Multiple Sklerose. MS verstehen und behandeln. Schutz. Wirkmechanismen. Untersuchung. Potenziale Ursachen

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Transkript:

MS verstehen und behandeln Schutz Untersuchung Wirkmechanismen Multiple Sklerose Diagnose Therapie Immunsystem Nerven Potenziale Ursachen BETAPLUS -Serviceteam* Groner Landstr. 3 37073 Göttingen Telefon: 0800 / 2 38 23 37 (gebührenfrei) E-Mail: serviceteam@betaplus.net Internet: www.ms-gateway.de 85675508 L.DE.MKT.SM.05.2017.5620 * Ein Service von Vitartis im Auftrag von Bayer

Unsere Mission INHALT BETAPLUS ist das Patientenprogramm von Bayer. Wir möchten Ihnen und auch Ihren Angehörigen beim Umgang mit der Multiplen Sklerose (MS) unterstützend zur Seite stehen. Deshalb bieten wir Ihnen den BETAPLUS -Schwesternservice*, das BETAPLUS -Serviceteam* und umfangreiches Informationsmaterial an. Gemeinsam möchten wir mit Ihnen den Weg zum Therapieerfolg gehen und Sie dabei bestmöglich unterstützen. MS verstehen und behandeln Vorwort................................................ 4 Was ist MS?............................................. 5 Formen der MS.........................................17 Wie wird MS diagnostiziert?............................26 Grundlagen der MS-Therapie...........................35 BETAPLUS -Serviceteam* Groner Landstr. 3 37073 Göttingen Telefon: 0800 / 2 38 23 37 (gebührenfrei) E-Mail: serviceteam@betaplus.net Internet: www.ms-gateway.de * Ein Service von Vitartis im Auftrag von Bayer 2 3

Vorwort Was ist MS? Liebe Leserin, lieber Leser, in dieser Broschüre MS verstehen und behandeln erhalten Sie einen ersten Überblick über die Multiple Sklerose (MS), die Diagnosestellung und deren Therapie. Dabei erfahren Sie, wie das zentrale Nervensystem (ZNS) funktioniert, welche Rolle das Immunsystem spielt, was eine Autoimmunerkrankung ist, und was passiert, wenn Immunzellen plötzlich verrücktspielen. Zusammen mit der Broschüre Leben und Alltag mit MS werden die ersten Fragen nach der Diagnosestellung beantwortet, denn umfangreiches Wissen über die eigene Krankheit ist, zusammen mit der medikamentösen Behandlung, die Basis für eine erfolgreiche Therapie. Ihr BETAPLUS -Serviceteam Was ist MS? Multiple Sklerose ist eine der häufigsten chronisch-entzündlichen Erkrankungen des zentralen Nervensystems im jungen Erwachsenenalter. Man nimmt an, dass es durch eine Fehlsteuerung des Immunsystems zu einer fortschreitenden Schädigung des Nervensystems kommt. An mehreren (multiplen) Stellen des Gehirns und des Rückenmarks flammen Entzündungen auf, dort können nach Abklingen der Entzündung Narben auftreten (Sklerose). Die Nervenfasern können dabei erheblichen Schaden erleiden und ihre Funktion nicht mehr oder nur noch teilweise erfüllen. Die Folgen können neurologische Funktionsausfälle ganz unterschiedlicher Art sein. Daher wird MS zu Recht die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern genannt. Die typische MS gibt es nicht! Verlauf und Ausprägung variieren sehr stark. Die Entwicklung einer MS folgt nicht einem vorhersehbaren oder festgesetzten Muster. Art und Schwere der Symptome können sich von Mensch zu Mensch unterscheiden und sich im Laufe der Zeit ändern. Viele Patienten mit MS führen jedoch ein normales Leben und entwickeln über lange Zeiträume kaum Symptome. Treten jedoch Symptome auf, 4 5

Was ist MS? Was ist MS? ist dies meist plötzlich und wird als Schub bezeichnet. Häufig bessern sich die Symptome nach ein paar Tagen oder Wochen und können zu einer vollständigen oder teilweisen Erholung führen. Diese Phase wird als Remission bezeichnet. Multiple Sklerose ist eine lebenslange, wechselhafte Krankheit, die viele (multiple) Stellen des zentralen Nervensystems (ZNS) befallen kann und zur Bildung von Läsionen und nachfolgend Narbengewebe (Sklerose) innerhalb des Gehirns und / oder Rückenmarks führt. Das zentrale Nervensystem, das aus dem Gehirn und dem Rückenmark besteht, arbeitet in unserem Körper als Kommandozentrale, wobei es unter anderem Muskelbewegungen steuert und ankommende Sinnesempfindungen vom peripheren Nervensystem (PNS) sammelt und auswertet (Abb. 1). Das Nervensystem koordiniert das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Körperteilen und Organen. Abb. 1: Das Nervensystem Gehirn Rückenmark Gehirn und Rückenmark = Zentrales Nervensystem (ZNS), die Kommandozentrale des Körpers. Nerven außerhalb des ZNS = peripheres Nervensystem (PNS), das Befehle an Organe übermittelt (z. B. Muskeln) und Empfindungen empfängt (z. B. von der Haut). Periphere Nerven 6 7

