Kommentar zur Studie des Deutschen Krankenhausinstituts Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin

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Transkript:

Kommentar zur Studie des Deutschen Krankenhausinstituts Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin Prof. Dr. Michael Simon Hannover, August 2017 Inhalt 1 Vorbemerkungen... 1 2 Empfehlung der DIVI und deren Widergabe in der DKI- Studie... 3 3 Zur Bedeutung einer bedarfsgerechten Personalausstattung im Pflegedienst von Intensivstationen... 5 4 Zur Methodik der Studie... 5 4.1 Grundgesamtheit, Stichprobe und die Frage der Repräsentativität... 6 4.2 Befragung mittels Fragebogen... 7 5 Zur Bewertung des Ergebnisses»Pflegekraft pro Patient und Schicht«... 8 6 Fazit... 11 7 Literatur... 13 1 Vorbemerkungen Am 25. Juli 2017 stellte die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) eine in ihrem Auftrag erstellte Studie des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) zur Personalsituation in der Inten- sivpflege und Intensivmedizin vor (DKG 2017). Die Studie sollte primär dazu dienen, Daten über den Stand der Umsetzung und Einhaltung von Vorgaben zur Personalbesetzung auf Intensivstationen zu erhalten, die Bestandteil von drei Richtlinien des Gemeinsamen Bun- desausschusses (G- BA) sind. Darüber hinaus wurden im Rahmen der Studie auch allgemeine Informationen zur Personalsituation auf Intensivstationen erhoben. Die Daten basieren auf einer Befragung mittels eines standardisierten Fragebogens, der an die Geschäftsführungen von insgesamt ca. 1.200 Krankenhäusern verschickt wurde. Ein Ergebnis der Studie ist die Berechnung einer durchschnittlichen Anzahl von Patienten auf Intensivstationen, die von einer Pflegekraft pro Schicht im Jahr 2015 zu versorgen war. Da- mit wird offenbar auf die neuere Diskussion um die vor kurzem vom Bundestag beschlosse- ne Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen reagiert. In der Gesetzesbegründung wird ausdrücklich festgestellt, dass es sich dabei um Vorgaben nach Art so genannter»nurse- to- Patient Ratios«handeln soll. Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahlen sind vor allem in den 1

USA und Australien Teil staatlicher Regulierungen und zeigen Obergrenzen für die Zahl der von einer Pflegekraft pro Schicht maximal zu versorgenden Patienten an (Simon/Mehmecke 2017). Da die amtliche Krankenhausstatistik keine Angaben zur Anzahl des Pflegepersonals auf In- tensivstationen enthält, ist es grundsätzlich zu begrüßen, dass der Versuch unternommen wurde, Daten über die tatsächliche Personalbesetzung auf Intensivstationen zu erheben. Das dafür gewählte methodische Vorgehen, eine Befragung mittels standardisiertem Fragebo- gen, erscheint durchaus angemessen, wenngleich es mit nicht unerheblichen Problemen verbunden ist, auf die an späterer Stelle näher eingegangen wird. Die Studie des DKI kommt zu dem Ergebnis, dass 2015 im Jahresdurchschnitt eine Besetzung von einer Pflegekraft für 2,2 Patienten pro Schicht erreicht wurde. Damit würde laut DKI- Studie die Empfehlung der wichtigsten medizinischen Fachgesellschaft für Intensivmedizin (DIVI) 1 weitgehend eingehalten, denn die DIVI empfehle, so die DKI- Studie, eine Mindestbe- setzung von einer Pflegekraft je zwei Patienten. Das Ergebnis der aktuellen DKI- Studie ist angesichts der seit Jahren geführten Fachdiskussion über personelle Engpässe und Unterbesetzungen im Pflegedienst von Intensivstationen al- lerdings überraschend und steht insbesondere im Gegensatz zu einer vor wenigen Jahren durchgeführten Befragung von leitenden Pflegekräften von Intensivstationen (DIP 2012). Die Befragung des DIP ergab unter anderem, dass in der Frühschicht der in der Regel bestbe- setzen Schicht die von Fachgesellschaften empfohlene 1:1 Besetzung für beatmete Patien- ten nur von 7,5% der befragten Intensivstationen erreicht wurde (ebd.: 6f.). Auf ca. 20% der befragten Intensivstationen musste eine Pflegekraft sogar drei oder mehr beatmete Patien- ten versorgen. Das oben zitierte Ergebnis der DKI- Studie ist insofern erstaunlich, als zwischen der DIP- Befragung (2012) und den durch die DKI- Studie erhobenen Daten (2015) nur wenige Jahre liegen, und auch die DKI- Studie sehr deutlich auf bestehende Stellenbesetzungsprobleme im Pflegedienst von Intensivstationen hinweist (Kap. 5.9). Laut DKI- Studie haben diese Proble- me in den letzten Jahren sogar zugenommen. So seien 2011 durchschnittlich ca. 5% der Stel- len für Pflegepersonal auf Intensivstation unbesetzt gewesen, die aktuelle Befragung ergab für den Herbst 2016 Vakanzen im Umfang von durchschnittlich ca. 8% für alle Krankenhäuser (ebd.: 55). In kleinen Kliniken mit weniger als 300 Betten seien sogar ca. 12% der Stellen un- besetzt. Auf Grundlage einer Hochrechnung der Befragungsergebnisse kommt das DKI zu der Schlussfolgerung, dass gegenwärtig ca. 3.150 Vollkraftstellen in der Intensivpflege unbesetzt sind (ebd.: 55) und stellt fest: Damit haben sich die Stellenbesetzungsprobleme seit 2011 deutlich verschärft (DKI 2017: 55). 1 DIVI: Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin. 2

