Zum Stand der U-Haftvermeidung für Jugendliche in NRW

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Transkript:

Zum Stand der U-Haftvermeidung für Jugendliche in NRW Diskussion möglicher Ansätze zur Weiterentwicklung Dr. Stefan Eberitzsch Untersuchungshaftvermeidung in NRW: Zwischen Ansprüchen und Realität Rückblick, Gegenwart und zukünftige Möglichkeiten Reinoldinum Dortmund, 12. März 2015

Gliederung 1. Entwicklung der Haft- und Unterbringungszahlen in NRW 2. Ausgewählte empirische Befunde zum Handlungsfeld 3. Diskussion

Stichtag 1. Entwicklung der U-Haftzahlen U-Häftlinge insgesamt Jugendliche 14 bis unter 18 Jahre %- Anteil der Jugendlichen an allen U- Häftlingen Heranwachse nde 18 bis unter 21 Jahre 31.12.2000 17.524 903 5,2 2.120 12,1 31.03.2005 15.459 621 4,0 1.634 10,6 31.03.2010 10.941 468 4,3 1.026 9,4 31.03.2012 11.195 358 3,2 1.045 9,3 Tabelle aus Eberitzsch 2013, S. 39: Untersuchungshäftlinge in Deutschland (Stichtagszahlen) Datenquellen: Villmow u.a. 2011, S. 241; Statistisches Bundesamt 2012, S. 5 und eigene Berechnungen %- Anteil der Heranwachsend en an allen U- Häftlingen Jahr 1995 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 Anzahl 857 948 1.060 1.051 1.099 1067 926 936 842 874 827 771 463 493 382 Tabelle aus Eberitzsch 2013, S. 40: Anzahl der in Untersuchungshaft inhaftierten Jugendlichen in NRW Datenquelle: Justizministerium NRW 2008 (1995-2006); Justizministerium NRW 2013 (2007-2009).

Unterbringungen gem. 71, 72 JGG 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Jugendliche in Untersuchungshaft 874 827 771 463 493 382 Gesamtzahl der Unterbringungen NRW - - - 89-100 Westfalen-Lippe 32 41 44 50-57 Rheinland - - - 39-43 Tabelle aus Eberitzsch 2013, S. 211: Darstellung der bekannten Zahlen zur Jugenduntersuchungshaft und zu Unterbringungen gem. 71, 72 JGG in NRW für den Zeitraum 2004 bis 2009. Datenquellen: (2004-2006) Justizministerium NRW 2008; (2007-2009) Justizministerium NRW 2013; Landesjugendamt Rheinland 2013; Landesjugendamt Westfalen-Lippe 2013. Welche Jugendhilfeangebote werden belegt? In der Regel spezialisierte, stationäre Einrichtungen

Zwischenfazit Inhaftierungszahlen sind rückläufig Unterbringungszahlen nehmen von einem niedrigen Niveau aus eher zu Alternativen zur U-Haft werdenaber noch nicht ausreichend, gem. des gesetzlichen Auftrag, angewandt Fast nur spezialisierte Einrichtungen werden belegt Es scheint immer noch die Frage ungeklärt wie der gesetzl. Auftrag zur Haftvermeidung prioritär umgesetzt werden kann!

Quelle: Eberitzsch 2013, S. 49

Haftentscheidungshilfe RdErl. 1995 2.1 Die Polizei unterrichtet das zuständige Jugendamt unverzüglich von der vorläufigen Festnahme jugendlicher oder heranwachsender Beschuldigter, sobald nach Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft eine Vorführung zur Entscheidung über den Erlass eines Haftbefehls zu erwarten ist ( 72 a JGG). ( ) 2.2 Das Jugendamt unterrichtet die Staatsanwaltschaft oder das Haftgericht unverzüglich über das Ergebnis der Prüfung alternativer Maßnahmen. 7