Was ist MS? Was ist MS? Zum Beispiel: Abb. 2: Aufbau einer Nervenzelle (Neuron) Beim Anfassen einer heißen Tasse nehmen die peripheren Nerven Hitze wahr und geben diese Information an das ZNS weiter. Das ZNS merkt: Tasse ist heiß und gefährlich. Über die peripheren Nerven erfolgt der Befehl an die Armmuskeln: Tasse zurückstellen! isolierende, äußere Nervenhülle (Myelinscheide) Axon Ranviersche Schnürringe Nervenzelle Nervenfaser Elektrische Impulse bewegen sich entlang der Nerven und machen so die Kommunikation zwischen Gehirn und den verschiedenen Körperteilen möglich (Abb. 2). Einige Nervenfunktionen im Körper laufen unabhängig vom Gehirn auf Rückenmarksebene automatisch ab (Reflexe). Die Prüfung von Reflexen kann dazu beitragen, neurologische Störungen auf Rückenmarksebene zu erkennen. Das macht der Arzt, indem er zum Beispiel mit einem Reflexhammer gegen das Knie oder den Ellbogen klopft und die Reaktion beobachtet. Die Bedeutung des Myelins Die meisten Nervenfasern (Axone) sind von einer fetthaltigen Isolierschicht umhüllt, die von Spezialzellen (Oligodendrozyten) gebildet wird. Diese so genannte Myelinscheide ist erforderlich, um das Axon zu schützen und eine schnelle Übermittlung der elektrischen Impulse zu ermöglichen. Zwischen den einzelnen Abschnitten der Myelinscheide befinden sich Zonen ohne Myelinisierung, die sog. Ranvierschen Schnürringe. Der elektrische Impuls wird am gesunden Axon mit hohem Tempo über die myelinisierten Abschnitte von Schnürring zu Schnürring geleitet. 8 9

Was ist MS? Was ist MS? Der Verlust des Myelins und seine Folgen Bei der MS wird die Myelinscheide an mehreren Stellen des ZNS (Herde) durch entzündliche Prozesse geschädigt. Die Entzündungsaktivität ist dabei nicht immer gleich stark. Überschreitet sie eine kritische Grenze, kommt es zu einem Schub. Dabei können einzelne Symptome spürbar werden oder sich verstärken. Ausmaß und Orte der Entzündung können mittels MRT (Magnetresonanztomographie)-Aufnahmen beurteilt werden. übermittelt werden. Daher werden die Impulse bei geschädigter Myelinscheide langsamer als zuvor übertragen. Die Impulse können dann nicht mehr von Schnürring zu Schnürring weitergeleitet werden, sondern müssen entlang der gesamten Nervenfaser weitergeleitet werden, was viel länger dauert. Die Übermittlung ist somit verlangsamt oder sogar blockiert (Abb. 3). Abb. 3: Signalübertragung Normale Signalübertragung Bei der MS hält das körpereigene Immunsystem aus bislang unbekannten Gründen das Myelin um die Nerven für körperfremd, was zu Entzündungen im ZNS führt. Normaler Nerv Myelinscheide intakt Schnelle Nachrichtenübertragung (~400 km / h) Wenn das Myelin von den Makrophagen, der Putzkolonne des Immunsystems, gefressen wird, bleiben die Axone der Nerven nackt zurück. Nackte, d. h. demyelinisierte Axone können die elektrischen Impulse nicht mehr effizient weiterleiten. Wenn Nervenfasern ihre Schutzhülle verlieren, d. h. demyelinisiert werden, kann es zu Kurzschlüssen kommen oder dazu, dass Signale inner halb des Nervensystems nicht mehr ordnungsgemäß Gestörte Signalübertragung Langsame Nachrichtenübertragung (~4 km / h) Geschädigter Nerv Myelinscheide beschädigt oder zerstört 10 11

Was ist MS? Was ist MS? Wenn die Entzündung abklingt, werden Reparaturmechanismen eingeleitet, die auch zur Remyelinisierung führen können (Wiederherstellung des zuvor geschädigten Myelins, siehe Abb. 4). Bei MS treten sowohl Demyelinisierung als auch Remyelinisierung an unterschiedlichen Orten gleichzeitig auf und führen zu einem Wechselspiel aus Schädigung und Wiederherstellung. Abb. 4: Remyelinisierung: Regenerierte Myelinscheiden sind dünner und von mehr Schnürringen unterbrochen. Einheitlich dünn, in kurzen Abständen Schnürringen normal demyelinisiert remyelinisiert Wenn die Entzündung ein größeres Gebiet betrifft, bleibt Narbengewebe zurück, das als Plaque bezeichnet wird und mit Hilfe der MRT aufgespürt werden kann. Wenn eine Entzündung wiederholt an derselben Stelle auftritt, können die Reparaturmaßnahmen zur Remyelinisierung möglicherweise nicht Schritt halten, was eine dauerhafte Schädigung dieser Nerven zur Folge hat. Der von den Läsionen betroffene Bereich des Gehirns oder des Rückenmarks bestimmt, welche Symptome entstehen können. Die Rolle des Immunsystems Normalerweise schützt uns das körpereigene Abwehrsystem (Immunsystem) vor Infektionen aller Art. Entzündungsreaktionen treten auf, wenn unser Immunsystem körperfremde Krankheitskeime (z. B. Bakterien, Viren, Parasiten oder Pilze) angreift und unschädlich macht. Verschiedene weiße Blutkörperchen, wie z. B. die Makrophagen als Fresszellen, dienen als Frontsoldaten in unserem Immunsystem. Die Verteidigung gegen fremde Eindringlinge wird von sogenannten T-Zellen koordiniert. In seltenen Fällen jedoch, wie bei Autoimmunkrankheiten (die Vorsilbe auto bedeutet selbst ), können eigene Körperzellen fälschlicherweise für fremde Eindringlinge gehalten werden. Fehlgeleitete T-Zellen nehmen dann aus bis lang ungeklärten Gründen unsere eigenen Nervenzellen ins Visier. Somit sind die zuvor Guten zu Bösen geworden, da sie Freunde (eigenes Gewebe) für ihre Feinde halten. Dies geschieht auch bei Menschen mit MS, weshalb man die Krankheit zu den Autoimmunkrankheiten zählt. MS ist nur eine von vielen Autoimmunkrankheiten. Andere sind z. B. Morbus Crohn oder Rheuma. 12 13