Insofern erscheint es überraschend, dass die DKI- Studie dennoch zu dem Ergebnis kommt, die Besetzung im Pflegedienst der Intensivstationen entspreche näherungsweise der DIVI- Empfehlung (ebd.: 35). Wenn dem so sein sollte, bestünde eigentlich kein Handlungsbedarf. Es wäre auch irritierend, dass trotz einer doch fast optimalen Personalbesetzung Stellenva- kanzen bestehen und weitere Stellen besetzt werden sollen. Hier tut sich ein Widerspruch auf, der der Klärung bedarf. Da das Ergebnis der DKI- Studie nicht nur deutlich von den Ergebnissen der DIP- Befragung von 2012 abweicht, sondern auch im Gegensatz zur Fachdiskussion der letzten Jahre steht, wirft dies die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der Ergebnisse der DKI- Studie auf. Wenn die echten Zahlen über einen zu untersuchenden Forschungsgegenstand unbekannt sind sonst bedürfte es keiner Forschung dazu und Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, rückt vor allem das jeweilige methodische Vorgehen in den Mittelpunkt des Inte- resses. Die Ergebnisse einer empirischen Studie können als umso vertrauenswürdiger gelten, je besser die angewendete Methodik war. Darum soll im Folgenden die Methodik der aktuel- len Studie des DKI einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Zuvor soll jedoch auf die Widergabe der DIVI- Empfehlung in der DKI- Studie eingegangen werden, da diese Empfehlung für die Fachdiskussion von besonderer Bedeutung ist und die darin enthaltenen Angaben zur Personalbesetzung zumindest in relevanten Teilen der Fach- diskussion als Maßstab für eine bedarfsgerechte Personalbesetzung auf Intensivstationen gelten. Daran anschließend soll kurz die Bedeutung einer bedarfsgerechten Personalbeset- zung im Pflegedienst von Intensivstationen für die Patientenversorgung angesprochen wer- den, um dann die Methodik der Studie zu betrachten und abschließend die in der Studie berechneten Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahlen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. 2 Empfehlung der DIVI und deren Widergabe in der DKI- Studie Wie bereits erwähnt, wird in der vorliegenden DKI- Studie festgestellt, die durch die Befra- gung ermittelte Personalbesetzung von einer Pflegekraft auf durchschnittlich 2,2 Patienten pro Schicht zeige, dass die DIVI- Empfehlung zum Personalschlüssel je Schicht zumindest im Mittel aller Krankenhäuser näherungsweise erreicht werde (ebd.: 35). Dem ist allerdings zu widersprechen. Die entsprechende DIVI- Empfehlung wird in der DKI- Studie dahingehend zitiert, dass sie eine Mindestbesetzung von einer Pflegekraft für zwei Patienten vorsehe (DKI 2017: 6, 17, 34). Diese Darstellung ist jedoch unvollständig, wie die nachfolgende Passage der DIVI- Empfehlung für die Pflege- Ausstattung zeigt: Für zwei Behandlungsplätze ist pro Schicht eine Pflegekraft erforderlich. (Empfehlungsgrad 1A). Zusätzlich soll eine Stelle für die pflegedienstliche Leitung (mit der Qualifikation der Fachweiterbil- dung Anästhesie und Intensivtherapie) pro Intensivtherapieeinheit vorgesehen werden (Empfehlungs- grad 1C). 3

Bei speziellen Situationen (z.b. schwere Verbrennungen, extrakorporale Lungenersatzverfahren), einem hohen Anteil (>60%) an Patienten mit Organersatzverfahren (z.b. Beatmung, Nierenersatzverfahren) oder zusätzlichen Aufgaben (z.b. Stellung des Reanimationsteam für das Krankenhaus, Begleitung der Transporte der Intensivpatienten) soll eine erhöhte Präsenz von Pflegepersonal bis zu einer Pflegekraft pro Bettenplatz pro Schicht eingesetzt werden (Empfehlungsgrad 1C). Der Anteil an qualifizierten Intensiv- Fachpflegekräften soll mindestens 30% des Pflegeteams der Inten- sivtherapieeinheit betragen. (Empfehlungsgrad 1C) (DIVI 2010a: 14; 2010b: 5). Wie an dieser Passage zu erkennen, geht die DIVI- Empfehlung deutlich über das hinaus, was in der DKI- Studie zitiert wird. Folgende für die Personalbesetzung relevante Bestandteile der DIVI- Empfehlung lässt die DKI- Studie unterwähnt: Für bestimmte Patientengruppen wird ausdrücklich eine höhere Personalbesetzung pro Schicht verlangt, bis hin zu einer 1:1 Besetzung, insbesondere für beamtete Patienten, zu denen ein erheblicher Teil der Intensivpatienten gehört. 2 Darüber hinaus sieht die DIVI- Empfehlung eine höhere Personalbesetzung vor, sofern das Intensivpersonal zusätzliche Aufgaben zu übernehmen hat, wie bspw. die Stellung des Reanimationsteams für das Krankenhaus oder die Begleitung der Transporte von In- tensivpatienten. Zudem empfiehlt die DIVI die zusätzliche Vorhaltung einer Stelle für die pflegedienstliche Leitung der Station vor, die nicht in dem Pflegepersonal/Patienten- Schlüssel enthalten ist. Und schließlich beinhaltet die DIVI- Empfehlung auch eine Aussage zur Qualifikations- struktur der Pflegeteams von Intensivtherapieeinheiten. Betrachtet man die DIVI- Empfehlung insgesamt, wird bereits deutlich, dass sie in der Ge- samtheit ihrer Anforderungen über eine einfache 1:2 Besetzung deutlich hinausgeht. Insbe- sondere aus der geforderten höheren Personalbesetzung für beatmete Patienten ergibt sich ein höherer durchschnittlicher Personalschlüssel als eine 1:2 Besetzung, da ein erheblicher Teil der Intensivpatienten, vor allem der Frischoperierten und der schwerstkranken Lang- zeitpatienten von maschineller Beatmung abhängig ist. Wollte man die DIVI- Empfehlung auf einen Durchschnittswert umrechnen, der nicht nur die 1:2 Regelversorgung, sondern auch 1:1 Besetzungen für Patienten in speziellen Situationen (Beatmung, schwere Verbrennungen, Organtransplantation, Dialyse etc.) einschließt, so würde dieser Durchschnittswert mit hoher Wahrscheinlichkeit deutlich unter einer 1:2 Be- setzung liegen. An späterer Stelle dieses Papiers wird näher auf die Bedeutung dieses Aspek- tes eingegangen. 2 Auch die Empfehlung der für die Intensivpflege zuständigen Fachgesellschaft sieht als Regelbesetzung eine 1:2 Besetzung und für Patienten mit aufwendigen organunterstützenden Interventionen wie Beatmung, Dialyse, Organtransplantationen eine 1:1 Besetzung vor (DGF 2015). 4

