Supply Chain Management: Sieben Thesen zur zukünftigen Entwicklung logistischer Netzwerke



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Transkript:

Supply Chain Management: Sieben Thesen zur zukünftigen Entwicklung logistischer Netzwerke Bretzke (2006 b) 1. Problemstellung und Untersuchungsziele Supply Chain Management verkörpert den Zeitgeist moderner Logistik. Die Frage, ob dieses Konzept das Schicksal vorhergehender Managementmoden wie Business Process Reengineering erleiden und eines Tages infolge enttäuschter Erwartungen in der Versenkung verschwinden wird, ist freilich noch nicht entschieden. Ihre Beantwortung hängt auch davon ab, wie hoch die Ansprüche und Erfolgsverheißungen sind, die man mit diesem Konzept verbindet. Nach weitgehender Übereinstimmung handelt es sich bei Supply Chain Management um eine integrative Philosophie to manage the total flow of a distribution channel from the supplier to the ultimate user. 1) Diese Philosophie basiert auf einem holistischen Ansatz und beruft sich dabei auf das Systemdenken: Systems thinking involves movement away from functional department suboptimization to a holistic optimization of the entire supply chain. 2) Entsprechend ist das Konzept auch im deutschsprachigen Schrifttum aufgegriffen worden: Die Idee des SCM ist es, das logistische Netzwerk ganzheitlich zu planen, zu steuern und zu kontrollieren. Dadurch wird das Ziel verfolgt, ein Gesamtoptimum über alle Unternehmen hinweg... zu erreichen.... 3) Die folgenden, thesenhaft verdichteten Ausführungen beinhalten eine kritische Würdigung der Potenziale und Grenzen dieses Ansatzes. Sie basieren in wesentlichen Teilen auf drei jüngeren Publikationen des Verfassers 4). Dabei gehen sie von zwei unterschiedlichen Intensitätsgraden der unternehmensübergreifenden Prozessintegration aus, deren Machbarkeit höchst unterschiedlich zu bewerten ist. Als (relativ) schwächere Variante der Integration wird die Herstellung einer netzwerkweiten Transparenz von Bedarfen, Beständen, Kapazitäten und Prozesszuständen definiert. Innerhalb dieser Variante bleibt die Autonomie der Netzwerk- Mitglieder erhalten, und die unternehmensübergreifende Koordination erfolgt insoweit hierarchiefrei. Eine stärkere Integration der Supply Chain ist dann gegeben, wenn sich Manager auf verschiedenen Wertschöpfungsstufen bei ihren Entscheidungen nicht von eigentumsrechtlich bedingten Partikularinteressen leiten lassen, sondern auf der Basis der neu gewonnenen Visibilität ein unternehmensübergreifendes Gesamtoptimum für ganze Lieferketten suchen. Die Kritik beginnt mit der Frage nach dem Objekt für eine solche Optimierung. 2. Thesen zur Diskussion These 1 : Supply Chains sind problematische Konstrukte Der Begriff Supply Chain ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Er verengt den Blick von verzweigten Netzen auf lineare Ketten, und er suggeriert dabei, Supply 1

Chains böten sich als Objekte einer ganzheitlichen Gestaltung in ähnlicher Weise an wie einzelne Unternehmen als vorgeformte Gebilde mit einer klar umrissenen Grenze zwischen sich und ihrer Umwelt. Tatsächlich aber sind viele Unternehmen Kreuzungen, durch die hindurch Lieferwege von ganz unterschiedlichen Vorlieferanten zu ganz unterschiedlichen Endprodukteherstellern laufen. Im Urzustand sind sie damit Elemente einander überlappender, mehrseitig offener, polyzentrischer Netze. Das ist zunächst einmal nicht Ausdruck einer logistischen Schwachstelle, sondern eine Folge durchdachter unternehmerischer Strategien. Dysfunktionale Wirkungen zeigen diese (in der Regel nicht nur logistisch begründeten) Strategien erst dann, wenn man sie an den Anforderungen von Supply Chain Management misst. Die mit dem Supply-Chain-Begriff verbundene sequenzielle Wertadditionsperspektive 5) verliert ihren Anschein von Selbst-Evidenz, wenn man die Substituierbarkeit von Partnern zulässt. Schon bei der Konzentration auf zwei Wertschöpfungsstufen führen Strategien einer Mehrquellenversorgung bzw. einer Bedienung mehrerer Kunden und multipler Absatzkanäle in eine Situation, in der man sich, modelltheoretisch gesprochen, die Formulierung einer für alle tangierten Unternehmen gültigen Zielfunktion nicht mehr vorstellen kann. Jede Beziehung zwischen zwei Unternehmen, die mit der anderen Marktseite nicht exklusiv kooperieren, ist doppelt kontingent, d.h. jedes dieser beiden Unternehmen hat eine eigene Agenda und einen anderen Entscheidungskontext, was die Konvergenz der gesuchten Lösungen in ein gemeinsames Optimum schon bilateral unmöglich macht. Versuche, weitere Wertschöpfungsstufen in einen ganzheitlichen Problemlösungsprozess einzubeziehen, erzwingen die Durchdringung zunächst fremder Stücklisten und Lieferantenbeziehungen, und sie landen damit vollends im Nebel der Komplexität. Aus diesen überkomplexen Beziehungsnetzen kann man zwar begrenzte Gebilde herausschneiden, die dann etwa zentriert um