Klinische Neuropsychologie für die ambulante Versorgung. für die Arbeitsgruppe Paul Reuther Ahrweiler

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Transkript:

Klinische Neuropsychologie für die ambulante Versorgung für die Arbeitsgruppe Paul Reuther Ahrweiler

Klinische Neuropsychologie Diagnostik und Therapie von geistigen (kognitiven) und seelischen (emotional-affektiven) Störungen, Schädigungen und Behinderungen nach erworbener Hirnschädigung oder Hirnerkrankung (hirnorganische Störung) unter Berücksichtigung der individuellen physischen, psychischen Ressourcen, biographischen Bezüge und inneren Kontextfaktoren (z. B. Antrieb, Motivation, Anpassungsfähigkeit) des Hirngeschädigten/ Hirnerkrankten

Arbeitsbereiche der klinischen Neuropsychologie Bewusstseins- und Wahrnehmungsfunktionen Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfunktionen Gedächtnisfunktionen, Lern- und Merkfunktion Funktion des planendes Denkens und Problemlösens (Exekutive) Sprachfunktion und andere Hirnwerkzeugfunktionen z.b. Lesen, Schreiben und Rechnen Emotionalaffektive Reaktionen und Verhaltensweisen Selbstregulation und Störungseinsicht Krankheitsverarbeitung und Akzeptanz von Behinderung Anwendung der kognitiven Funktionen im Alltag (Aktivität/ Performanz) Auswirkung auf psychosoziale Beziehungen Kontext zu prämorbider Kapazität

Therapeutische Interventionen der klinischen Neuropsychologie übende Verfahren (Funktionstherapie) zur Funktionsrestitution (Plastizität und neuronale Reorganisation) kompensatorische Interventionen (Kompensationstherapie) zur Anpassung an kognitive Störungen/Behinderungen und zum Erlernen von Ersatz- und Bewältigungsstrategien integrierende Verfahren* (Integrationstherapie) zur Verarbeitung und psychosozialen Anpassung und zur Reintegration in das soziale und berufliche Umfeld * in der AG umstritten: Überschneidung mit Teilen der RL-PT

Vier Schritte des neuropsychologischen Therapieprozesses Bewusstmachung der neuropsychologischen Defizite (Awareness) Funktionsbehandlung der basalen kognitiven Defizite (zb Alertness, Informationsverarbeitung) Restitutions- und Kompensationsbehandlung der spezifischen Defizite (zb visuelle Explorationstechniken, Gedächtnisstrategien, Planungsvorgänge, affektive Umstrukturierung) Generalisation/Transfer der Behandlungsergebnisse in das alltägliche Leben (zb berufliche Wiedereingliederung) Trexler 1987/2003

Störungen: Daten aus der Klinik Enzensberg 1989 Schlaganfall 51,6% Hirntumore 7,2% Schädelhirntrauma 5,9% Entzündliche/ hypoxische Schädigung 2,4% Halbseitenlähmungen 74% 58% 29% 19% Handfunktion-Störungen 82% 53% 44% 47% Cerebrale Sehstörungen 16% 15% 12% 10% Räumliche-visuelle Konstruktive Störungen 21% 13% 13% 22% Orientierungsstörungen 9% 8% 14% 10% Aufmerksamkeitsstörungen 69% 73% 76% 78% Lern- und Gedächtnisstörungen 32% 33% 52% 44% Planungs- und Problemlösestörungen 30% 33% 38% 50% Neglect 10% 3% 4% Apraxie 5% 2% 2% Sprachstörung 17% 18% 12% 10% Sprech- und Stimmstörung 13% 7% 16% 19% Psychopathologische Störungen 39% 40% 53% 52%

Epidemiologische Daten Kasten 2002 Inzidenz hirngeschädigter Menschen 550.000, davon 10% mit ambulanter Weiterführung neuropsychologischer Behandlung nach REHA (55.000) Wallesch 2004 Jahresbedarf an ambulanter neuropsychologischer Diagnostik 150.000 Jahresbedarf an ambulanter neuropsychologischer Behandlung 50.000 Schlaganfall Inzidenz 150.000 Rehabilitations- und ambulanter Behandlungsbedarf 80.000 bis 100.000 Prävalenz chronischer Schlaganfallpatienten 300.000 Wallesch 2001 und 2004 Aufmerksamkeitsstörungen > 50% Visuokonstruktive Störungen und Neglect 20% Aphasie 30% Post-Stroke-Depression 20% Post-Stroke-Demenz 10-30%