3 Zur Bedeutung einer bedarfsgerechten Personalausstattung im Pflege- dienst von Intensivstationen Die Sicherstellung einer bedarfsgerechten Personalbesetzung im Pflegedienst der Intensiv- stationen ist eine zentrale Voraussetzung für die angemessene und ausreichende Versor- gung der Intensivpatienten. Pflegekräfte auf Intensivstationen führen nicht nur Maßnahmen der so genannten Grundpflege aus, sondern überwachen die Vitalzeichen der Patienten, um entstehende Verschlechterungen des Zustandes von Patienten möglichst frühzeitig erken- nen und erforderliche Maßnahmen entweder selbst vornehmen oder den ärztlichen Dienst informieren zu können, damit dieser geeignete Schritte einleitet. Intensivpflegekräfte führen hochaufwendige und komplexe Maßnahmen der Patientenversorgung selbst durch, wie bspw. das Management der Beatmung, und nehmen in der Regel zentrale Aufgaben in der Organisation der individuellen Patientenversorgung wahr. Die unzureichende Ausstattung einer Intensivstation mit Pflegepersonal kann darum hoch- gradig gefährlich für die dort versorgten Patienten werden. Die Empfehlung der DIVI baut dementsprechend auch ausdrücklich auf dieser für die Patientenversorgung zentralen Be- deutung des Pflegepersonals auf und verweist als Begründung für die Empfehlung auf die Ergebnisse hochwertiger internationaler Studien. Diese werden dahingehend zusammenge- fasst, dass eine unzureichende Besetzung in der Pflege das Risiko schwerwiegender Kompli- kationen erhöht, insbesondere für (DIVI 2010a: 14-18): Medikationsfehler beatmungs- assoziierte nosokomiale Pneumonie respiratorische Komplikationen ungeplante Extubation kathederassoziierte Sepsis kardiale Komplikationen sowie weitere schwere Komplikationen und gefährdende Situationen für Patienten. 4 Zur Methodik der Studie Da die amtliche Krankenhausstatistik leider keine oder keine ausreichend differenzierten Daten zur Personalbesetzung im Pflegedienst von Intensivstationen bietet, kommt jeder Form eigenständiger Datenerhebungen bspw. im Rahmen einer Krankenhausbefragung eine besondere Bedeutung aber auch Verantwortung zu. Für die Einschätzung der durch empirische Studien direkt erhobenen Daten ist die jeweils angewendete Methodik von zentraler Bedeutung. Im Folgenden soll darum die Methodik der aktuellen DKI- Studie näher betrachtet werden. 5