ein marktmächtiges fokales Unternehmen - als Objekte einer unternehmensübergreifenden Optimierung zur Verfügung stehen könnten. Allerdings ist dieser Akt der Konstitution eines Referenzsystems nicht willkürfrei möglich, d.h. schon der Versuch der ganzheitlichen Betrachtung und Gestaltung muss mit einem Verrat an der eigenen Idee beginnen. Schließlich kann man nicht ausschließen, dass das theoretische Gesamt-Optimum schon bei diesem Akt der Komplexitätsreduktion verloren gegangen ist. Wie jede Form menschlichen Problemlösens basiert Supply Chain Management in Teilen auf der Ignoranz von Interdependenzen. Pragmatiker werden nun an dieser Stelle zu Recht einwenden, dass es immer noch besser ist, ein begrenztes Netzwerk zu optimieren, das zuvor aus einer unübersichtlichen Gesamtstruktur nicht ganz willkürfrei herausgeschnitten worden ist, als jeden Versuch in dieser Richtung ganz zu unterlassen. Dem wäre zu folgen, wenn dies der einzige konzeptionelle Mangel des SCM-Konzeptes wäre. These 2: Der Managementvision fehlt das Organisationskonzept Selbst bei einer pragmatischen Beschränkung des Optimierungsanspruchs auf einen ausgewählten Kreis strategisch wichtiger Partner fällt eine für die Implementierung kritische konzeptionelle Lücke ins Auge: Die Idee der durchgängigen Gestaltung und Optimierung ganzer Supply Chains ist offensichtlich in einem weitgehend organisationsfreien Raum gedacht. Mit einer irritierenden Leichtigkeit wird innerhalb des SCM-Kontextes immer wieder eine Ausdehnung der Verfügungsgewalt von 2

Führungskräften über die Grenzen des Eigentums postuliert bzw. gefordert. Die gleichzeitig in vielen Publikationen feststellbare Überfixierung auf Fragen der Ablauforganisation suggeriert, man könne durch eine intelligente Prozessintegration Fragen einer angepassten Aufbauorganisation individuell suspendieren und/oder kollektiv überspringen. Mindestens für die stärkere Integrationsvariante müsste aber vorab geklärt werden, wer z.b. über die Aufnahme und den Ausschluss von Netzwerk-Mitgliedern entscheidet, wer über einen Strategiewechsel befindet, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen (außerhalb der ganzheitlichen Optimierung?) auch Geschäfte mit Dritten zulässig sind, wie und durch wen Kosten und Nutzen der Kooperation festgestellt und verteilt werden sollen, wie Zielkonflikte zu lösen sind usw. Braucht man dafür nicht irgendeine Art von Sekundärorganisation, die bei Versorgungsengpässen beispielsweise legitimiert wäre, Produktionspläne von Henkel zusammen mit Proctor & Gamble-Aufträgen so umzuschreiben, dass das Ganze dann ein auf die Kapazitäten der Vorlieferanten abgestimmtes Optimum ergibt? Soweit das Thema Governance Structures in der Supply Chain Management Literatur adressiert wird, werden in der Regel zwei alternative Lösungen des Führungsproblems angesprochen, die allerdings nur selten weiter ausgearbeitet werden: die Orientierung an einem mit ausreichender Marktmacht ausgestatteten fokalen Unternehmen, und eine kooperative, dezidiert heterarchische Form der netzwerkweiten Selbstorganisation mit Namen Collaboration. 6) Ob diese beiden Ansätze einander ausschließen und jeweils unter anderen spezifischen Randbedingungen zum Tragen kommen sollen oder auch in einer Mischform vorstellbar sind, bleibt dabei in der Regel offen. Offen bleibt damit auch die Frage, wie sich leadership mit dem ideal of self-organizing, poly-centric actors forming a supply chain verträgt.7) Aus Sicht der SCM-Konzeption vereinfacht Macht das zu lösende Problem. Wenn Macht ausreicht, um Koordinationsprozesse unternehmensübergreifend zu hierarchisieren, dann müsste man organisationsseitig nichts wirklich Neues schaffen. Der Vorwurf des konzeptionellen Defizits griffe insoweit ins Leere, und die SCMtypische, begrenzende Fokussierung auf das Design von Prozessen bliebe unschädlich. Allerdings ist das mit einigen Beschränkungen verbunden. Wenn ausgeprägte Marktmacht die notwendige und hinreichende Bedingung dafür ist, an die SCM- Potenziale heranzukommen, macht die Empfehlung dieser Konzepte als best practice nur noch wenig Sinn: Macht kann man weder imitieren noch ad hoc schaffen. Entsprechende Empfehlungen gelten dann nur für jene, die schon Macht haben. Alle anderen haben sich anzupassen oder bleiben draussen. In solchen Konstellationen würde auch die Rede von Partnerschaften und Win-Win- Situationen, die die SCM-Literatur wie ein roter Faden durchzieht, wenig Sinn machen. Wo Macht auftritt, gilt eher die Regel The winner takes it all. Auch von ganzheitlicher Optimierung sollte dann nicht mehr gesprochen werden. Dem Machtinhaber werden abweichende Handlungs- oder Gestaltungsempfehlungen anderer Netzwerkteilnehmer nur als Ausdruck zu überwindender Bereichsegoismen erscheinen. Das liefert umgekehrt den Betroffenen ein starkes Motiv, angesichts der mangelnden Opferbereitschaft der Machtinhaber das Netzwerk zu verlassen oder eine ausreichende Gegenmacht zu entwickeln und damit in der Verfolgung eigener Ziele unabhängig zu werden. Marktmacht mag ausreichen, im Verhältnis zu First-Tier-Suppliern Übereinstimmung mit den eigenen Anforderungen durchzusetzen. Für eine Konstitution 3

