Friedens- und Konfliktforschung Weltöffentlichkeit und Zivilgesellschaft: Entwicklung und Bedeutung 10. Vorlesung
Inhalt Öffentliche Meinung und der Irak-Krieg Öffentliche Meinung und die Haltung zu den USA Gemeinsamkeiten und Fragmentierung Der Begriff der Zivilgesellschaft Wachstum und Bedeutung der Nichtregierungsorganisationen Nichtregierungsorganisationen und Staat Nichtregierungsorganisationen und Legitimität Transnationalität und Fragmentierung WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 2
Vor und während des Irak-Krieges gab es in Ansätzen so etwas wie eine Weltöffentlichkeit In nahezu allen Ländern der Erde, in denen Befragungen durchgeführt wurden, gab es Mehrheiten gegen den Krieg als solchen oder zumindest gegen einen Krieg ohne VN-Mandat Die Ausnahme bildeten die Vereinigten Staaten, aber auch dort existierte eine nennenswerte oppositionelle Mindermeinung Am 15.2. fanden große Demonstrationen in etwa 70 Ländern statt. Sie umfassten alle Kontinente und Kulturkreise Dieses Meinungsbild deutet auf die folgenden Gemeinsamkeiten hin: eine starke Skepsis gegenüber der kriegsbegründenden Bedrohungsanalyse ein erhebliches Misstrauen gegenüber der Führungsmacht USA eine deutliche Abneigung gegen den Einsatz militärischer Gewalt WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 3
Die Bush-Ära ist durch einen dramatischen Verfall des Ansehens amerikanischer Politik gekennzeichnet Zwischen 2001 und 2003 ist die Zustimmung zur US-Außenpolitik weltweit zurückgegangen. Der Rückgang beträgt von ca. 15% (Großbritannien) über ca. 30% (Deutschland) bis zu mehr als 50% (Jordanien). Der Rückgang ist am stärksten in der moslemischen, vor allem der arabischen Welt. Nur in wenigen Ländern überwiegt die Sympathie für die USA (GB, Can., Israel, NL, Portugal, It, Kuwait, Nigeria, Kosovo). Die Sympathiewerte differenzieren sich je nach Frage: Sie sind am geringsten für den Präsidenten und seine Politik Sie sind stärker für die USA als ganzes und die Amerikaner Sie sind am stärksten für die westlichen Werte (Demokratie, Menschenrechte, Konsum, Musik etc.) Bemerkenswert ist, dass diese Entwicklung eingetreten ist, obgleich amerikanische Medien den Weltmedienmarkt dominieren. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 4
Es wäre jedoch voreilig, auf die Formierung einer einheitlichen Weltöffentlichkeit zu schließen In den USA sind die Sympathiewerte natürlich anders verteilt. Hier überwiegt (noch?) eine mehrheitliche Zustimmung zur Politik Bushs. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Krieges gab es eine deutliche Verschiebung zugunsten einer Zustimmung im Westen, aber nicht unter den Moslems. (Diese Verschiebung korrigierte sich teilweise wieder, nachdem die Nachkriegsschwierigkeiten sichtbar wurden.) In der arabischen Welt gibt es eine deutlich stärkere Abneigung gegen die USA (d.h. nicht nur gegen Bush) als anderswo. Nationale Besonderheiten überlagen die Gemeinsamkeiten. Die Zugangs- und Partizipationsmöglichkeiten zu und an transnationalen Diskursen sind zwischen Reich und Arm sehr unterschiedlich verteilt. Nichtsdestoweniger zeigen die dauernden Rechtfertigungsversuche, dass die politischen Führungen auch in den USA die Wichtigkeit von Öffentlichkeit auch außerhalb der USA anerkennen. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 5
Die Ansätze globaler öffentlicher Meinung stehen im Zusammenhang mit der Globalisierung Die Globalisierung gibt auch entfernten Ereignissen eine Bedeutung für die eigenen Belange. Die Verdichtung der Informationsflüsse bringt zudem zeitnahe (und bebilderte) Nachrichten davon ins Haus. Grenzüberschreitende Kommunikation ist durch die moderne Technik sehr viel leichter geworden. Viele Beobachter sehen die Entwicklung einer globalen Zivilgesellschaft als die unvermeidliche Folge der Globalisierung (John Meyer, David Held, Michael Zürn, Ulrich Beck, Jürgen Habermas). Manche sehen in zivilgesellschaftlichen Netzwerken gar die Ablösung der Staatenwelt durch die Gesellschaftswelt (Czempiel) WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 6
Der Begriff der Zivilgesellschaft ist vielfältig und umstritten Ursprünglich (Locke, Hegel) stand Zivilgesellschaft für die Vielfalt jenseits der staatlichen Einheit. de Tocqueville konzentrierte in seiner Beschreibung Amerikas den Begriff auf die freien Assoziationen der Bürger. Antonio Gramsci sah in der Zivilgesellschaft einerseits die notwendige Ergänzung roher Gewalt in der Stabilisierung hegemonialer Macht der Bourgeoisie und rechnete sie daher dem Staat zu; andererseits glaubte er in ihr die Wurzel von Opposition, Emanzipation und Gegenhegemonie zu erkennen. Heute wird der Begriff der Zivilgesellschaft mehrheitlich auf den Non-Profit-Sektor, also jenseits von Staat und Markt, angewandt. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 7