Schädelhirntrauma Inzidenz 160.000 (plus Dunkelziffer) NP Diagnostikbedarf 100.000 NP Rehabilitations- und ambulanter Behandlungsbedarf 50.000 Prävalenz chronischer SHT-Patienten 200.000 (hohe Unterversorgungsrate) Zomeren 1989 Gedächtnisstörungen 49% Müdigkeit 41% Gesteigertes Schlafbedürfnis 39% Irritierbarkeit 36% Langsamkeit 34% Aufmerksamkeitsprobleme 31% Ängste 31% Intoleranz gegenüber Lärm/Geräusche 27% Benommenheit 26% Antriebsstörung 25% außerdem exekutive Störungen Verhaltensauffälligkeiten (emotionale und soziale Kompetenz) Depressionen, Ängste, Belastungsstörungen

Epilepsien Prävalenz 400.000 () Aufmerksamkeits-, Gedächtnis- und Exekutivfunktion durch Anfälle und Medikation (Berufstätigkeit, Berentung, Prächirurgische Diagnostik, ) M. Parkinson Prävalenz 150.000 konzentrative- und exekutive- und visuoräumlische Funktionen Multiple Sklerose Prävalenz 150.000 Aufmerksamkeitsfunktionen (Fatigue), exekutive Funktionen und Demenzentwicklung (Berufstätigkeit, Berentung, Kraftfahreignung) Entzündliche, hypoxische und toxische Hirnschädigungen Demenzen und degenerative Hirnerkrankungen Differenzierung und Medikamentenindikation Schizophrene und affektive Psychosen Neurobiologie der Ätiopathogenese

Probleme der Verortung der Leistungserbringung Ärztliche Leistungserbringer Fachärzte Neurologie, Psychiatrie-Psychotherapie, Nervenärzte seit 1998 spezielle Zusatzqualifikation DGN 3-Jahre (!) seit 2004 spezielle Zusatzqualifikation DKN 2-Jahre Psychologische Leistungserbringer Dipl. Psychologe, Klinischer Psychologe seit 1998 spezielle Zusatzqualifikation GNP, BDP,DGP 3 Jahre (!) neu: Weiterbildung Neuropsychologie für psychologische Psychotherapeuten 3 Jahre (LPK RLP 2004) Ergotherapeuten Hirnleistungstraining/neuropsychologisch orientierte Behandlung nach Heilmittel-Richtlinie 2001 Andere Klinische Linguisten, Pädagogen, Ergotherapeuten, Logopäden, Pflegekräfte und Physiotherapeuten : Ausbildungskonzept DKN

Verfügbarkeit klinischer Neuropsychologie (fast) regelhaft in stationären akutmedizinischen Einrichtungen der Neurologie und Psychiatrie/Psychotherapie zur Diagnostik und evtl. Therapie regelhaft in stationären, teilstationären und ambulanten Rehabilitationseinrichtungen in Neurologie und Psychiatrie- Psychosomatik (und Geriatrie) zur Diagnostik und Therapie aber bislang nicht in der ambulanten VertragsVersorgung (einige spezialisierte Facharzt- und Psychologenpraxen meist im Auftrag von GUV, PKV, PUV)

Es sind die geistigen und seelischen Störungen und Folgen einer erworbenen Hirnschädigung - weniger die körperlichen Funktionsstörungen -, die im Langzeitverlauf auch nach 5 und 7 Jahren für den Betroffenen eine Rolle spielen (Books et al 1987) Der Wiedereingliederungserfolg nach Hirnschädigung hängt weitaus stärker von psychosozialen Faktoren, Antrieb, Verarbeitung und Akzeptanz verbleibender Behinderungen, Flexibilität und Anpassungsbereitschaft und sozialer Kompetenz ab als von bestehenden motorischen oder basalen kognitiven Funktionsstörungen (Malec 1993, Prigatano 1994, Saeki 2001, Wendel 2003, Fries 2005) Eine systematische neuropsychologische Nachsorge neurologischer Rehabilitationspatienten existiert bisher nicht (VDR 1991) Nach Entlassung aus der Klinik ergibt sich für fast alle Hirngeschädigten das Problem der Nachsorge, da es im ambulanten Bereich kaum niedergelassene Therapeuten gibt (VDR 1994)