geschlossener Netze, die über mehrere Wertschöpfungsstufen reichen und einer ganzheitlichen Planung unterworfen werden können, reicht sie in der Regel nicht aus. Macht erweist sich damit als ein unvollkommenes Substitut für eine eigenständige Supply Chain Organisation. Liegt die Lösung in der Kooperation? Auch da sind Zweifel angebracht. Die Hierarchiefreiheit, der das Alternativmodell Collaboration den Charme des Neuen verdankt, ist gleichzeitig für eine zentrale Schwäche dieses Konzeptes verantwortlich. Da dieses Konzept nicht die Konturen eines neuen Organisationsmodells hat, sondern sich eher in Appellen erschöpft, die kulturellen Rahmenbedingungen eines Leistungsaustausches zu ändern und dabei erforderlichenfalls Machteinsatz durch Partnerschaft zu ersetzen, bleibt es als alleiniges Objekt praktischer Implementierungsprojekte nicht nur zu unscharf, sondern letztlich sinnlos. Collaboration ist kein Selbstzweck, sondern eine (nicht ganz problemfreie) Voraussetzung dafür, dass konkretere SCM-Projekte wie VMI, ATP oder CPFR, die die versprochenen Wertsteigerungen über strukturierte Prozessänderungen im Rahmen der schwächeren Integrationsvariante nachliefern, angegangen und zum Erfolg geführt werden können. 8) Letztlich liefern beide Ansätze keine befriedigenden Antworten auf die Frage, welche organisatorischen Vorkehrungen die Ermittlung und Realisierung netzwerkweiter Optima erschließen könnten. Top down lassen sich Netze weder konfliktfrei noch vollständig schließen, und bottom up kann man bestenfalls auf eine (ergebnisoffene) Emergenz von Systemen höherer Ordnung hoffen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass diese Ansätze bislang zwar über bilateral implementierte Prozessinnovationen so etwas wie Vernetzung gefördert, aber keine Netzwerke als mit eigener Identität ausgestattete neue Organisationsformen hervorgebracht haben. Auch Systeme höherer Ordnung müssen zwei Mindestbedingung der Systemhaftigkeit erfüllen: sie müssen über klare Grenzen zwischen sich und ihrer Umwelt verfügen und einheitliche Ziele verfolgen. Für das Ausbleiben solcher institutioneller Innovationen gibt es aber auch noch andere Ursachen als das Fehlen einer unternehmensübergreifenden Führungsstruktur. These 3: Vertikale Integration kostet Flexibilität und Skaleneffekte Unter vielen Vertretern des SCM-Konzeptes gilt es als ausgemachte Sache, dass sich der Wettbewerb zukünftig von der Ebene einzelner Unternehmen auf die Ebene ganzer Supply Chains verlagern wird (vgl. hierzu auch These 6). Dabei wird nicht immer klar gesagt, ob eine derart rigide Integration, mit der vertikal verbundene Firmen zu unternehmerischen Schicksalsgemeinschaften verflochten werden, das Ende einer evolutionären Entwicklung markieren oder bereits als Voraussetzung für die volle Ausschöpfung der SCM-Potenziale gelten müssen. Es lässt sich mit verschiedenen Argumenten zeigen, dass im Hinblick auf den Anspruch einer Supply Chainübergreifenden Optimierung letzteres angenommen werden muss. Zwei der meistdiskutierten Hauptargumente folgen aus der Notwendigkeit spezifischer Investitionen und der Notwendigkeit von Vertrauen. Beiden Argumenten gemeinsam ist, dass sie sich nicht mit opportunistischem Verhalten vertragen. Spezifische Investitionen in Schnittstellen, die in dem hier diskutierten Kontext angesichts der chronischen Standardisierungsdefizite bei Collaboration-Workflows und IT-Systemen unerlässlich sind, würden durch einen Partnerwechsel zu versunkenen Kosten entwertet. Und Partnern, die keine Treue zeigen, vertraut man nicht die für ein integriertes Bedarfs- 4

/Kapazitätsmanagement unerlässlichen sensiblen Informationen an. Nimmt man die hierdurch ermöglichten Transaktionskostenvorteile (ersparte Such- und Verhandlungskosten) als eine Art Treuerabatt hinzu, so landet man sehr schnell in der Exklusivität. Betrachtet man die hier aufgeworfene Frage näher, so zeigt sich freilich, dass es neben diesen ökonomisch-psychologischen Argumenten auch rein konstruktionsbedingte, prozess-technische Argumente für eine strikte vertikale Integration gibt. Beispielhaft lässt sich das an dem für SCM zentralen Capable-to-Promise-Konzept herleiten. Die mit belastbaren Lieferzeitzusagen verbundene Planungssicherheit kann man durch dieses Konzept nur erlangen, wenn Lieferanten auf eine entsprechende Verfügbarkeitsanfrage nicht nur mit Auskünften über die aktuelle oder eine wahrscheinliche zukünftige Kapazitätssituation reagieren, sondern mit Kapazitätsreservierungen. Wer mit seinen Kapazitäten mehrere Kunden oder Absatzkanäle versorgt, muss freilich immer damit rechnen, dass der prognostizierte