Praxis-basiertes Wissen durch partizipative Forschung: Voraussetzungen, Grenzen, Potentiale Prof. Dr. Hella von Unger Institut für Soziologie, LMU München unger@lmu.de Tagung Praxis und Hochschule regional verknüpfen: Perspektiven für die Forschung in den Gesundheitsfachberufen Hochschule für Angewandte Wissenschaft und Kunst (HAWK), Hildesheim 24.10.2015 Übersicht Was ist partizipative Forschung? Beispiel: PaKoMi-Projekt (2008-2011) Vorzüge und Limitationen Partizipative Forschung in der Lehre Fazit / Ausblick 2 1
Was ist partizipative Forschung? Oberbegriff für verschiedene Ansätze in der Tradition der Aktionsforschung nach Kurt Lewin: Partnerschaftliche Forschung, um Veränderungen zu initiieren und Probleme zu beheben; knowledge for action und nicht nur knowledge for understanding (Cornwall & Jewkes 1995) 3 Gewinn für beide Seiten Partizipative Forschungsmethoden sind auf die Planung und Durchführung eines Untersuchungsprozesses gemeinsam mit jenen Menschen gerichtet, deren soziale Welt und sinnhaftes Handeln als lebensweltlich situierte Lebens- und Arbeitspraxis untersucht wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass sich Erkenntnisinteresse und Forschungsfragen aus der Konvergenz zweier Perspektiven, d.h. vonseiten der Wissenschaft und der Praxis, entwickeln. Der Forschungsprozess wird im besten Falle zum Gewinn für beide Seiten. (Bergold & Thomas 2012: Abs. 1) 4 2
Vielfalt der Ansätze Action Research / Participatory Action Research (PAR) / Aktionsforschung Praxisforschung / Partizipative Qualitätsentwicklung Partizipative Evaluationsforschung /Empowerment Evaluation User-led research / Survivor controlled research Community-Based Participatory Research (CBPR) Transdisziplinäre Forschung labels for participatory action oriented methods continue to multiply (Dick 2011) 5 Was ist partizipative Forschung? Partizipative Forschung ist eine engagierte Forschung, die die Möglichkeiten der partnerschaftlichen Zusammenarbeit und empirischen Forschung nutzt, um die sozialen, politischen und organisationalen Kontexte, in die sie eingebettet ist, kritisch zu reflektieren und aktiv zu beeinflussen. (von Unger 2014: 3) 6 3
Zentrale Merkmale 1. Beteiligung von Co-Forscher/innen 2. Lernprozesse, Kompetenzentwicklung, Empowerment 3. Doppelte Zielsetzung: Verstehen und Verändern (von Unger 2014) 7 Stufenmodell der Partizipation (Wright, von Unger, Block 2010) 8 4
Definition: Partizipation ist ( ) die individuelle oder auch kollektive Teilhabe an Entscheidungen, die die eigene Lebensgestaltung und die eigene soziale, ökonomische und politische Situation und damit immer auch die eigene Gesundheit betreffen. (Rosenbrock, Hartung 2012: 9) 9 Partizipation in der Forschung bedeutet die gleichberechtigte Teilhabe der Stakeholder (d.h. der Beteiligten und Betroffenen) mit Entscheidungsmacht an allen Phasen des Forschungsprozesses: von der Zielsetzung über die Datenerhebung, Auswertung, Veröffentlichung und Verwertung der Ergebnisse. 10 5
Wieso partizipative Forschung? Eine Forschung, die nichts als Bücher hervorbringt, reicht nicht aus. (Lewin 1946) If we want more evidence-based practice, we need more practice-based evidence. (Green) 11 Forschung an der Schnittstelle ( ) Professionelle Praxis PF Wissenschaft Communities 12 6
PaKoMi-Projekt (2008-2011) Partizipation und Kooperation in der HIV-Prävention mit Migrant/innen Kooperationspartner: Deutsche AIDS-Hilfe e.v. (DAH) Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB) Lokale Einrichtungen und Akteure inkl. Mitglieder afrikanischer, bulgarischer, türkisch- und russisch-sprachiger Communities Förderung: Bundesministerium für Gesundheit (BMG) Ziel: Partizipation von Migrant/innen und Zusammenarbeit von Einrichtungen fördern und untersuchen 13 Peer Researcher 14 7
Fallstudie Hamburg 1. Bildung einer Arbeitsgruppe 2. Lokale Bedarfsbestimmung 3. Gemeinsame Zielsetzung Photovoice (PaKoMi Hamburg) 4. Umsetzung (Aktionen, Forschen) 5. Auswertung 6. Nutzung/ Nachhaltigkeit 15 Forschung an der Schnittstelle Empfehlungen Politik Umsetzung der politischen Ziele Handbuch, Video Präventive Praxis verbesserte HIV-Prävention PaKoMi methodische Innovationen Wissenschaft Erkenntnisse Community Kompetenz- Entwicklung Community- Building 16 16 8
Discussion Zeit für ein Video? 18 9
Vorzüge partizipativer Forschung Forschungsfragen greifen reale Anliegen der Stakeholder und Communities auf Forschungsethische Vorteile: Beteiligte stärken und Schaden vermeiden Forschung auch mit sog. schwer erreichbaren Gruppen Qualität der Forschung: Verbesserte Erhebungsinstrumente, Rekrutierung und Verbleibquoten Kontext-/kultursensible Interpretation der Ergebnisse durch lebensweltliche Expertise und Perspektiv-Verschränkung Ergebnisse mit praktischem Nutzen (und Relevanz über das Wissenschaftssystem hinaus) 19 Grenzen und Herausforderungen Partizipative Forschung ist aufwendig und voraussetzungsvoll Ungleiche Voraussetzungen für Partizipation Machtverteilung & Interessenkonflikte Zeitkulturen und Zeiträume, Flexibilität in der Zielsetzung? Methodische Einschränkungen: nicht alle Verfahren geeignet Gütekriterien, Qualitäts-Standards, methodologische Debatten 20 10
Partizipative Forschung in der Lehre Vorteile: Forschendes Lernen in und mit der Praxis Herausforderung: Vereinbarkeit mit Ordnungen und Routinen des Studienbetriebs Welche Rolle kommt den Studierenden zu? Wie umsetzen? 21 Beispiel: Photovoice-Seminar Fotos: Unger 22 11
Projekte der Studierenden Warum entscheiden sich Bachelor Soziologie Studierende für die LMU? Schreiben von Hausarbeiten Studieren und Arbeiten (Nebenerwerbstätigkeit) Zeit, Arbeitstechniken und Zeitmanagement Dialekt an der Uni und mehr Fotos oben links & rechts: Bammert/Frey/Roth; mitte: Brangs/Pillgruber/Reinhard; unten: Teisner 23 Fazit / Ausblick Potential zur Transformation Unterbrechung von Routinen, Perspektiverweiterung, Qualitätsentwicklung Förderung, Partnerschaften, Nachhaltigkeit Nutzen/Gewinn für alle Beteiligten?! Partizipative Forschung als Option für regionale Kooperationen zwischen Hochschule und Praxis Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! 24 12