Was ist MS? Was ist MS? Beim gesunden Menschen patrouillieren Abwehrzellen des Immunsystems ständig durch das Blut- und Lymphsystem. Ins ZNS gelangen sie normalerweise jedoch nicht, da es von der sogenannten Blut-Hirn-Schranke (BHS) gegen die Blutbahn abgeschirmt wird. In akuten Phasen der MS ist die BHS durchlässiger. So können die fehlgeleiteten Immunzellen in das ZNS eindringen und Schaden anrichten. Diese Angriffe verursachen Schäden in der Myelinhülle, die durch Makrophagen gefressen wird. Dieser Angriff durch Makro phagen ist einer von vielen Mecha nismen, der zu einer Schädigung des Myelins führt. Die Myelinscheiden sind das primäre Angriffsziel bei der MS, aber auch die freigelegten Axone können Ziel der körpereigenen Immunattacke sein. Heute weiß man, dass beide Komponenten, das Myelin und die Axone, schon früh im Verlauf der Erkrankung, oftmals lange vor dem Auftreten der ersten Symptome, geschädigt werden können. Ist das Myelin erst einmal geschädigt, können Impulse nicht mehr so schnell wie zuvor entlang dieser Nerven übermittelt werden. Die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern MS ist eine sehr wechselhafte Krankheit, deren Verlauf keinem vorhersehbaren, festen Muster folgt. Bei jedem Menschen mit MS können die Symptome in ganz unterschiedlichen Konstellationen auftreten, wobei die Symptome selbst von Zeit zu Zeit ganz verschieden sein und ihren Schweregrad und die Dauer ändern können. Darum nennt man die MS auch die Krankheit mit den 1.000 Gesichtern. Diese Symptome sind davon abhängig, welche Regionen des zentralen Nervensystems (ZNS) durch die Aktivität der MS geschädigt wurden. Es gibt Betroffene, die nur einen einzigen kleinen Schub mit verschwommenem Sehen hatten andere dagegen haben sehr viel ausgeprägtere Symptome. Bei den meisten Menschen mit MS beginnt die Krankheit mit einem jähen Ausbruch von Symptomen, auch Schub genannt, der in der Regel von einer Remission gefolgt wird, d. h. einem Nachlassen der Krankheitssymptome. Symptome können sich innerhalb weniger Tage oder Wochen bessern, und eine vollständige 14 15

Was ist MS? Formen der MS Formen der MS oder teilweise Erholung tritt ein. Häufige Symptome bei Menschen mit MS umfassen Fatigue (abnorme Müdigkeit) Steifheit, Muskelschwäche, Spastizität der Arme und Beine, Missempfindungen wie Juckreiz, Schmerz oder Taubheitsgefühl, Blasen und Darmprobleme sowie sexuelle Probleme. Viele dieser Symptome sind behandelbar und nicht automatisch mit persön lichen Einschränkungen verbunden. Einige Symptome treten häufiger auf und andere seltener. Es kann auch passieren, dass überhaupt keine Symptome auftreten, die MS also unbemerkt aktiv ist. Über die für Sie am besten geeignete Therapie sollten Sie gemeinsam mit Ihrem behandelnden Arzt entscheiden. In der weiterführenden Broschüre Leben und Alltag mit MS werden die Symptome ausführlicher beschrieben. Multiple Sklerose kann sich bei verschiedenen Personen sehr unterschiedlich äußern. In vielen MS-Fällen treten die Symptome aus heiterem Himmel ohne erkennbare Ursache auf. Das plötzliche Auftreten von Symptomen oder eine Verschlechterung bestehender Symptome werden als Schub bezeichnet. Schübe sind ein Merkmal der Krankheit. MS schläft nie, aber es kann Zeiten geben, in denen die MS weniger aktiv ist. Die Symptome können sich nach einigen Tagen oder Wochen bessern. Dies nennt man Remission. Nach einiger Zeit kann es zu einer vollständigen oder teilweisen Erholung kommen. Allerdings können die Symptome oder der Funktionsverlust manchmal andauern, wenn die Remission unvollständig ist. Regelmäßige Physiotherapie, Sport und mentales Training können helfen, Funktionsverluste so gering wie möglich zu halten und das Regenerations potenzial des Körpers zu nutzen. 16 17

Formen der MS Formen der MS Clinically Isolated Syndrome (CIS) CIS ist die englische Abkürzung für das klinisch isolierte Syndrom (clinically isolated syndrome). Bei ca. 85 % der jungen Erwachsenen mit MS beginnt die Krankheit mit einem sogenannten ersten klinischen Krankheitsanzeichen (CIS), meist am Sehnerv, am Hirnstamm oder im Rückenmark. Dies bedeutet, dass sich die Symptomatik subakut (innerhalb von Stunden bis Tagen) entwickelt und im Sinne eines Schubes auftritt. Die neurologischen Funktionsstörungen lassen sich auf die Schädigung (Läsion) eines beschriebenen Ortes im ZNS zurückführen. Im Gegensatz zur Diagnose MS zeigen sich beim CIS aber noch keine eindeutigen Hinweise auf eine sogenannte zeitliche oder räumliche Dissemination, d. h. Belege für eine sich wiederholende und im ZNS auch an verschiedenen Orten auftretende entzündliche Aktivität. Aufgrund der klinischen Symptome und der Ergebnisse weiterer Untersuchungen (z. B. MRT) lässt sich abklären, ob es sich um das Frühstadium einer MS handelt. Drei verschiedene Verlaufsformen der MS werden unterschieden (Abb. 5 7): Schubförmig remittierende Multiple Sklerose (RRMS) Die schubförmig remittierende MS (RRMS) ist die häufigste Verlaufsform der MS, von der mehr als 80 % der MS-Patienten betroffen sind. In den frühen Stadien können die Symptome zwischenzeitlich ausbleiben, manchmal sogar für mehrere Jahre. Aber die Schübe sind unvorhersehbar und die Symptome können jederzeit auftreten. Neue oder vorher bekannte Symptome können plötzlich aufflammen, für ein paar Tage oder Wochen anhalten und dann wieder verschwinden. Zwischen den Schüben scheint es zu keinem weiteren Fortschreiten der MS zu kommen. Abb. 5: Typischer Verlauf einer schubförmig remittierenden MS. Behinderungsgrad Zeit Sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS) Primär progrediente Multiple Sklerose (PPMS) 18 19