Mehrbedarf zu einem Zeitpunkt entfällt, wo er bereits Aufträge anderer Kunden abgelehnt hat. Entschädigungslose Vorab-Reservierungen, die nur eine Seite binden, wären schlicht Risikoüberwälzungen, die sich nicht mit der Rede von Partnerschaft und Win-Win-Situationen vertragen. Selbst faire Entschädigungen für einen Kapazitätsverfall aber wären das Eingeständnis, dass es infolge nicht konsequent geschlossener Systemgrenzen keine stabilen internen Gesamt-Optima gibt. Analoge Probleme sind auf der Seite der Abnehmer vorstellbar. Zulieferer mit vorübergehenden Kapazitätsengpässen könnten im Sinne eines internen Supply Chain Optimums verlangen, dass die Abnehmer ihre eigenen Kunden (als Kunden der Supply Chain) warten lassen, anstatt sich opportunistisch über Dritte zu versorgen. Wenn die Mitglieder eines Netzwerkes zum Wohle eines größeren Ganzen aber immer wieder die Chancen von Markt und Wettbewerb ungenutzt (und damit Kapazität verfallen und/oder Kunden warten lassen) müssen, wird niemand mehr mit dem Wort Optimierung noch eine sinnvolle Vorstellung verbinden können. Das funktioniert nur auf der Basis einer rigiden Integration, wenn nach Schließen der Außengrenzen eines Netzwerkes die hier geschilderten Probleme mangels Alternativen zu internen Problemen werden, die schlicht hinzunehmen sind. Was dabei nicht entfällt, sondern nur aus dem beschränkten Entscheidungshorizont verschwindet, sind die Opportunitätskosten des Verzichtes auf eine Nutzung des Marktes. Sie sind der Preis der durchgehenden Optimierung. Die Folgerungen liegen nunmehr auf der Hand: Offen gehaltene Beschaffungs- und Absatzkanäle fragmentieren Supply Chains und machen sie als Ganzheit unplanbar. Wer eine marktwirtschaftliche Koordination für ineffizient hält, muss (jedenfalls, wenn er an dem Leitbild der ganzheitlichen Optimierung festhält) verzweigte Netzwerke auf lineare Ketten reduzieren ganz oder gar nicht. Es ist absehbar, dass er damit (frei nach Adam Smith) unwillentlich Ziele fördern wird, die nicht Teile seiner Absicht sind. Zu diesen Folgekosten zählen neben dem beispielhaft bereits herausgearbeiteten Flexibilitätsverlust vor allem auch durch Exklusivität zerstörte Skaleneffekte. Vertikal integrierte Lieferketten geben mit ihrer Architektur nicht nur einen Freiheitsgrad der Anpassung an veränderte Marktbedingungen auf, sondern verschließen sich darüber hinaus einer wichtigen Quelle der Produktionskostendegression. 5

These 4: Die (Teil-)Suspendierung des Marktmechanismus schwächt die Wettbewerbsposition vertikal integrierter Supply Chains Durch eine rigide vertikale Integration wird der Wettbewerb gleich an zwei Stellen suspendiert. Lieferanten werden von dem Zwang entbunden, sich auf ihrer Wertschöpfungsstufe immer wieder neu im Wettbewerb zu behaupten. Und Preiskämpfe zwischen den Wertschöpfungsstufen werden suspendiert, weil sie dem Ziel der Transaktionskostensenkung und dem Geist der Partnerschaft widersprechen (im Übrigen wären sie auch sinnlos, weil es mangels Alternativen keine Druckpotenziale mehr gibt). Die daraus resultierenden Wirkungen auf die Anreizsysteme der beteiligten Unternehmen werden nur selten bedacht. Sie sind gravierend. Der Ersatz von Marktpreisen durch Verrechnungspreise hat zwangsläufig verzögerte oder verzerrte Anpassungen zur Folge. So würde etwa ein Zulieferer, in dessen Markt es zu Überkapazitäten kommt, als festes Glied einer als Einheit geformten Supply Chain zunächst keinerlei Veranlassung sehen, die ihm unter anderen Bedingungen zugestandenen Verrechnungspreise freiwillig zur Disposition zu stellen. Da sich sein Partner und ehemaliger Kunde das Ausnutzen günstiger Gelegenheiten selbst versagt hat und deshalb seine Marktübersicht verliert (nur durch den Abbau von Einkaufsfunktionen lässt sich ja die erhoffte Senkung der Transaktionskosten ergebniswirksam realisieren), werden solche Preisbewegungen möglicherweise auch gar nicht mehr zeitnah und präzise wahrgenommen. Die äußere Wettbewerbsfähigkeit der Supply Chain nimmt damit ab, weil sie den Wettbewerb im Inneren als Energiequelle außer Kraft gesetzt hat. Das unterlegene Anreizsystem kann auch noch an einer anderen Stelle Schaden stiften. In dynamischen Märkten werden die Beteiligten schon nach kurzer Zeit nicht mehr wissen, ob die zwischen ihnen über Verrechnungspreise vereinbarten Verteilungsregeln irgendwelchen Ansprüchen von Fairness und Gerechtigkeit genügen. Das kann für ähnlich viel Sprengstoff sorgen wie der Eindruck, man könne Produkte außerhalb der eigenen Supply Chain zu besseren Konditionen verkaufen oder erstehen als innerhalb der eigenen Organisation. Die Verträglichkeit mit dem Shareholder-Value-Konzept bleibt offen und wird bezeichnenderweise nicht einmal im Ansatz diskutiert. Den größten Schaden dürfte die Abschaltung der Kraftquelle Wettbewerb aber im Bereich der Innovationsdynamik haben. Lieferanten, deren Absatz schon durch die Zugehörigkeit zu einer Lieferkette gesichert erscheint, müssen ihre Existenzberechtigung nicht mehr dadurch erneuern, dass sie sich permanent an der Spitze des technischen Fortschritts behaupten. Letzteres dürfte ihnen auch schwer fallen, da ihnen die Inspiration fehlt, die andere Unternehmen dadurch erfahren, dass sie im Markt ständig mit den Erwartungen und Anforderungen unterschiedlicher Kunden konfrontiert werden. