Wir sind alle Legastheniker manchmal Rechtschreibfehler als Anzeichen von Lernschwierigkeiten und Lernfortschritten? Hans Brügelmann (Universität Siegen) Eveline (I) Die fünfjährige Eveline muss sich jeden Morgen ihre langen blonden Haare mit dem ziependen Kamm frisieren lassen. Viel Zeit für schmerzhafte Gedanken über den Sinn des Lebens und die Ungerechtigkeiten in der Welt. Um so mehr erstaunt die Mutter, als plötzlich ein leises Lächeln über das Gesicht ihrer Tochter huscht und diese sagt: Jetzt weiß i endlich, warum i drei Kämm in mei m Nam n hab! 1
Eveline (II): Emotionale und kognitive Bedeutung Die Form der Schrift hat etwas mit mir als Person zu tun. Wie kann ich das <E> vom >F> unterscheiden? Konstruktion statt Kopie: Carlene Diese Fehler sind kein Wahrnehmungsproblem, sondern eine kognitive Differenzierung 2
Das internationale Kinder-E Zehn Schulanfänger schreiben Vier Häuser A D B C D E F G H J I 3
H E A I D B J F G C Vier Häuser - Auflösung... alles ist falsch, aber nicht zufällig - und es wird immer besser falsch Problem: Die großen Entwicklungsunterschiede Wenn eine Lehrerin eine Klasse mit 20 siebenjährigen Kindern vor sich hat, dann unterscheiden sich die Kinder in ihrem Entwicklungsalter um mindestens 3 Jahre. 4
Karawaneneffekt (1), nach P. May (1990) PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA-R-T 1 E FA--RAT 2 M 2 E Lernzuwachs heißt nicht richtig statt falsch, sondern Zunahme besserer Fehler 3 M 3 E 4 M 4 E FA--RAD FAH-RAD FAHRRAD Wann wurde Fahrrad unterrichtet? 5
Karawaneneffekt (2) PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA--RAT FA-R-T 1 E FA--RAT 2 M FA--RAD Gute Rechtschreiber machen dieselben Fehler wie der Durchschnitt 2 E 3 M 3 E FAH-RAD FAHRRAD FA--RAD FAH-RAD Wann wurde Fahrrad unterrichtet? 4 M FAHRRAD 4 E Karawaneneffekt (3) PZR Maja -- Sven -- Lea 1 M FA--RAT FA-R-T F------ 1 E FA--RAT F---R-T 2 M FA--RAD FA--R-T 2 E FAH-RAD FA--RAT 3 M FAHRRAD FA--RAD Schwache Rechtschreiber sind zum falschen Zeitpunkt normal Wann wurde Fahrrad unterrichtet? 3 E FAH-RAD 4 M 4 E FAHRRAD FA--RAD FAH-RAD Qualitativer Karawaneneffekt in der Rechtschreibung (nach May 1990) 6
Zwei Kinder Mitte 1. Klasse. Welche Strategien, welche Probleme? T0MT TOMAET AOTO AUTO SFR SOFA IGL IGFL Verdrehungen sind keine legasthenie-spezifischen Fehler 7
Rechtschreiberwerb: Erweiterung des Strategie-Repertoires... und nicht einfach Addition von Lernwörtern: logographische Strategie: MARC, MAMA, IGLU alphabetische Strategie: FATR, SULE, BUR orthographische Strategie: OMER, SCHPIHLN, KOHMEN morphematische Strategie: FAHR-RAD, aber auch: UND-ER-GRUND, WER-END Drei Kinder schreiben Kino und wer am besten? KINO KIENO KINO 8
Aus falschem Grund richtig aus richtigem Grund falsch KINO KIENO KINO Zwischenfazit: Fehler...... sind Ausdruck individueller Ordnungsleistungen und damit oft Anzeichen von Lernfortschritten Vier Häuser, Fahrrad, Kino... markieren den notwendigerweise begrenzten Grad des Könnens: nobody is perfect Kosog sches Diktat... variieren situationsabhängig, z.b. mit objektiver Überforderung oder subjektivem Stress Prüfungssituationen... können auch durch unzulängliche Erfahrungen oder eine spezifische Behinderung mit bedingt sein... sind aber meist normal 9
Boustrophedon Wechsel der Schreibrichtung und Raumlage 10