Formen der MS Formen der MS Die sekundär progrediente Multiple Sklerose (SPMS) kann der schubförmig remittierenden Verlaufsform folgen und wird als fortgeschrittenes Krankheitsstadium betrachtet. Auch zwischen gelegentlich auftretenden Schüben schreitet die Erkrankung kontinuierlich fort. Abb. 6: Sekundär progrediente MS Die primär progrediente Multiple Sklerose (PPMS) ist selten und betrifft ungefähr 10 % aller Menschen mit MS. Die Symptome nehmen ständig zu und der Behinderungsgrad steigt allmählich an. Abb. 7: Primär progrediente MS Behinderungsgrad Zeit Behinderungsgrad Zeit 20 21

Formen der MS Formen der MS Ursachen der MS Trotz intensiver Forschungen weiß niemand genau, was MS auslöst. Viele Faktoren sind in Betracht gezogen worden, aber die Ursachen sind nach wie vor unbekannt. Obwohl es Hypothesen gibt, dass Viren verantwortlich sein könnten, gibt es bisher keinen zuverlässigen wissenschaftlichen Beweis, dass irgendein spezieller Virus die Krankheit verursacht. Forscher sind heutzutage davon überzeugt, dass MS höchstwahrscheinlich durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren ausgelöst wird (Abb. 8). Abb. 8: Mögliche Faktoren, die mit der Entstehung einer MS in Zusammenhang gebracht werden. Klima Ethnische Abstammung Industrialisierung Geograph. Breitengrad Alter Sozio-ökonomischer Status Genetische Veranlagung Virus Einige Menschen scheinen durch ihre genetische Veranlagung anfälliger für MS zu sein als andere. Wenn Menschen mit einer solchen Veranlagung auf die noch unbekannten, umweltspezifischen Faktoren stoßen, kann MS ausgelöst werden. MS ist jedoch keine reine Erbkrankheit. Untersuchungen mit Zwillingen stützen die Hypothese, dass umweltspezifische Faktoren die Entwicklung von MS maßgeblich mitbestimmen. Es gibt auch Unterschiede in der Anfälligkeit verschiedener ethnischer Gruppen. Nordeuropäer sind z. B. häufiger betroffen als Einwohner Afrikas. Einige Untersuchungen zeigen, dass die Häufigkeit von MS bei afroamerikanischen Männern in den USA höher ist als bei solchen in Afrika, aber niedriger als bei männlichen Weißen in den Vereinigten Staaten. Wer bekommt MS? Weltweit gibt es ca. 2,5 Mio. Menschen, die an MS erkrankt sind. Davon leben geschätzt 500.000 in Europa und mehr als 200.000 (199.505 gesetzlich; 12.700 privat versicherte Patienten / Stand 2014) in Deutschland. Die Häufigkeit von MS ist in den verschiedenen Teilen der Erde unterschiedlich. Tendenziell kommt MS häufiger in den industriell entwickelten Regionen vor. MS hat die höchste Häufigkeit in gemäßigten Zonen und tritt in heißen Klimazonen seltener auf. Multiple Sklerose 22 23

Formen der MS Formen der MS Viele Untersuchungen deuten darauf hin, dass die Häufigkeit der MS mit der Entfernung vom Äquator zunimmt. Das gilt sowohl für die nördliche als auch für die südliche Hemisphäre. In Europa zum Beispiel nimmt die Häufigkeit von Nord nach Süd stetig ab. MS wird normalerweise bei Menschen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren festgestellt, obwohl die Krankheit auch früher oder später beginnen kann. Im Durchschnitt bricht die Krankheit im Alter von 30 Jahren aus. Ungeachtet der Unterschiede bei der Häufigkeit von MS scheint der Altersfaktor auf der ganzen Welt gleich zu sein. Viele Autoimmunkrankheiten zeigen eine ungleichmäßige Verteilung nach Geschlecht. Dies gilt auch für die MS. Frauen sind bis zu dreimal häufiger betroffen als Männer. Der Verlauf der MS kann während einer Schwangerschaft günstig beeinflusst werden. In mehreren klinischen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die Schubrate während der Schwangerschaft sinken kann. In den ersten Monaten nach der Entbindung können Schübe in der Regel jedoch wieder häufiger auftreten. Während der Schwangerschaft kann es erforderlich sein, bestimmte MS-Medikamente vorübergehend abzusetzen. Daher sollte eine geplante Schwangerschaft gemeinsam mit dem behandelnden Arzt besprochen werden. Die Frage nach der Vererbbarkeit der MS gewinnt dadurch an Bedeutung, dass die Krankheit oft Menschen in einem Alter betrifft, in dem sie eine Familie gründen wollen. Das Risiko für Kinder, deren Vater oder Mutter an MS erkrankt ist, auch MS zu bekommen beträgt 2 %. Somit ist das Risiko im Vergleich zur allgemeinen Bevölkerung geringfügig erhöht (0,1 %). 24 25