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass vertikal integrierte Supply Chains Lieferanten vom Schlage Intel oder Bosch hervorbringen können. Sie können sie auch nicht nachträglich integrieren. Solche Unternehmen beziehen ihre Kraft aus ihrer Autonomie. These 5: Lokale Entscheidungen liefern bessere Ergebnisse als eine netzwerkweite Zentralplanung Nun liefert das SCM-Konzept mit den bislang unterschlagenen Vorteilen der vertikalen Integration Kompensationsmöglichkeiten zum Ausgleich der bislang herausgestellten Nachteile. Schließlich sind die Potenziale, die durch eine 6

wertschöpfungsstufenübergreifende Optimierung erschlossen werden können, noch gar nicht daraufhin untersucht worden, ob sie nicht trotz aller genannten Beschränkungen immer noch gravierend genug sind, um den beteiligten Unternehmen unter dem Strich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Immerhin scheinen diese Potenziale auf der Hand zu liegen. Schließlich kann man auf einer logischen Ebene stringent beklagen, dass Zusammenhänge verloren gehen, Lösungsräume schrumpfen, Zielkonflikte nicht sorgfältig ausbalanciert werden und einige besonders vorteilhafte Handlungsoptionen ganz aus dem Blickfeld verschwinden, wenn verschiedene Organisationseinheiten, die im Verhältnis zueinander Prozessnachfolger sind, die Konsequenzen ihrer jeweiligen Entscheidungen wechselseitig als Datum (und damit als Restriktion) betrachten, anstatt alle irgendwie zusammenhängenden Probleme simultan zu lösen. Außerdem müssen separierte Entscheidungsprozesses durch Puffer entkoppelt werden, um die in Kauf genommenen Abstimmungsdefizite zu neutralisieren. Damit werden integrierte Supply Chains schlanker. Bei näherer Betrachtung wird jedoch schnell deutlich, dass die zur Berücksichtigung von Interdependenzen erforderliche Zentralisierung von Entscheidungen alles andere ist als ein Königsweg zum Erfolg. Die Schwierigkeiten beginnen schon mit der Modellierung der vormals lokal gehandhabten Probleme im Rahmen eines ganzheitlichen Supermodells. Optimierung basiert auf Komplexitätsreduktion. Ein als unternehmensübergreifende Optimierung verstandenes Supply Chain Management ist deshalb nur auf der Grundlage abgekappter Interdependenzen, impliziter Annahmen und bewusst oder unbewusst ausgeklammerter Abhängigkeiten möglich, d.h. als Suboptimierung eines von allen mathematischen Unhandlichkeiten bereinigten und qua Prämissenbildung drastisch vereinfachten Ausgangsproblems. Modellbildung als Voraussetzung von Optimierung ist immer mit einem Realitätsverlust verbunden und muss Opportunitäten negieren, weil sie Restriktionen braucht. Dabei bleibt sie auf die Verarbeitung quantifizierbarer Informationen beschränkt. Im Zweifel gehen Messbarkeit und Rechenbarkeit ( Modellierbarkeit ) vor Relevanz. Beides macht diesen Ansatz arm im Vergleich zu der Fülle an schwächer strukturiertem Wissen, die in nicht modellbasierten, dezentralen Entscheidungsprozessen verarbeitet werden kann. Einen Betriebsrat angesichts einer unerwarteten Bedarfsspitze ad hoc zu einer Wochenendschicht zu überreden, kann Lösungsräume jenseits modellierter Restriktionen erschließen, auf die ein Optimierungskalkül schon konstruktionsbedingt nie kommen kann. Auch ohne Optimierungsmodell würde eine zentrale Planungsinstanz diese Möglichkeit vermutlich aber nicht sehen. Sie kann sich ein solches lokales Wissen nur sehr begrenzt verfügbar machen, weil es keinen Weg gibt, solche Informationen bedarfsgerecht bottom up fließen zu lassen. Mit der schlechteren zentralen Informationsversorgung korreliert das Problem der erhöhten Irrtumsrisiken. Besonders nachteilig wirkt sich dabei aus, dass Fehlentscheidungen in integrierten Supply Chains gravierendere Auswirkungen haben, weil sie mehr Ressourcen in die falsche Richtung lenken. Ein erhöhtes Irrtumsrisiko paart sich also mit erhöhten Folgekosten. Das impliziert nicht nur einen höheren Erwartungswert für Fehlentscheidungskosten, sondern auch die Notwendigkeit 7