4.1 Grundgesamtheit, Stichprobe und die Frage der Repräsentativität Die Ergebnisse der DKI- Studie basieren auf einer Befragung aller so genannten»entnahme- krankenhäuser«nach 9a Transplantationsgesetz. Die Befragung wurde mittels eines stan- dardisierten Fragebogens durchgeführt. Die Grundgesamtheit umfasste laut Bericht 1.261 Krankenhäuser. Damit wurden nach Einschätzung des DKI ca. 97% aller Intensivbetten er- fasst (DKI 2017: 19). Von diesen 1.261 Krankenhäusern antworteten jedoch nur 314, so dass die Rücklaufquote bei lediglich ca. 25% lag. Niedrige Rücklaufquoten sind ein grundsätzliches Problem jeder Befragung, die auf freiwillige Teilnahme angewiesen ist, und insofern nicht dem DKI anzulas- ten, zumal sowohl die DKG als auch die Landeskrankenhausgesellschaften ihren Mitgliedskli- niken die Teilnahme ausdrücklich empfohlen hatten. Vor diesem Hintergrund ist es jedoch nicht angemessen, die Befragung als repräsentative Studie zu bezeichnen, wie dies in der Pressemitteilung der DKG vom 25.07.2017 der Fall ist.(dkg 2017). In der Studie selbst wird dieser Anspruch auch gar nicht erhoben. In der Einlei- tung ist nur die Rede davon, dass es beabsichtigt gewesen sei, die Forschungsziele mittels einer repräsentativen Krankenhausbefragung zu erreichen (DKI 2017: 8). Im Methodenkapi- tel wird lediglich festgestellt, der Rücklauf sei repräsentativ für die Verteilung der Entnah- mekrankenhäuser nach DSO- interner Kategorisierung in A-, B- und C- Krankenhäuser (ebd.: 19). Dies ist etwas deutlich anderes als die Behauptung, die Studie und ihre Ergebnisse seien insgesamt repräsentativ. Der Autor der Studie, Karl Blum, war sich der Bedeutung der nied- rigen Rücklaufquote offenbar sehr wohl bewusst und entsprechend zurückhaltend in der Bewertung der Ergebnisse. Eines der zentralen Probleme einer niedrigen Rücklaufquote ist, dass sie Zweifel an der Re- präsentativität der Ergebnisse gerechtfertigt erscheinen lässt. Je niedriger die Rücklaufquote ist, desto größer das Risiko systematischer Verzerrungen. Im Fall der aktuellen DKI- Studie könnten bspw. vor allem Klinikleitungen, deren Intensivstationen die Anforderungen der G- BA Richtlinien nicht erfüllen oder eine deutlich unterdurchschnittliche Personalbesetzung im Pflegedienst aufweisen, eine Beantwortung der Fragebögen unterlassen haben, da sie diese Mängel nicht öffentlich machen wollten. Auch wenn die Aufbereitung der Befragungsergeb- nisse keine Rückschlüsse auf einzelne Kliniken ermöglicht, so können durch entsprechende Gesamtergebnisse dennoch Mängel sichtbar machen, bspw. dass ein bestimmter Prozent- satz der Kliniken die Vorgaben erheblich unterschreitet. Dies kann im politische Raum die Frage aufwerfen, um welche Kliniken es sich dabei handelt, und weitere Nachforschungen nach sich ziehen, um die Problemfälle im Einzelnen zu identifizieren. Insofern kann die Nicht- teilnahme von Krankenhausleitungen auch Ergebnis strategischer Überlegungen sein und dadurch zu einer systematischen Verzerrung der Studienergebnisse führen. Im Fall der DKI- Studie dürfte dieses Risiko insofern erhöht sein, als insbesondere auch die Einhaltung von G- 6

BA Richtlinien abgefragt wurde, die Voraussetzung für die Abrechnung der betreffenden Leistungen ist. Der Verweis auf die Übereinstimmung der Verteilung der Krankenhausgrößen in der Stich- probe mit der Verteilung in der Grundgesamtheit kann diese Bedenken nicht zerstreuen. Eine systematische Verzerrung, wie sie oben skizziert wurde, verläuft mit hoher Wahrschein- lichkeit nicht entlang von Bettenzahlen, sondern ist ein eigenständiges Merkmal, dessen Verteilung unbekannt ist. In diesem Zusammenhang ist auch kritisch anzumerken, dass die Ergebnisse zur Personalbe- setzung nur als Durchschnittswerte für drei relativ grobe Größengruppen von Krankenhäu- sern ausgewiesen werden. Weitere für die politische und fachliche Diskussion durchaus inte- ressante differenzierende Berechnungen wie bspw. nach Trägerschaft oder Region wur- den nicht vorgenommen, obwohl dies auf Grundlage der erhobenen Daten möglich gewesen wäre. 4.2 Befragung mittels Fragebogen Die Befragung erfolgte mittels eines standardisierten Fragebogens, der per Post an die jewei- lige Geschäftsführung des Krankenhauses gesendet wurde. Die Geschäftsführungen konnten ihn selbst ausfüllen oder an nachgeordnete Mitarbeiter zum Ausfüllen weiterleiten. Da das Wissen um die Personalbesetzung auf Intensivstationen bei Leitungskräften der Intensivsta- tionen besser und verlässlicher sein dürfte als bei Mitgliedern der Geschäftsführung oder des Vorstandes, wäre es wichtig gewesen, zu erfahren, wie viele Fragebögen von Leitungs- kräften der Intensivstationen beantwortet wurden. Entsprechende Angaben fehlen leider in der DKI- Studie. Da offenbar nur ein Fragebogen je Krankenhaus versendet wurde, wäre es vor allem wichtig gewesen, zu erfahren, ob mit diesem einen Fragebogen auch die Personalbesetzung mehre- rer Intensivstationen eines Krankenhauses erfasst werden konnte. Da der Fragebogen leider nicht im Anhang des Abschlussberichts abgedruckt wurde und zu dieser Frage auch keine Angaben im Bericht enthalten sind, ist nicht erkennbar, ob und wie Unterschiede zwischen mehreren Intensivstationen eines Krankenhauses erfasst wurden. Die Darstellung der Er- gebnisse legt jedenfalls die Annahme nahe, dass nur jeweils ein Wert für alle Intensiveinhei- ten eines Krankenhauses abgefragt wurde. Sollte nur jeweils ein Wert für das gesamte Krankenhaus abgefragt worden sein, würde dies die Aussagekraft der Ergebnisse einschränken, da vor allem größere Kliniken, insbesondere Universitätskliniken, über mehrere, in der Regel fachabteilungsgebundene Intensivstationen verfügen, die sich nicht nur hinsichtlich der Patientenstruktur, sondern auch anderer rele- vanter Merkmale unterscheiden können. Die Befragung erbrachte, dass ca. 28% der insge- 7