Wie wird MS diagnostiziert? Wie wird MS diagnostiziert? Wie wird MS diagnostiziert? Die Diagnose der MS stützt sich in erster Linie auf das Auftreten bestimmter klinischer Symptome, auf MRT-Aufnahmen, auf Untersuchungen des Nervenwassers und auf einige ergänzende Tests. Bis heute gibt es keinen direkten Positiv oder Negativ Test für MS. Kein Test, der heutzutage für die Diagnose zur Verfügung steht, ist allein in der Lage, MS mit hundertprozentiger Sicherheit zu diagnostizieren. Ein Neurologe wird seine endgültige Diagnose absichern, indem er andere Erkrankungen ausschließt. Er stellt Fragen nach Ihrer Krankengeschichte und will feststellen, ob Sie irgendwelche neurologischen Stö rungen gehabt haben. Diese können Ihnen so harmlos erschienen sein, dass Sie sie vielleicht nicht ernst genommen haben. Er wird eine gründliche neurologische Untersuchung vornehmen und so nach Anzeichen und Symptomen für neurologische Veränderungen suchen. Durch das Sammeln zusätzlicher Daten sucht er nach Hinweisen, die seinen Verdacht absichern. Diese Daten ergeben sich aus verschiedenen Quellen, wie z. B. MRT Aufnahmen, Tests zur Messung der elektrischen Aktivität des Gehirns (evozierte Potenziale) und schließlich durch Untersuchung der Rückenmarksflüssigkeit (Lumbalpunktion). Auf den folgenden Seiten werden diese Tests und Untersuchungen noch ausführlicher behandelt. Neurologische Untersuchung Weil die MS eine sehr komplexe neurologische Erkrankung ist, sollte die Diagnosestellung vorzugsweise durch einen Neurologen erfolgen, am besten durch einen Neurologen mit Spezialisierung auf MS. Der Neurologe wird mehrere Funktionsbereiche des ZNS zuerst mit einfachen Methoden (z. B. Augenleuchte, Wattestäbchen) untersuchen sowie Körperhaltung, Bewegungsabläufe und Gang beobachten. Bei der Untersuchung werden u. a. Fühlen, Muskelkraft, Bewegung, Koordination, Gleichgewicht, Sehen und Hören getestet. Dazu gehört auch die Prüfung der Reflexe mit dem Reflexhammer. Mit diesen einfachen Mitteln gelingt es oft schon, einen ersten Verdacht zu äußern und den Ort eventueller Schädigungen einzugrenzen. Der Sehnerv (Nervus opticus), der vom Auge zum Gehirn führt, wird durch MS häufig in Mitleidenschaft gezogen. Der Arzt prüft die Sehkraft mit Hilfe von Sehtafeln und beurteilt die Eintrittsstelle des Sehnerven am Auge mit einem Ophthalmoskop. Die Impulsleitung im Sehnerv kann durch visuell evozierte Potenziale (VEPs) bestimmt werden. Auch Nerven, die für die Augenbewegung zuständig sind, können betroffen sein. Mit einer speziellen Brille (Frenzel-Brille) kann der Arzt nach auffälligen Augenbewegungen suchen. Alle diese Tests sind einfach in der Durchführung und schmerzfrei. 26 27

Wie wird MS diagnostiziert? Wie wird MS diagnostiziert? Zusätzlich zur neurologischen Untersuchung werden weitere Tests, wie z. B. MRT-Aufnahmen, durchgeführt. Obwohl die MRT MS-Läsionen sichtbar machen kann, ist ein positiver Befund allein kein ausreichendes Indiz für das Vorliegen einer MS. Einige andere Krankheiten, die durch die MRT nachweisbar sind, können nämlich ähnliche Veränderungen hervorrufen. Abb. 9a: MRT-Aufnahme des Gehirns eines gesunden Menschen. Abb. 9b: MRT-Aufnahme des Gehirns eines Menschen mit MS. Die markierten Stellen zeigen typische MS-Läsionen. MRT-Untersuchung MRT-Aufnahmen des ZNS sind, zusammen mit Hinweisen aus der Krankengeschichte und der neurologischen Untersuchung, ein wichtiger Baustein für die Diagnose der MS. Die MRT zeigt deutlich Größe, Anzahl und Verteilung von Läsionen im Gehirn und im Rückenmark. Mittels Injektion eines Kontrast mittels lassen sich insbesondere Läsionen in einem frühen, entzündlichen Stadium deutlicher sichtbar machen. Die MRT ist aufgrund ihrer Fähigkeit, Veränderungen der Krankheitsaktivität im Zeitverlauf darzustellen, auch ein sehr nützliches Instrument zur Verlaufskontrolle. Abb. 9a Abb. 9b 28 29

Wie wird MS diagnostiziert? Wie wird MS diagnostiziert? Evozierte Potenziale Bei der MS wird die Impulsleitung in den Nerven verlangsamt, bei denen die Myelinscheide geschädigt ist, die die Nervenfasern umhüllt, isoliert und schützt. In diesen freigelegten Bereichen ist die Übermittlung der Impulse deutlich verzögert. (Lesen Sie dazu bitte Kapitel 1, Was ist MS?, um mehr Einzelheiten zu erfahren). Bei evozierten Potenzialen (EPs) wird die Zeit, die ein Reiz benötigt, um ins Gehirn zu gelangen, genau gemessen. Der Reiz kann dabei ein sich veränderndes Schachbrettmuster (VEP), aber auch ein Geräusch (AEP) oder ein kleiner Schmerzreiz (SEP) sein. Aufgezeichnet wird die Veränderung der elektrischen Aktivität des Gehirns (Potenzial) durch diesen Reiz und die dafür benötigte Zeit. Verzögerungen werden festgestellt, indem man die Testergebnisse mit der Zeit vergleicht, die der Impuls bei einem Gesunden dafür durchschnittlich benötigt. So können Neurologen geschädigte Nerven aufspüren und auch Läsionen finden, die (noch) keine klinischen Symptome verursachen. So wird ein VEP gemacht Visuell evozierte Potenziale (VEP) werden gewöhnlich im Rahmen einer MS-Diagnostik abgeleitet. Die Zeit für die Übermittlung eines Reizes über den Sehnerven bis zu der Gehirnregion, die für die Verarbeitung des Sehens zu ständig ist, wird hierbei bestimmt. Für diesen nichtinvasiven Test werden Elektroden am Kopf befestigt, die die elektrische Aktivität (Gehirnströme) innerhalb Ihres Gehirns registrieren. Sie werden gebeten, sich auf ein Bild mit Schachbrettmuster zu konzentrieren, das in der Mitte ein winziges Quadrat zeigt. Damit können die Impulse, die sich entlang des Sehnerven vom Auge zum Gehirn bewegen, verfolgt und ihre Geschwindigkeit bestimmt werden. Eine Schädigung des optischen Nervs kann abnorme VEP verursachen. Daher kann dieser Test ins besondere bei einem Menschen mit klinisch normaler Sehkraft dazu beitragen, die Diagnose MS zu erhärten. Abnorme VEPs treten bei mehr als 75 % aller MS- Patienten auf. Lumbalpunktion Labortests können dazu beitragen, zusätzliche Belege für die Diagnose der MS zu liefern. Der wichtigste Test ist die Untersuchung des Nervenwassers (Liquor cerebrospinalis). Dieses umspült und schützt Gehirn und Rückenmark. Es kann mit Hilfe einer dünnen Nadel aus dem Rückenmarkskanal entnommen 30 31