umfangreicherer Korrekturmaßnahmen. Synchronisation wird damit teuer: Supply Chains irren sich gründlicher. Den Gedanken, dass Entscheidungen, die auf dem zusammenfassenden Wissen einer zentralen Planungsinstanz aufbauen, langsamer sein müssen und (nicht nur deshalb) schlechter sein können als Entscheidungen, die sich auf dem gesonderten Wissen Vieler gründen, können oder wollen manche Anhänger einer holistischen Planung offenbar nicht denken. Die zunehmende Marktdynamik, die eine Verschiebung der Gewichte von der antizipierenden Planung zur ereignisgetriebenen Adaption erfordert, wird sie dazu zwingen weil sie beobachten müssen, dass Pläne auch bei verkürzten Planungsfrequenzen und dementsprechend häufigerer Planadaption ihre eigenen Planungshorizonte nicht mehr erleben und dass Manager vor Ort deshalb chronisch etwas anderes tun (müssen) als das, was ihnen eine Zentrale vorgegeben hat. 9) Die erhoffte Renaissance mathematischer Optimierungsmodelle wird nicht zu einer Substitution von unternehmerischem Fingerspitzengefühl führen, sondern darauf angewiesen bleiben. Und die mit zunehmender Marktdynamik unausweichliche Renaissance der Bedeutung von Erfahrung und Intuition wird uns zeigen, dass wir die relative Bedeutung der Informationstechnologie gelegentlich überschätzt haben. These 6: Eine Verlagerung des Wettbewerbs auf die Stufe ganzer Supply Chains findet nicht statt Die Wettbewerbsverlagerungsthese ist als much-ballyhooed proposition 10) so weit verbreitet, dass man sie eigentlich als Teil des SCM-Konzeptes verstehen muss. Der Wettbewerb findet in wachsendem Maße ebenso zwischen Wertschöpfungsketten wie zwischen Unternehmen statt, stellt beispielsweise Straube fest und kann sich dabei auf Christopher (1998) berufen, der mit dieser Behauptung unzählige Male gedanklich (wenngleich nur selten wörtlich) zitiert wird. 11) Und Jahns assistiert: Diese Erkenntnis ist nicht nur graue Theorie, sondern Realität. 12) Bezeichnenderweise sind die beiden hier bemühten Beispiele aber in keiner Weise als Bestätigungsinstanzen geeignet. Die Textilkette Zara lässt einen Großteil der eigenen Produktion in kleinen Nähbuden in Galizien und Portugal fertigen. 13) Das macht dieses Beispiel hochgradig kontingent. Und im umgekehrt gelagerten Falle DELL sorgt schon die modulbasierte Standardisierung der montierten Komponenten für eine prinzipielle Austauschbarkeit der meisten Lieferanten, so dass man bestenfalls von einer Konkurrenz von Netzwerkmodellen (etwa einem Wettbewerb zwischen einstufigen und mehrstufigen Vertriebskanälen) sprechen kann, nicht aber von erfolgreichen Supply Chain Partnerschaften, die sich durch einen wechselseitigen Verzicht auf eine opportunistische Nutzung des Marktes zu einer neuen Art von Quasi-Organisation zusammenschließen. Wettbewerb gibt es hier nach wie vor auf allen Wertschöpfungsstufen. Er wird nicht suspendiert oder verlagert, sondern ausgeschöpft und bestenfalls durch längere Bindungsfristen etwas entschärft. Jede spezifische Investition in exklusive Lieferantenbeziehungen würde die Vielfalt der Optionen einschränken, die Modularität schafft. In einem hoch-dynamischen Markt mit einem schwer vorhersehbaren Innovationsgeschehen kann sich ein Kostenführer solche Selbstbeschränkungen nicht leisten. Was die Verfechter der Wettbewerbsverlagerungshypothese bislang versprochen, aber nicht geliefert haben, ist der Nachweis eines qualitativen Sprungs von einer stärkeren 8

Kunden- bzw. Lieferantenintegration zu daraus resultierenden oder darauf aufbauenden Systemen höherer Ordnung, die ihre neue Identität darauf gründen, dass sie auf der Grundlage formal geregelter Mitgliedschaften im Innenverhältnis eine ursprünglich dezentral funktionierende marktliche durch eine ganzheitlich zugreifende hierarchische Koordination ersetzen und dabei auf economies of substitution grundsätzlich verzichten. 14) Angesichts der hier herausgearbeiteten Opportunitätskosten einer rigiden vertikalen Integration erscheint das nicht verwunderlich. These 7: Die Zukunft gehört lose gekoppelten, intelligent vernetzten Regelkreisen Innerhalb des SCM-Konzeptes werden immer wieder Systementwürfe propagiert, die im Rahmen einer statischen Weltsicht einseitig auf Planung, Kontrolle, Integration und Zentralisierung setzen - als gäbe es für dieses Designprinzipien weder Alternativen noch einen Preis. Tatsächlich jedoch impliziert zumindest eine rigide vertikale Integration gegenüber einer marktlichen Leistungskoordination eine ganze Reihe von Nachteilen, deren gravierendster den Kern des SCM-Konzeptes betrifft: die Fähigkeit eines Systems, sich in einer wachsenden Umweltdynamik zu behaupten. Es lassen sich starke Argumente dafür ins Feld führen, dass lose gekoppelte, dezentral gesteuerte Regelkreise mit unvorhergesehenen Änderungen wesentlich besser fertig werden als jeder Versuch hoch-integrierter Ketten, auf Parametervariationen mit immer neuen Entwürfen einer unternehmensübergreifenden Gesamtplanung zu reagieren. Rigide Kopplungen führen nicht nur zu Anpassungszeitverlusten, sondern zu Abweichungsverstärkungen ( Dominoeffekten ), die sich als schädlicher herausstellen können als die eigentlich bekämpften Aufschaukelungseffekte. Supply Chains produzieren Probleme, die andere gar nicht haben. Und sie tun dies umso mehr, je mehr Wertschöpfungsstufen sie dem Zugriff einer integrierten Gesamtplanung unterwerfen wollen. Obwohl sie