samt erfassten Krankenhäuser mehr als eine Intensivstation haben, bei den Krankenhäusern mit einer Größe von 600 und mehr Betten waren es fast 80% (ebd.: 24). Wurde nur ein Wert für alle Intensivstationen abgefragt, ist damit zugleich auch vorent- schieden, dass die Studie keine differenzierten Analysen zu fachabteilungsbezogenen oder interdisziplinären Intensivstationen ermöglicht. 5 Zur Bewertung des Ergebnisses»Pflegekraft pro Patient und Schicht«Ein zentraler Bestandteil der vorliegenden Studie ist die Berechnung der durchschnittlichen Personalbesetzung im Pflegedienst der Intensivstationen, ausgedrückt als Verhältniszahl»Pflegekraft je Patient und Schicht«. Diese Kennzahl wurde jedoch nicht direkt von den Krankenhäusern abgefragt, sondern vom DKI auf Grundlage der erhobenen Daten berech- net: Ein weiterer Indikator für das Betreuungsverhältnis in der Intensivpflege ist das Verhältnis von Patien- ten zu Pflegekräften je Schicht und Intensivstation. Dieses Verhältnis wurde nicht direkt erfragt, sondern auf Basis der erhobenen Daten wie folgt taxiert: Die durchschnittliche Fallzahl im Intensivbereich je Tag und damit (vereinfacht) auch je Schicht entspricht der Anzahl der Intensivbelegungstage pro Kranken- haus und Jahr dividiert durch die Anzahl der 365 Jahrestage. Die durchschnittliche Netto- Jahresarbeitszeit je Pflegekraft in der Intensivpflege entspricht ihrer Soll- Arbeitszeit (= 250 Tage x 7,8 h pro Tag und Vollkraft) abzüglich der Ausfallzeiten für Urlaub, Krankheit, Fortbildung etc. (die pauschal auf 20 % taxiert wurden). Die Netto- Jahresarbeitszeit einer Vollkraft in der Intensivpflege liegt danach bei 200 Arbeitstagen pro Jahr. Multipliziert man diesen Wert mit der Anzahl der Vollkräfte je Kranken- haus und dividiert das Produkt durch 365 Tage und 3 Schichten pro Tag, resultiert die durchschnittliche Schichtbesetzung im Intensivbereich je Krankenhaus (DKI 2017: 33). Demnach wurde bei der Schätzung der durchschnittlichen Zahl der Patienten je Pflegekraft pro Schicht wie folgt vorgegangen: Die Zahl der Belegungstage auf Intensivstationen pro Krankenhaus und Jahr wurde ge- teilt durch 365 Jahrestage. Die Netto- Arbeitszeit je Pflegekraft (Vollkraft) pro Jahr wurde berechnet, indem von ei- ner Soll- Arbeitszeit von 250 Arbeitstagen/Jahr und 7,8 Arbeitsstunden pro Tag ausgegan- gen wurde und von diesem Wert eine Ausfallzeit (Urlaub, Krankheit etc.) von 20% abge- zogen wurde. Dies ergab eine durchschnittliche Netto- Arbeitszeit von 200 Arbeitstagen pro Vollkraft und Jahr. Die durchschnittliche Personalbesetzung pro Schicht wurde berechnet, indem die Zahl der Netto- Arbeitstage (200) mit der Zahl der Vollkräfte pro Jahr multipliziert und der sich daraus ergebende Wert durch 365 Jahrestage und 3 Schichten geteilt wurde. Dieser Rechenweg erscheint plausibel, entspricht dem Stand der Fachdiskussion und ist ver- gleichsweise gut durchdacht (besser als bei manch anderer Studie der neueren Zeit). 8

Die Berechnung führt zu dem Ergebnis, dass 2015 im Durchschnitt aller Krankenhäuser, die geantwortet haben, eine dreijährig ausgebildete Pflegekraft pro Schicht 2,2 Patienten zu versorgen hatte (ebd.: 34). Zusätzlich zu diesem Mittelwert für alle erfassten Krankenhäuser werden die Mittelwerte für drei Krankenhausgrößenklassen (unter 300 Betten, 300-599 Bet- ten, ab 600 Betten) ausgewiesen sowie die Mittelwerte für das jeweils höchste Viertel (obe- rer Quartilswert) und unterste Viertel (unterer Quartilswert). Die verschiedenen Mittelwerte weisen nur geringe Unterschiede auf. Bei den errechneten Werten sind jedoch eine Reihe Einschränkungen zu beachten: Es sind Durchschnittswerte nicht nur für alle Krankenhäuser und Arten von Intensivstati- onen, sondern vor allem auch für alle Arten von Intensivpatienten. Wie eingangs mit ei- nem Zitat belegt, unterscheidet die DIVI- Empfehlung zwischen einer Regelbesetzung von 1:2 und der Notwendigkeit einer höheren Personalbesetzung für eine Reihe von Patien- tengruppen, die einen überdurchschnittlichen Pflegebedarf aufweisen, bspw. Beat- mungspatienten. Darüber hinaus weist die DIVI ausdrücklich darauf hin, dass eine höhere Personalbesetzung erforderlich ist, wenn das Intensivpersonal zusätzliche besondere Aufgaben wahrzunehmen hat, wie bspw. die Vorhaltung eines Reanimationsteams für das gesamte Krankenhaus. Eine so differenzierte Datenerhebung und - darstellung wäre auch in der DKI- Studie notwendig gewesen. Der Durchschnittswert der DKI- Studie bezieht offenbar alle auf dem Stellenplan der be- treffenden Intensiveinheiten enthaltenen Pflegekräfte ein und nicht nur das in der direk- ten Pflege tätigen Pflegepersonal. Damit aber werden auch Leitungskräfte mitgezählt, die laut DIVI- Empfehlung (und auch international üblich) ausdrücklich nicht auf die Erfül- lung der Personalquote angerechnet werden dürfen, da sie zumindest auf größeren In- tensivstationen häufig nicht mehr oder nur noch in Ausnahmefällen in der direkten Pfle- ge tätig sind. Für die Berechnung der Zahl der Patienten pro Schicht wurden die Angaben zur Zahl der Belegungstage verwendet. Die Zahl der Belegungstage wird auf Grundlage der so ge- nannten»mitternachtsstatistik«um 24 Uhr erfasst und enthält folglich keine Patienten, die nach Mitternacht aufgenommen und vor 24 Uhr des betreffenden Tages wieder ver- legt wurden oder verstorben sind (so genannte»stundenfälle«). Zudem erfasst die Mit- ternachtsstatistik auch keine vorübergehenden Mehrbelegungen, die bspw. dadurch entstehen, dass Patienten noch nicht verlegt sind, aber bereits Neuzugänge eintreffen, seien es Notfälle oder Zugänge aus dem OP. Diese Patienten können erheblichen Mehr- aufwand in der Pflege verursachen, insbesondere wenn es sich um Notfälle in einem äu- ßerst kritischen Zustand handelt, wie bspw. Schwerstunfallverletzte, die trotz maxima- lem Therapieaufwand nach wenigen Stunden versterben. 9