Haftentscheidungshilfe RdErl. 1995 2.3 Die StA setzt sich vor einem Antrag auf Erlass eines Haftbefehls mit dem Jugendamt in Verbindung und hört es an, soweit es noch nicht unterrichtet wurde. ( ) Beantragt die StA den Erlass eines Haftbefehls, so unterrichtet sie hierüber das Jugendamt und teilt ihm Ort und Zeit des gerichtlichen Vorführtermins mit. Das Jugendamt soll grundsätzlich am Hafttermin und Haftprüfungstermin teilnehmen. Etwaige weitere Erkenntnisse teilt das Jugendamt unverzüglich der StA und dem Haftgericht mit. ( ) 8

2. Ausgewählte empirische Befunde zum Handlungsfeld Befragung aller Jugendhilfen in NRW Interviewreihe mit Ermittlungs- und Jugendrichtern Konzeptanalyse von Angeboten der Jugendhilfe Eberitzsch 2013: Jugendhilfe und Strafjustiz. Die Abwendung von Untersuchungshaft für Jugendliche im Fokus der Jugendhilfeforschung. Eine empirische Analyse in Nordrhein-Westfalen. Zu beziehen unter: https://eldorado.tu-dortmund.de/bitstream/2003/30571/1/dissertation.pdf Weitere Literaturhinweise auf der meiner Webseite: http://www.zhaw.ch/fileadmin/php_includes/popup/persondetail.php?kurzz=ebez 9

Einbeziehung der Jugendhilfe Inwieweit wird die Erlasslage umgesetzt und die Jugendhilfe in das Ermittlungsverfahren mit eingebunden? 86% (n= 156) der JGH in NRW geben an, zumindest manchmal, in Haftentscheidungen einbezogen zu werden Quelle: Eberitzsch 2013 10

Strukturelle Verankerung der HEH in der Jugendhilfe Bereitschaftsdienst der JGH vorhanden? 37% n= 156 13% 50% Ja Nein, aber das Jugendamt hält einen Bereitschaftsdienst vor Nein Quelle: Eberitzsch 2013 11

Gibt es bei Ihnen vereinbarte Verfahren über die Einbeziehung der Jugendhilfe als Haftentscheidungshilfe? 19% Ja, gem. der Erlasssituation 52% n= 156 29% Ja, es sind auf örtlicher Ebene Absprachen getroffen worden Nein Quelle: Eberitzsch 2013 12

Wer informiert Sie über einen Haftentscheidungstermin? n= 127 34% 46% 14% 5% Polizei Staatsanwaltschaft Gericht Andere Quelle: Eberitzsch 2013 13

Qualität der Beratung Bei 87% der JGH ist eine Einrichtung zur U- Haftvermeidung bekannt. Wer ist für die Finanzierung der Unterbringungen verantwortlich? 31% 12% 57% falsch richtig unklar n= 155 Quelle: Eberitzsch 2013 14

Zwischenfazit II. JGH wird flächendeckend als HEH angefragt. Eine Spezialisierung auf dieses Thema ist aber sehr selten. Der Erlass scheint teilweise nicht umgesetzt zur werden. Die Qualität der Beratung wäre steigerungsfähig. 15

Herausforderungen bei der Verkürzung von U-Haft Die JGH gaben an, dass sie Jugendliche, denen gegenüber U-Haft vollzogen wurde und von denen sie Kenntnis erlangt haben, in der Haft auch immer besucht werden Es wird dann eher nicht versucht auf eine Haftprüfung hinzuwirken

Kooperationsherausforderungen im pädagogischen Prozess Zusammenspiel Einrichtung, Gericht, JGH Krisen gehören zum Prozess, aber wie können dies gemeinsam bearbeitet werden? Es gibt bisher wenig Möglichkeiten um die Zusammenarbeit auszuwerten

3. Diskussion Welche Entwicklungsanforderungen sehen Sie bei den verschiedenen Akteuren bzw. im Gesamtprozess? Wo sehen Sie Foren oder Gremien in denen diese Entwicklungsanforderungen bearbeitet werden können?

Zum Stand der U-Haftvermeidung für Jugendliche in NRW Diskussion möglicher Ansätze zur Weiterentwicklung Dr. Stefan Eberitzsch Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kontakt: ebez@zhaw.ch Untersuchungshaftvermeidung in NRW: Zwischen Ansprüchen und Realität Rückblick, Gegenwart und zukünftige Möglichkeiten Reinoldinum Dortmund, 12. März 2015