Wie wird MS diagnostiziert? Wie wird MS diagnostiziert? werden. Dies wird Lumbalpunktion genannt (Abb. 10). Dabei kann das Rückenmark selbst nicht geschädigt werden, da es weit oberhalb der Punktionsstelle endet. Abb. 10: Lumbalpunktion im Bereich der Lendenwirbelsäule Nervenwasser Autoimmunreaktion im ZNS selbst gebildet werden. Diese Immunglobuline können sich in sogenannten oligoklonalen Banden zusammenlagern. Das kann man sich für die Diagnostik der MS zu Nutze machen, auch wenn oligoklonale Banden bei anderen Erkrankungen auftreten können. Ca. 90 % der Menschen mit Multipler Sklerose zeigen bei der Analyse des Liquors oligoklonale Banden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass weder die Ergebnisse der MRT noch evozierte Potenziale oder Untersuchungen der Rückenmarksflüssigkeit allein für die Diagnose einer MS ausreichen. Das bedeutet, dass die Diagnosesicherung niemals auf einem dieser Tests allein beruhen darf. Punktionskanüle L2 L3 L4 L5 Frühzeitige Diagnose ist wertvoll In der Vergangenheit wurden verschiedene Methoden entwickelt, wie die Diagnose MS gesichert werden kann. Während man sich früher vor allem auf die neurologischen Untersuchungen verlassen musste, ermöglichen insbesondere die neuen bildgebenden Verfahren (MRT) eine Diagnose bereits im Anfangsstadium der Erkrankung. Bei Entzündungen im ZNS finden sich sehr häufig auch Veränderungen im Liquor. Dies betrifft sowohl darin enthaltene Abwehrzellen als auch bestimmte Eiweiße (u. a. Immunglobuline). Im Liquor von MS-Erkrankten finden sich typischerweise erhöhte Konzentrationen von Immunglobulinen, die im Rahmen der Für eine gesicherte Diagnose der MS müssen spezifische diagnostische Kriterien erfüllt sein. Im Jahr 2001 wurden solche mit den sogenannten McDonald-Kriterien eingeführt und 2010 letztmalig überarbeitet. Sie erfordern neben klinischen Befunden auch mehrere MRT-Aufnahmen innerhalb von drei bis sechs Monaten und erlauben so eine viel frühzeitigere Diagnose der MS als bisher. 32 33

Wie wird MS diagnostiziert? Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Dank dieser verbesserten Diagnose-Techniken haben behandelnde Ärzte heute eine viel bessere Chance, eine wirksame Behandlung für MS-Patienten in einem frühen Krankheitsstadium zu beginnen. Ein frühzeitiger Behandlungsbeginn verringert oder verzögert das Risiko zukünftiger unumkehrbarer Nervenschädigungen und nutzt das regenerative Potenzial des Körpers bestmöglich. MS ist eine chronische Krankheit, die man nicht heilen kann. Betroffene können sehr unterschiedlich auf die Diagnose reagieren. Informieren Sie sich so gut wie möglich über die MS und deren mögliche Folgen. Je mehr Sie wissen und je realistischer Ihre Erwartungen bezüglich Ihrer Krankheit sind, desto eher werden Sie in der Lage sein, Ihre Situation richtig einzuschätzen und die zum jeweiligen Zeitpunkt passenden Entscheidungen für Ihr Leben zu fällen. Nach der Diagnose ist vor der Therapie: Haben Sie die MS-Diagnose erhalten, sollten Sie nun in die Zukunft blicken, lernen damit umzugehen und zusammen mit Ihrem Arzt einen Weg bestimmen, die MS zu therapieren. Die Multiple Sklerose ist bisher nicht heilbar. Jedoch steht eine Reihe von wirksamen Medikamenten zur Beeinflussung des Krankheitsverlaufs zur Verfügung. Den Stand der Wissenschaft zur Diagnose und Therapie der MS geben die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) und dem Krankheitsbezogenen Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKMS) wieder. Dazu prüfen Experten alle vorhanden Studien sorgfältig und leiten daraus Empfehlungen ab. Diese sollen Ärzten und Patienten Orientierung geben. Gemäß diesen Leitlinien werden bei plötzlichen Symptomen (Schüben) Kortikosteroide eingesetzt. Dies wird Schubtherapie genannt. Bei der MS sind bestimmte Reaktionen des Immunsystems fehlgeleitet, und es kommt zum Angriff auf körpereigenes Gewebe (Autoimmunreaktion). Diese Reaktionen gilt es zu beeinflussen. Medikamente, die das tun, nennt man verlaufsmodifizierend. Diese kann man in die Gruppe der Immunmodulatoren und Immunsuppressiva unterteilen. Immunmodulatoren verändern (modulieren) das Immun system. Immunsuppressiva hingegen bewirken die Unterdrückung (Suppression) des Immunsystems. Darüber hinaus unterscheiden sie sich in ihrem Wirkmechanismus und in ihrer Darreichungsform. So gibt es Medikamente die als Injektion unter die Haut oder in den Muskel oder als Infusion verabreicht werden müssen, außerdem solche die in Form einer Tablette oder Hartkapsel eingenommen werden. 34 35