Angesichts dieser Einschränkungen erscheint es gerechtfertigt anzunehmen, dass der tat- sächliche Wert in der Krankenhauswirklichkeit über dem in der DKI- Studie errechneten von 1:2,2 liegt, vermutlich näher an 2,5 und in einem relevanten Teil der Krankenhäuser womög- lich in einem Bereich zwischen 1:2,5 und 1:3. Von zentraler Bedeutung für die Bewertung dieser Kennzahlen der Personalbesetzung ist der Abgleich mit einer als bedarfsgerecht geltenden Soll- Besetzung. Hier hat die DKI- Studie selbst die DIVI- Empfehlung zur Personalbesetzung auf Intensivstationen verwendet und so- mit als Maßstab anerkannt. Zur Bewertung des errechneten Wertes wird in der Studie fest- gestellt, er zeige, dass die DIVI- Empfehlung zum Personalschlüssel je Schicht zumindest im Mittel aller Krankenhäuser näherungsweise erreicht werde (ebd.: 35). Wie bereits oben dargelegt, enthält die DIVI- Empfehlung allerdings mehr als nur die Verhältniszahl von einer Pflegekraft pro zwei Patienten für die Regelversorgung. Für Patienten in speziellen Situatio- nen, insbesondere mit Organersatzverfahren wie bspw. der maschinellen Beatmung, hält die DIVI eine höhere Personalausstattung bis hin zu einer 1:1 Betreuung für erforderlich. Insofern ergibt sich aus der DIVI- Empfehlung keine generelle Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl von 1:2. Bezieht man Patienten, die einen höheren Versorgungsbedarf haben, mit ein, ergibt dies einen deutlich höheren durchschnittlichen Personalbedarf und eine Ver- hältniszahl, die unter dem Wert von 1:2 liegt. Dies sollen die beiden folgenden exemplari- schen Rechnungen verdeutlichen: Ist von 20 Intensivpatienten bei 6 Patienten eine 1:1 Betreuung erforderlich und bei den restlichen 14 eine 1:2 Besetzung, so ergibt dies zusammen eine Soll- Besetzung von 13 Pflegekräften (6+7) für 20 Patienten, was einer Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl von ca. 1:1,5 entspricht. Liegt der Anteil der Patienten, für die eine 1:1 Betreuung erforderlich ist, bei 50%, so sind bei 20 Patienten 15 Pflegekräfte erforderlich (10 Patienten 1:2 Betreuung = 5 Pflegekräf- te, 10 Patienten 1:1 Betreuung = 10 Pflegekräfte). Das erforderliche Pflegekraft- Patienten- Verhältnis würde damit bei ca. 1:1,33 liegen. Zusätzlich wäre noch eine Stationsleitung vorzuhalten, die nicht auf den Stellenschlüssel an- gerechnet wird. Die oben erwähnten Stundenfälle sollen hier der Einfachheit wegen ver- nachlässigt werden. Für die genaue Höhe einer aus der DIVI- Empfehlung abzuleitenden Soll- Besetzung wäre so- mit insbesondere der Anteil der Patienten ausschlaggebend, die eine 1:1 Betreuung benöti- gen. Wie hoch dieser Anteil im Durchschnitt aller Intensivstationen ist, wurde in der DKI- Studie leider nicht erfragt. Allerdings findet sich ein gewisser, wenn auch unsicherer Anhalt in der Studie, denn es wurde auch der Anteil der Beatmungsplätze an der Gesamtzahl der Intensivplätze erhoben. Er lag im Bundesdurchschnitt bei 76% (DKI 2017: 27). Sicherlich kann man davon nicht ableiten, dass auch drei Viertel der Belegungstage auf beatmete Patienten 10