aus Sicht der hier kritisierten Konzepte von Redundanzen durchsetzt und scheinbar out of control sind, sind lose gekoppelte, dezentrale Systeme in Summe von einer (allerdings an keiner einzigen Stelle klar verorteten) höheren Intelligenz. Sie sind qua Entkopplung frei von Selbstinfizierungseffekten, und sie können mehr Informationen aufnehmen und diese Informationen schneller verarbeiten, auch weil sie vergleichsweise hierarchiearm operieren. Und weil die Netzwerkangehörigen einander nicht restlos ausliefern, verfügen sie an entscheidender Stelle über höhere Freiheitsgrade der Anpassung an Umweltänderungen. In einer unbestimmten Umwelt überleben nur Systeme, die sich selbst ein Mindestmaß an innerer Unbestimmtheit leisten. Da sie als kontextreichere Systeme in Summe mehr über ihre (jeweilige) Umwelt wissen, sind sie lernfähiger. Sie können ein Wissen nutzen, das als Ganzes gar nicht vorhanden ist. Und da sie auf selbst-organisierende Regelkreise setzen, sind sie trotz einer erheblich höheren Zahl von Außenweltkontakten stabiler: sie lokalisieren ihre Anpassungsbedarfe und begrenzen ihre Anpassungsrisiken. Ihre auf Selbstbestimmung basierenden, überlegenen Anreizsysteme verhelfen ihnen dabei zugleich, statische Effizienz (die Absorption von Unsicherheit) mit dynamischer Effektivität (Innovation und Evolution ) zu verbinden. Sie erfahren nicht nur mehr, sondern sie können auch mehr aus ihren Erfahrungen machen - weil sie hierarchiefreier operieren, schnellere Rückkopplungen erhalten und über mehr Opportunitäten (man könnte auch sagen: über mehr mögliche Zukünfte) verfügen. 9

Lose gekoppelte Netze wandeln Opportunismus von einer Gefahren- in eine Energiequelle um. Sie brauchen weniger Zielabstimmung-, Verteilungs- und Kompetenzregeln und weniger Ressourcen für Kontrollen, können dabei Ressourcen durch Flexibilität und Rekombination vor Entwertung schützen und deren Allokation sowohl vom Aufwand als auch vom Ergebnis her effizienter steuern. Eine wechselseitige Versorgung mit vormals nicht kommunizierten planungsrelevanten Informationen kann die Anpassungsfähigkeit aller beteiligten Unternehmen auch ohne ausschließende Gruppenbildungen deutlich erhöhen. Dabei kann Komplexitätsreduktion durch eine selektive, partnerspezifische Variation bilateraler Bindungsintensitäten durchaus zur Stabilisierung beitragen, solange partiell erhöhte Festigkeiten in Netzen nicht zur Gefangenschaft in Kollektiven führt. Kollektive Wirkungen durch vernetzte Intelligenz gibt es auch ohne Kollektiv: without anyone in charge. 15) Wenn solche dezentral sich koordinierenden Netzwerke intelligent in Wettbewerbssituationen eingebunden sind und wenn sie Märkte auch im Innenverhältnis als Koordinationsmechanismen und Energiequellen nutzen, anstatt sich gegen sie abzuschotten, droht vertikal integrierten linearen Supply Chains das Schicksal von Dinosauriern. 3. Fazit und Ausblick Zu Beginn dieses Beitrags wurde zwischen einer stärkeren und eine schwächeren Variante der unternehmensübergreifenden Prozessintegration unterschieden. Die darauf aufbauende Kritik sollte nicht als Pauschalkritik des gesamten SCM-Ansatzes verstanden werden. Der werthaltige Teil dieses Ansatzes steckt in seiner schwächeren Version: der Idee einer über Unternehmensgrenzen hinweg ausgedehnten Sicht auf Bedarfe, Kapazitäten und Prozesszustände. Um das in dieser schwächeren Integrationsvariante steckende Potenzial auszuschöpfen, sollten wir den in der stärkeren Integrationsvariante enthaltenen utopischen Teil der SCM-Konzeption als geistigen Ballast über Bord werfen und, zusammen mit dem ins Leere greifenden Ganzheitlichkeitsanspruch, auch die Wettbewerbsverlagerungsthese mit großen Fragezeichen versehen. Visionen, die praktisch nicht funktionieren können, weil sie schon theoretisch defekt sind, binden Ressourcen an der falschen Stelle (vor allem in der Wissenschaft) und helfen niemandem. Die von Ganzheitlichkeitsansprüchen befreite Idee, Lieferbeziehungen durch eine wechselseitig verbesserte Versorgung mit planungsrelevanten Informationen überraschungsärmer zu machen, ist anspruchsvoll genug, um einer ganzen Generation von Managern und Wissenschaftlern weiterhin Stoff für ihre Arbeit zu liefern. Diese Arbeit wird sich intensiver mit Detailfragen der unternehmensübergreifenden Prozesskoordination (insbesondere den verschiedenen, praktisch noch wirksamen Integrations- und Innovationsbarrieren) auseinandersetzen müssen und nicht in einem großen Entwurf gipfeln. Das macht sie mühsamer und unspektakulärer, aber auch wertvoller. Um als Managementkonzept überleben zu können, muss Supply Chain Management bescheidener werden. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------- *) Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Bretzke ist Head of Supply Chain Strategy bei Barkawi & Partner, Mitglied des Vorstands der Bundesvereinigung Logistik e.v. (BVL) und lehrt außerplanmäßig Logistik an der Universität Duisburg-Essen. 10