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Indikation CIS 1 RRMS 1 SPMS 1 Verlaufsmodifizierende Therapie (Hoch-) aktive Verlaufsform 1. Wahl Alemtuzumab Fingolimod Natalizumab 2. Wahl Mitoxantron (-Cyclophosphamid) 4 3. Wahl Experimentelle Verfahren mit aufgesetzten Schüben ohne aufgesetzte Schübe Milde / moderate Verlaufsform Glatiramer acetat Interferon-b 1a im Interferon-b 1a sc Interferon-b 1b sc Dimethylfumarat Glatiramer acetat Interferon-b 1a im Interferon-b 1a sc Interferon-b 1b sc PEG-IFN-b 1a sc Teriflunomid (-Azathioprin) 2 (-IVIa) 3 Interferon-b 1a sc Interferon-b 1b sc Mitoxantron (-Cyclophosphamid) 4 Mitoxantron (-Cyclophosphamid) 4 Schubtherapie 2. Wahl Plasmaseparation 1. Wahl Methylprednisolonplus Bei Versagen einer verlaufsmodifizierten Therapie bei milder / moderater Verlaufsform einer MS werden diese Patienten wie eine aktive MS behandelt. 1 Substanzen in alpahbetischer Reihenfolge; die hier gewählte Darstellung impliziert keine Überlegenheit einer Substanz gegenüber einer anderen innerhalb einer Indikationsgruppe (dargestellt innerhalb eines Kastens) 2 zugelassen wenn Interferon-b nicht möglich oder unter Azathioprin-Therapie stabiler Verlauf erreicht 3 Einsatz nur postpartal im Einzelfall gerechtfertigt, insbesondere vor dem Hintergrund fehlender Behandlungsalternativen 4 zugelassen für bedrohlich verlaufende Autoimmunkrankheiten, somit lediglich nur für fulminante Fälle als Ausweichtherapie vorzusehen, idealerweise nur an ausgewiesenen MS-Zentren DGN / KKNMS Leitlinie zur Diagnose und Therapie der MS, Online-Version, Stand 13.08.2014, Seite 2. 36 37

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Bei der Wahl Ihrer Therapie ist es besonders wichtig, dass Sie mit Ihrem behandelnden Neurologen ausführlich über die für Sie vorgesehene Behandlung sprechen. Lassen Sie sich den Nutzen und das Risiko aller Therapien erklären. Somit können Sie aktiv an Ihrer Therapie mitwirken und die Behandlung mitbeeinflussen. Auch ist eine konsequente Anwendung der verordneten Therapie grundsätzlich wichtig. Behandlungsmöglichkeiten bei MS: Schübe werden mit Kortikosteroiden behandelt. Immunmodulierende Substanzen werden zur positiven Beeinflussung des natürlichen Verlaufs der Krankheit eingesetzt. Besonders aktive Krankheitsstadien können auch mit Immunsuppressiva behandelt werden. Kortikosteroide bei Schüben Kortikosteroide sind Medikamente, die standardmäßig bei akuter Krankheitsaktivität (Schub) verabreicht werden. Kortikosteroide (auch als Glukokortikosteroide oder einfach Steroide bezeichnet) leiten sich vom Kortison ab, einem im Körper produzierten Hormon. Die verabreichten Kortikosteroide unterscheiden sich geringfügig vom körpereigenen Kortison, haben aber den gleichen Effekt und können mittels Infusionen oder oral über einige Tage hinweg verabreicht werden. Kortikosteroide haben im Falle eines Schubes positive Auswirkungen. Die wichtigste davon ist die Hemmung des Immunsystems (entzündungshemmender Effekt). Entzündungen und Wasseransammlungen (Ödeme) im ZNS werden vermindert und die Funktion der schützenden Blut- Hirn-Schranke wieder hergestellt. Dadurch können Dauer und Inten sität von Schüben verringert werden. Akute und kurzzeitige Behandlungen sind im Allgemeinen gut verträglich. Kortikosteroide eignen sich jedoch nicht für Langzeitbehandlungen. Sie unterstützen lediglich die Erholung nach einem akuten Schub. Positive Effekte einer Langzeittherapie auf die MS mit Kortikosteroiden wurden nicht gezeigt. Ferner kann eine Langzeitbehandlung mit Kortikosteroiden Nebenwirkungen, wie z. B. Osteoporose, hervorrufen. Immunmodulierende Medikamente als Langzeittherapie Immunmodulatoren verändern (modulieren) bestimmte Aktionen fehlgeleiteter Abwehrzellen. Das Immunsystem wird damit wieder in Richtung des ursprünglichen Zustands gelenkt bevor dieser von einer Krankheit wie der MS verändert wurde. Immunmodulatoren können die Anzahl und die Schwere von MS-Schüben verringern und den natürlichen Verlauf der Krankheit positiv beeinflussen. Gemäß der Leitlinie werden sie bei der milden bis moderaten Verlaufsform der MS als Therapie eingesetzt. 38 39

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Ein frühzeitiger Therapiestart mit einem immunmodulierenden Medikament kann von Vorteil sein. Er kann die jährliche Schubrate senken. Zudem gibt es Hinweise, dass die kognitiven Fähigkeiten positiv beeinflusst werden können. Der Beginn der Therapie sollte bereits nach dem ersten klinischen, auf eine MS hinweisenden Anzeichen (klinisch isoliertes Syndrom, CIS) erfolgen. Es existieren mehrere immunmodulierende Medikamente, die sich in ihrer Darreichungsform und Wirkweise unterscheiden. Langjährige Erfahrungen liegen in der Beta-Interferon Therapie vor. Beta-Interferone Interferone umfassen eine Familie von Eiweißen, die im Körper von bestimmten Abwehrzellen produziert werden, um das Immunsystem zu jedem Zeitpunkt der aktuellen Situation (z. B. Infektion) anzupassen. Man unterscheidet zwischen Alpha-, Betaund Gamma-Interferonen. Sie spielen unterschiedliche Rollen im Rahmen der natürlichen Abwehrfunktion des Immunsystems. Die moderne Biotechnologie ermöglicht es, diese natürlichen Eiweiße in ausreichender Menge herzustellen und sie als Medikamente zu nutzen. Biotechnologisch hergestellte Beta-Interferone sind dem menschlichen Beta-Interferon sehr ähnlich und werden seit vielen Jahren erfolgreich in der MS-Therapie eingesetzt. Wirkmechanismen der Beta-Interferone Kapitel 1 dieser Broschüre erklärt, wie das Immunsystem irrtümlich körpereigenes Gewebe als Feind erkennt und wie Abwehrzellen die normalerweise verschlossene Blut-Hirn-Schranke (BHS) überwinden und das Myelin angreifen (Autoimmunreaktion). Die Behandlung mit Beta-Interferon kann die Funktion der BHS wieder normalisieren und damit Entzündungen im Gehirn eindämmen. Durch diese Eigenschaft kann Beta-Interferon entzündliche Prozesse im Gehirn vermindern und helfen, die fehlgeleitete Immunreaktion wieder unter Kontrolle zu bringen (Abb. 11 unten). Typ I-Interferone (Alpha- und Beta-Interferone) wirken Entzündungen und viralen Infektionen entgegen; Typ II-Interferone (Gamma-Interferon) wirken entzündungssteigernd und werden bei MS verstärkt produziert. Beta-Interferone sind Gegenspieler des Gamma-Interferons und werden als Immunmodulatoren in der MS-Therapie eingesetzt. 40 41