entfielen. Die Zahl von 76% darf aber wohl als starker Hinweis darauf gedeutet werden, dass 2015 ein erheblicher Teil der Belegungstage auf beatmete Patienten entfiel. Es erscheint insofern gerechtfertigt, davon auszugehen, dass sich aus der DIVI- Empfehlung bei einem dem allgemeinen Durchschnitt entsprechenden Patientenmix auf Intensivstatio- nen eine Soll- Besetzung in Höhe einer Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl ergibt, die näher bei 1:1,5 liegt als bei 1:2. Daraus wiederum ergäbe sich eine erhebliche Lücke zwischen einer solchen Soll- Besetzung nach DIVI- Empfehlung und dem in der DKI- Studie errechneten Pfle- gekraft- Patienten- Verhältnis von 1:2,2. Geht man von einer durchschnittlichen Soll- Besetzung nach DIVI- Empfehlung in Höhe von 1:1,5 aus, dann ergäbe dies eine Differenz von 0,7 Patienten je Pflegekraft und Schicht, was einer Unterbesetzung gegenüber der DIVI- Empfehlung in Höhe von ca. 50% entspräche. Hinzu kommen noch Zweifel daran, ob die in der DKI- Studie errechnete Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl von 1:2,2 die Wirklichkeit auf Intensivstationen hinreichend valide abbildet. Wie oben dargelegt, werden mit der Zahl der Belegungstage keine Patienten er- fasst, die nach Mitternacht aufgenommen und vor 24 Uhr wieder verlegt wurden oder ver- storben sind. Zudem besteht bei dem sehr geringen Rücklauf in Höhe von lediglich 25% bei einem so sensiblen Befragungsthema ein hohes Risiko systematischer Verzerrungen, vor allem durch Nichtteilnahme von Krankenhäusern mit unzureichend besetzten Intensivstatio- nen. Angesichts dieser Probleme erscheint es gerechtfertigt davon auszugehen, dass der wahre Wert der Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahlen über dem in der DKI- Studie errechneten Wert von 1:2,2 liegt. Sollte er bei 1:2,5 oder sogar im Bereich von 1:2,5 bis 1:3 liegen, so würde dies die Lücke zwischen der oben hergeleiteten Soll- Besetzung und der tatsächlichen Besetzung noch einmal deutlich vergrößern. Auch wenn diese Zahlen und Differenzen auf den ersten Blick recht klein erscheinen, es darf nicht vergessen werden, dass es sich um die Versorgung von Patienten in einem hochgradig vulnerablen Zustand handelt. Ist eigentlich ein Pflegekraft- Patienten- Verhältnis von 1:1 not- wendig, kann ein Pflegekraft- Patientenverhältnis von 1:2 oder 1:3 je nach Fallschwere und aktuellem Zustand der betreffenden Patienten eine Verdoppelung oder Verdreifachung der Arbeitsbelastung bedeuten und das Risiko schwerwiegender Komplikationen für die be- troffenen Patienten deutlich erhöhen. 6 Fazit Grundsätzlich ist es zu begrüßen, dass der Versuch unternommen wurde, Daten über die tatsächliche Personalbesetzung auf Intensivstationen zu gewinnen, denn die amtliche Kran- kenhausstatistik bietet weder Daten zur Gesamtzahl des Pflegepersonals auf Intensivstatio- 11

nen noch Informationen dazu, wie viele Patienten eine Pflegekraft auf einer Intensivstation pro Schicht zu versorgen hat. Die vom DKI durchgeführte Befragung weist jedoch erhebliche Limitationen auf und die durch die Befragung gewonnenen Daten wurden leider auch nicht in der Differenziertheit aufbereitet und veröffentlicht, wie dies für die gegenwärtige Diskussion wünschenswert ge- wesen wäre. Da nur 25% der befragten Krankenhäuser geantwortet haben, können die Er- gebnisse nicht als repräsentativ für die Grundgesamtheit gelten. Da insbesondere auch nach dem Grad der Erfüllung von G- BA Richtlinien gefragt wurde, und die Erfüllung von Vorgaben des G- BA zur Personalbesetzung Voraussetzung für die Abrechnungsfähigkeit der von den Vorgaben erfassten Leistungen ist, muss davon ausgegangen werden, dass die Befragungs- ergebnisse durch strategisch motivierte Nichtbeteiligung systematisch verzerrt sind. Zudem wurden bei der Berechnung so genannte»stundenfälle«, die nur kurze Zeit auf einer Intensivstation lagen und nicht in der Mitternachtsstatistik erscheinen, nicht berücksichtigt. Auf der Seite der Personalbesetzung wurden hingegen offenbar auch Leitungskräfte, die nicht oder nur gelegentlich in der direkten Pflege tätig sind, mitgezählt. Angesichts dieser Limitationen erscheint es gerechtfertigt davon auszugehen, dass die tat- sächliche Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl über dem in der Befragung errechneten Wert von 1:2,2 liegt und eher im Bereich von 1:2,5 oder höher zu vermuten ist. Aber auch ein Wert von 1:2,2 weicht bereits deutlich von der Empfehlung der DIVI ab. An- ders als in der DKI- Studie dargestellt, beschränkt sich die DIVI- Empfehlung nicht auf die An- gabe einer Soll- Besetzung für die Regelversorgung von Intensivpatienten, sondern enthält auch eindeutige Aussagen zur Versorgung von Patienten in speziellen Situationen, insbeson- dere mit so genannten»organersatzverfahren«wie bspw. maschinelle Beatmung, Dialyse, Zustand nach Herz- oder Lebertransplantation etc. Für diese Patienten wird eine deutlich höhere Personalbesetzung für notwendig gehalten, bis hin zu einer 1:1 Betreuung. Da ein erheblicher Teil der Intensivpatienten zu einer Patientengruppe gehört, für die eine 1:1 Betreuung erforderlich ist, ergibt sich aus der DIVI- Empfehlung bereits bei einem Anteil von ca. 1/3 beatmeter Patienten eine erforderliche durchschnittliche Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl von ca. 1:1,5. Stellt man dem die Ergebnisse der DKI- Befragung gegenüber, so ergibt dies bereits bei einem Besetzungsschlüssel von 1:2,2 eine erheblich Lücke. Eine Lücke im Umfang von 0,7 Patienten pro Pflegekraft und Schicht bedeutet bei einer Soll- Besetzung von 1:1,5 eine Überschreitung der aus der DIVI- Empfehlung abzuleitenden maximalen Ar- beitsbelastung um ca. 50%. Sollte der tatsächliche Wert der durchschnittlichen Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl sogar noch über dem in der DKI- Studie gemessenen Wert liegen, bspw. bei 2,5 oder höher, wäre dies ein Hinweis darauf, dass die DIVI- Empfehlung im Durch- schnitt der Krankenhäuser in noch stärkerem Maße nicht eingehalten wird. 12

