, je nach Test. Das ist beim Merkmal Introversion auch so. Wenn man also das Testergebnis Introvertiert! erhält, dann kann es immer noch sein, dass dies bei einem anderen Test nicht herauskommt, aber auch, dass das Merkmal von einem anderen Test als noch extremer ausgeprägt gewertet wird. Demnach sind solche Testergebnisse immer nur ein Hinweis, und wenn man sie wirklich sehr ernst nehmen will, dann müsste man eben ganz genau schauen, was der Test denn nun misst. Selbsteinschätzungen Da wird es nun jedoch schwierig: Die meisten Tests basieren auf Selbsteinschätzungen, das heißt, Sie kreuzen etwas an, was Ihrer Meinung nach zu Ihnen passt oder Sie wählen das Ausmaß, in dem es zu Ihnen passt. Leise Betrachtungen: Sind stille Wasser tief? 23
Demnach ist es, rein theoretisch natürlich, bestens möglich, ein Testergebnis dahin zu bewegen, wo man es haben möchte. Die Tests sind nur sinnvoll und gültig, wenn sie ehrlich und aufrichtig bearbeitet werden. Das wäre aber deutlich einfacher, wenn man den Test vorher nicht so gut kennt. Dann ginge man unbefangener an die Sache heran. Sie merken es: Hier wird es kompliziert! Der Test liefert als Ergebnis genau das, was Sie an Daten hineingeben! Selbsteinschätzung ohne Tests Vielleicht braucht man für den Hausgebrauch gar keine Tests? Ich plädiere speziell bei unserem Thema Introversion dafür, einfach gleich die Selbsteinschätzung zu verwenden. Wenn Sie sich nach sorgfältigem Nachdenken für einen introvertierten Menschen halten, dann sind Sie zumindest für die Gedanken in diesem Buch einer. 24 Leise Betrachtungen: Sind stille Wasser tief?