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Abb. 11: Angenommener Wirkmechanismus von Beta-Interferon 4 2 3 1 Beta-Interferon vermindert die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke für fehlgeleitete Immunzellen. 5 6 1 Blutgefäß 2 Schädeldecke* 3 Abwehrzelle durchdringt Blut-Hirn-Schranke 4 Nervenzelle 5 Aktivierte Fresszellen (Makrophagen) 6 Interferon gamma aktiviert Abwehrzellen *A bbildung nicht maßstabsgetreu Gehirn Ohne Beta-Interferon-Behandlung Rückenmark 7 Beta-Interferon reduziert das Ein dringen von Abwehrzellen durch die Blut-Hirn-Schranke 8 Weniger Entzündung und Schaden an Nerven 9 Nicht-aktivierte Abwehrzelle 7 8 9 10 10 Beta-Interferon reduziert die Produk tion von Interferon gamma und somit die Aktivierung von Abwehrzellen Mit Beta-Interferon-Behandlung 42 43

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Schutz von Myelin und Axonen Durch die Hemmung zerstörerischer Makrophagen (aktivierte Fresszellen) schützt Beta-Interferon die Myelinscheiden und Axone vor weiteren Schäden. Unser Gehirn ist in der Lage, Nervenschädigungen in einem gewissen Umfang durch Umlagerung und Remyelinisierung auszugleichen. Der Verlust von Nervenfasern tritt schon in frühen MS- Stadien auf und die Schädigung beschränkt sich nicht auf sichtbare Läsionen in MRT-Aufnahmen, sondern ist auch in noch normal erscheinender weißer Substanz des zen tralen Nervensystems vorhanden. Abb. 12: Beta-Interferon vermindert die Anzahl von aktivierten Makrophagen. Axon Myelinscheide Beta-Interferon Zerstörerische Makrophagen Deaktivierte Makrophagen Beta-Interferon Wenn aber Entzündungen das Myelin und die Axone andauernd (chronisch) angreifen, versagen diese Ausgleichsmechanismen. Die entstandenen Schäden sind nicht mehr rückgängig zu machen. Darum können Behandlungen, die Entzündungen vermindern, bleibenden Schäden an den Nervenzellen entgegenwirken. Beta- Interferone werden also u. a. zur Vorbeugung einer permanenten, irreparablen Schädigung des ZNS durch die MS eingesetzt. 44 45

Grundlagen der MS-Therapie Grundlagen der MS-Therapie Bei einer frühzeitigen Behandlung der MS mit den dafür zugelassenen Beta-Interferonen konnte in klinischen Stu dien eine Verlangsamung der Nervenschädigung gezeigt werden. MS ist jedoch eine Krankheit mit unterschiedlichen Verlaufsformen, und Ihr Arzt wird Ihnen die Therapie option vorschlagen, die Ihrem MS-Typ (siehe Kapitel Formen der MS dieser Broschüre) gerecht wird. Dass eine Behandlung der MS gerade in der Frühphase der Erkrankung wichtig ist, legen neuere Studien nahe. Demnach ist die MS-typische Entzündung am Anfang der Erkrankung besonders aktiv und der Verlust an Nervenzellen schreitet recht schnell voran. In Studien wurde gezeigt, dass die Therapie bereits nach dem ersten Schub sinnvoll ist. Dadurch kann ein zweiter Schub hinausgezögert werden. Verschiedene Verlaufsbeobachtungen aus über 25 Jahren ergaben auch Hinweise auf langfristige Wirkungen der Beta- Interferone in der Langzeitanwendung bei lang bekannter Erfahrung zu Verträglichkeit und Sicherheit des Produkts. Nebenwirkungen Bekannte Nebenwirkungen von Beta-Interferonen sind z. B. grippeähnliche Symptome nach der Injektion und Hautreaktionen an der Einstichstelle. Diese können durch geeignete Maßnahmen zumeist kontrolliert bzw. gelindert werden. Sollten diese Nebenwirkungen über diesen Zeitraum hinaus anhalten oder sich verstärken, ist in jedem Fall der behandelnde Arzt zu kontaktieren. Ihr Arzt oder Apotheker, aber auch die Gebrauchsinformationen ( Beipackzettel ) der einzelnen Präparate informieren Sie ausführlich. Alle Hersteller bieten die Unterstützung durch erfahrene MS-Schwestern und spe zielle Therapiebegleitprogramme mit indivi duell auf Ihre Bedürfnisse zugeschnittenen Informationen und Hilfestellungen an. Weiterführende Informationen zu typischen Symp tomen der MS, dem Alltag mit MS und Bewältigungsstrate gien erhalten Sie in der Broschüre Leben und Alltag mit MS. Nebenwirkungen können vermehrt am Anfang der Therapie auftreten, da sich der Körper an das Präparat gewöhnen muss. 46 47