Es ist abschließend noch darauf hinzuweisen, dass die Ergebnisse der DKI- Studie keineswegs als Beleg dafür gewertet werden können, dass verbindlich einzuhaltende Vorgaben zur Per- sonalbesetzung im Pflegedienst von Intensivstationen unnötig sind. Statistische Mittelwerte können hierzu keinerlei hilfreiche Orientierung bieten. Selbst wenn im Jahresdurchschnitt eine Pflegekraft- Patienten- Verhältniszahl von 1:2 eingehalten wird, so können sich hinter einem solchen Durchschnittswert erhebliche Varianzen verbergen. Um dies an einem fikti- ven Beispiel zu veranschaulichen: Wenn eine noch relativ unerfahrene Pflegekraft auf einer Intensivstation nur einen Beatmungspatienten versorgt und neben ihr eine erfahrenere und fachweitergebildete Intensivpflegekraft drei Patienten versorgen muss und von diesen Pati- enten zwei beatmet sind, dann wird in diesem Fall zwar der Durchschnittswert eingehalten, aber dennoch können Patienten durch die Überlastung des Pflegepersonals einer unmittel- baren Gefahr ausgesetzt sein. Ein Jahresdurchschnittswert kann auch nicht verhindern, dass nicht nur einzelne Pflegekräfte, sondern zeitweilig sogar alle Pflegekräfte einer Station über- lastet sind, weil sie im Schnitt 3-4 Patienten zu versorgen haben. Sollen Patienten auf Intensivstationen vor den Gefahren einer unzureichenden Personalbe- setzung im Pflegedienst geschützt werden, sind verbindliche Mindestbesetzungen, die jeden Tag und jede Schicht eingehalten werden müssen, unerlässlich, so wie dies bspw. in US- Bundesstaat Kalifornien seit 2004 der Fall ist (Simon/Mehmecke 2017). Und diese Vorgaben müssen auch Vorgaben zur Qualifikation bzw. einem mindestens einzuhaltenden Qualifikati- onsmix beinhalten. 7 Literatur DGF, Deutsche Gesellschaft für Fachkrankenpflege und Funktionsdienste e.v. (2015): Empfehlungen zur qualitativen und quantitativen Pflegepersonalbesetzung von Intensivstationen. Online verfügbar unter: http://www.dgf- online.de/empfehlung- zur- qualitativen- und- quantitativen- pflegepersonalbesetzung- von- intensivstationen/ (26.07.2017). DIP, Deutsches Institut für angewandte Pflegeforschung (2012): Pflege- Thermometer 2012. Eine bundesweite Befragung von Leitungskräften zur Situation der Pflege und Patientenversorgung auf Intensivstationen im Krankenhaus. Köln: DIP. DIVI, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (2010a): Empfehlungen zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen - Hintergrundtext. Online verfügbar unter: http://www.divi.de/images/dokumente/empfehlungen/strukturempfehlungen/2011_strukturempfehlun glangversion.pdf (26.07.2017). DIVI, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (2010b): Empfehlungen zur Struktur und Ausstattung von Intensivstationen - Kurzversion. Online verfügbar unter: http://www.divi.de/images/dokumente/empfehlungen/strukturempfehlungen/2011_strukturempfehlun gkurzversion.pdf (26.07.2017). DKG, Deutsche Krankenhausgesellschaft (2017): DKG stellt DKI- Gutachten Personalsituation auf Intensivstationen vor. Fachkräftemangel eine Herausforderung für alle. Pressemitteilung vom 25.07.2017. Online verfügbar unter: http://www.dkgev.de/media/file/55621.2017-07- 25_PM- DKI- Gutachten_Personalsituation- auf- Intensivstationen.pdf (26.07.2017). DKI, Deutsches Krankenhausinstitut (2017): Personalsituation in der Intensivpflege und Intensivmedizin. Gutachten des Deutschen Krankenhausinstituts im Auftrag der Deutschen Krankenhausgesellschaft. 13

Online verfügbar unter: http://www.dkgev.de/media/file/55651.2017-07- 15_PM_Anlage_Langfassung_DKI- Gutachten_Personalsituation_Intensivpflege_und_Intensivmedizin.pdf (26.07.2017). Simon, Michael; Mehmecke, Sandra (2017): Nurse- to- Patient Ratios. Ein internationaler Überblick über staatliche Vorgaben zu einer Mindestbesetzung im Pflegedienst der Krankenhäuser. Working Paper der Forschungsförderung der Hans- Böckler- Stiftung, Nr. 27, Februar 2017. Online verfügbar unter: http://www.boeckler.de/cps/rde/xchg/hbs/hs.xsl/106575_107296.htm (9.02.2017). 14