Legasthenie Der Satz Er kann nicht gut lesen, weil er eine Legasthenie hat ist eine Tautologie. Legasthenie gibt keine Erklärung, sondern ist eine bloße Beschreibung: Kinder mit sonst (über-)durchschnittlichen Schulleistungen, aber erheblichen Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen Frage: Ist eine solche Sonderung hilfreich? Nein, denn: Die Gruppe ist nicht in sich homogen, d. h. verschiedene Kinder haben unterschiedliche Probleme; und die Abgrenzung ist nicht trennscharf, denn diese Probleme finden sich auch bei anderen Kindern; zudem lassen sich keine spezifischen Ursachen ausmachen, d. h. gibt Kinder mit vergleichbaren Voraussetzungen, die NICHT diese Probleme zeigen. Folgerung: Es gibt kein besonderes Förderprogramm, keine Methode, die (nur) Kindern dieser Gruppe besonders hilft und anderen nicht 11
Was bedeuten diese Einsichten für die Förderung bei Lese-/ Rechtschreibschwierigkeiten? Prinzipien der Förderung Aufgaben, die kognitive (Re-)Konstruktionen herausfordern Angebote für unterschiedliche Voraussetzungen Kontexte, die Lesen & Schreiben persönlich bedeutsam machen Raum für individuelle Lernwege so geordnet, dass die Lehrperson den Überblick nicht verliert 12
Zwei Angebote Bartnitzky, H., u. a. (Hrsg.): Pädagogische Leistungskultur. Beiträge zur Reform der Grundschule. Bde. 119, 121, 124. Grundschulverband: Frankfurt. Bd. 119 (2005): Materialien für Klasse 1/2 (Deutsch, Mathematik, Sachunterricht) Bd. 121 (2006): Materialien für Klasse 3/4 (Deutsch, Mathematik, Sachunterricht) Bd. 124 (2007): Ästhetik, Sport, Englisch - Arbeits- /Sozialverhalten Brinkmann, E., u. a. (2008ff.): ABC-Lernlandschaft. vpm/ Klett: Stuttgart. Zum Hintergrund: Brügelmann, H./ Brinkmann, E. (2005): Die Schrift erfinden Beobachtungshilfen und methodische Ideen für einen offenen Anfangsunterricht. Libelle: CH-Lengwil (1. Aufl. 1998). Direkte Instruktion Differenzierung durch die Kinder Differenzierung durch die Kinder Abgestimmte Übungsaufgaben 13
Gemeinsame Entwicklung von Arbeitsformen und Lese- und Schreibstrategien 14
Strategien des Lesens: Wörtersack oder Lesekrokodil Welches Wort kann das werden? Selbstständiges Lernen im Wechsel von individueller und gemeinsamer Arbeit 15
Individuelle Buchstabenhefte mit eigenen Wörtern und Bildern: Lernaufgabe für Kinder Beobachtungsaufgabe für LehrerInnen Herstellung individueller wachsender Anlauttabellen inzwischen individuell am PC herstellbar: ABC-Lernlandschaft 16
Freies Schreiben mit der Anlauttabelle Soziale Einbettung als Motor Sinn 17
Eigene freie Texte Übersetzung in Buchschrift Selbstständiges Lernen im Wechsel von individueller und gemeinsamer Arbeit 18
als Anlass zum dialogischen Vorlesen 19
und als Ort zum gemeinsamen Lesen Selbstständiges Lernen im Wechsel von individueller und gemeinsamer Arbeit 20
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Aber: Lernen alle Kinder auf diese Weise alles? Nein doch das tun sie bei keiner Methode. Dennoch: Sie werden alle besser auch unter schwierigen Bedingungen. Ein Beispiel Fortschritte im Lesen- und Schreibenlernen unter erschwerten Bedingungen erkennen und fördern Ein Fallbericht nach: Rödler, K. (1998): Ein Kind lernt schreiben. In: Behindertenpädagogik, 37. Jg., H. 4, 2-15. 25
Steckbrief Nach 8 Monaten: Erste eigene Schreibversuche (im Vergleich mit einer Durchschnittsschülerin) 26
Ein Jahr später: Anfang 2. Klasse 1½ Jahre später: Mitte 2. Klasse (II) 27
2 Jahre später: Anfang 3. Klasse (I) 2 Jahre später: Anfang 3. Klasse (II) 28