Literatur 1) Cooper/Ellram (1993), S.13 f. 2) Bechtel/Jayaram (1997), S. 21. 3) Scheer/Angeli/Herrmann (2001), S. 45 4) Vgl. Bretzke (2005), Bretzke(2006), Bretzke (2007). Aus Vereinfachungsgründen wird hier auf die dort zitierte Literatur verwiesen. 5) Vgl. zu diesem Begriff Otto/Kortzab (2001), S. 160. 6) Eine dritte, hier nicht weiter diskutierte Organisationslösung sah ein ganzheitliches Outsourcing des Supply Chain Management an Dienstleister vor. Vgl. etwa Baumgarten/Kasiske/Zadek (2002), S. 35: Logistikdienstleister als sogenannte 4PL werden zunehmend gefordert sein, die gesamte Planung und Steuerung aller Aktivitäten entlang der Logistikkette vom Lieferanten zum Endkunden zu übernehmen. Diese offenbar in ein Machtvakuum hineingedachte Idee hat nicht getragen, weil sie (a) zum Outsourcing eines Leistungsbündels auffordert, das noch kaum jemand in der Hand hat, und (b) als Auftragnehmer dafür einen Typus Dienstleister vorsieht, den der Markt noch gar nicht hervorgebracht hat. Auch elektronischen Marktplätzen ist man zeitweilig mit der Erwartung begegnet, sie könnten ganze Supply Chains aktiv koordinieren. Die hierzu erforderliche Autorität haben sie nie erhalten. Supply Chain Management kann durch Services unterstützt werden, ist aber selbst nicht zum Service geworden. 7) S. auch Stadtler (2005), S.16. 8) Eine prägnante Übersicht über Vendor Managend Inventory, Available to Promise und Collaborative Planning, Forecasting and Replenishment findet sich beispielsweise bei Alicke (2003). 9) Innerhalb einzelner Unternehmen kann man das Umkippen hochfrequenter Plananpassungen in Revisions-Hektik und eine nicht mehr beherrschbare operative Unruhe verhindern, indem man Pläne vor der Exekution einfriert ( frozen zones ). Stabilität geht dann vor Optimierung. Zentral verplanten Supply Chains würde das weniger helfen, weil sie schlechtere Pläne einfrieren müssten. (Außerdem hätten sie mit der Verständigung auf abgestimmte Einfrierzeiten ein weiteres Koordinationsproblem zu lösen). 10) Rice/Hoppe (2001), S. 47. 11) S. Straube (2004), S. 313. 12) Jahns (2005), S. 56. 13) Vgl. Logpunkt, Heft 4/2005, S. 22. 14) S. auch Garud/Kumaraswamy (2003), S. 45. 15) In einem Punkt kommen lose gekoppelte, collaborative Netze sogar dem SCM- Modell näher als jeder hierarchische Ansatz: die Konfiguration interaktive Prozesse kann nicht diktiert, sondern muss zwischen Partnern verhandelt werden. - Alicke K. (2003): Planung und Betrieb von Logistiknetzwerken, Berlin - Heidelberg - New York 2003. - Baumgarten, H., Kasiske, F., Zadek, H. (2002): Logistikdienstleister Quo vadis? Stellenwert der Fourth Party Logistics Provider (4PL), in Logistik Management, Heft 1, 2002, S. 27 ff. - Bechtel,Ch., Jayaram,J. (1997): Supply Chain Management: A Strategic Perspective, in: The International Journal of Logistics Management, Vol.8, Nr. 1 (1997), S. 15 ff. - Bretzke, W.-R. (2005): Supply Chain Management: Wege aus einer logistischen Utopie, in: Logistikmanagement, Heft 2 (2005), S. 22 ff. 11

- Bretzke, W.-R. (2006): Supply Chains im Wettbewerb: Mehr Erfolg bei weniger Markt?, in : Quantitative Methoden der Logistik und des Supply Chain Management, hrsg. von M. Jacquemin, R. Pibernik und E. Sucky, Hamburg 2006, S. 3-20. - Bretzke, W.-R. (2007): Supply Chain Organisation: Die vergessene Managementdimension, in : Festschrift für Wildemann, München 2007 (geplante Erscheinung 1.Quartal 2007). - Cooper, M.C., Ellram, L.M. (1993): Characteristics of Supply Chain Management and the Implications for Purchasing and Logistics Strategy, in: International Journal of Logistics Management, Vol. 4, No. 2, S. 13 ff. - Garud, R.; Kumaraswamy, A., (2003): Technological and Organizational Designs for Realizing Economies of Substitution, in: Garud, R.; Kumaraswamy, A., Langlois. R.N. (Hrsg.): Managing in the Modular Age, Malden Oxford Melbourne Berlin 2003, S. 45 ff. - Jahns, Ch. (2005): Netzwerkmanagement: Königsweg oder Irrglaube?, Statement in: Supply Chain Management, Heft II (2005), S. 55 f. - Otto, A., Kotzab, H. (2001): Der Beitrag des Supply Chain Management zum Managment von Supply Chains Überlegungen zu einer unpopulären Frage, in: ZfbF, 43. Jg. (2001), S. 157 ff. - Rice, J.B.; Hoppe, R.M. (2001): Supply Chain vs. Supply Chain The Hype & the Reality, in: Supply Chain Management Review, Sept/Oct 2001, S. 47 ff. - Scheer, A.-W., Angeli, R., Herrmann, K. (2001): Informations- und Kommunikationstechnologie als Treiber der Logistik, in: Pfohl, H.-Chr. (Hrsg): Jahrhundert der Logistik, Berlin 2001, S. 29 ff. - Stadtler, H. (2005): Supply Chain Management An Overview, in: Stadtler, H., Kilger, Ch. (Hrsg.): Supply Chain Management and Advanced Planning, 3. Aufl., Berlin Heidelberg New York 2005, S. 9 ff. - Straube (2004): e-logistik. Ganzheitliches Logistikmanagement, Berlin-Heidelberg- New York etc 2004. 12