Nichtregierungsorganisationen sind der Kern der Zivilgesellschaft Unter Nichtregierungsorganisationen werden gleichfalls mehrheitlich solche verstanden, die weder staatliche Macht noch wirtschaftlichen Gewinn anstreben. Sie engagieren sich für öffentliche Güter und häufig für die Belange anderer (z.b. armer Länder, armer Menschen, künftiger Generationen oder der nicht-menschlichen Natur). Sie existieren auf lokaler Ebene (z.b. Bürgerinitiativen), auf nationaler Ebene (z.b. Vertriebenenverbände) transnational/global (z.b. Rotes Kreuz, Greenpeace, Amnesty). Transnationale Aktivitäten entfalten sie als Netzwerke (Informationsaustausch, gegenseitige Hilfe) als Koalitionen (gemeinsame Strategien) als Kampagnen (gemeinsame Mobilisierung). WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 8
NROs sind schwach in harten und stark in weichen Ressourcen der Macht NROs sind Staaten und Konzernen an materiellen Ressourcen im allgemeinen deutlich unterlegen. Ihre Ressourcen bestehen aus Wissen (typisch: Expertenorganisationen) Einsatz ihrer Mitglieder (typisch: Hilfsorganisationen) Mobilisierung öffentlicher Meinung (typisch: Kampagnenorganisationen). NROs wirken häufig als moralische oder Norm-Unternehmer: Sie setzen neue Themen auf die Agenda Sie formulieren diese Themen aus moralischer Perspektive und mit klaren Handlungsimperativen Sie werben für diese Themen Sie überwachen die Durchsetzung neuer Normen in den Staaten. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 9
Die Beziehungen der NROs zu den Staaten sind ambivalent. Da NROs häufig neue Normen, Politiken, Maßnahmen verlangen, stehen sie häufig in Opposition zu konventioneller Politik. Sie bedürfen jedoch zumeist staatlicher (rechtssetzender und durchsetzender) Unterstützung, um ihre Forderungen durchzusetzen. Außerdem sind viele von ihnen auf staatliche finanzielle Ressourcen angewiesen. Es besteht also ein Doppelverhältnis von Autonomie/Opposition und Abhängigkeit. Sie wirken sowohl im Innern von Staaten (mit dem Versuch, staatliche Politik zu ändern, als auch im internationalen Raum (z.b. auf VN-Konferenzen und im Umkreis internationaler Verhandlungen). WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 10
Nichtregierungsorganisationen sind der am schnellsten wachsende Teil internationaler Politik Die Zahl bekannter NROs hat sich im Verlauf von dreißig Jahren vom dreistelligen in den fünfstelligen Bereich bewegt. Sie sind in allen Weltregionen präsent. Sie bewegen sich in allen politischen Feldern. Sie üben Einfluss auf die internationale Agenda aus. Beispiele: Ottawa-Konvention zum Verbot von Anti-Personenminen Verbot blindmachender Laserwaffen Konventionen über Frauen- und Kinderrechte Vereitelung des OECD-Investitionsschutz-Abkommens Kyoto-Protokoll. In harten Konfrontationen mit größeren Staaten können sie sich jedoch zumeist nicht durchsetzen. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 11
Sind NRO s Träger der Demokratisierung der Weltpolitik NROs werden oft als die Repräsentanten der Zivilgesellschaft in der internationalen Politik bezeichnet. Ihr Auftreten und Einfluss wird dann als Demokratisierungsprozess internationaler Beziehungen gedeutete. Mit dieser Deutung gibt es einige Probleme: NROs sind von niemandem gewählt. Legitimation für ihre Tätigkeit beziehen sie aus der Unterstützung ihrer Mitglieder und Spender und der Resonanz in der Öffentlichkeit. Diese Aspekte machen sie jedoch noch nicht repräsentativ. Sie verfolgen zumeist Ein- oder wenig-punkt-interessen. Politik soll jedoch möglichst alle Interessen miteinander abgleichen. NROs aus den reichen Ländern sind deutlich zahlreicher und mit mehr Ressourcen ausgestattet. Die Asymmetrie internationaler Beziehungen verdoppelt sich damit in der Zivilgesellschaft. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 12
Auch in der Zivilgesellschaft existieren Integration und Fragmentierung nebeneinander. Untersuchungen ergaben zwischen NROs aus Nord und Süd sowohl gemeinsame Deutungen und Forderungen als auch klare Unterschiede. NROs aus dem Süden stellen häufiger partikulare (regionale, nationale, kulturalistische) Aspekte in den Vordergrund, solche aus dem Norden universalistische (aus westlicher Perspektive). Entwicklungs- und Verteilungsaspekte kommen in Forderungen südlicher NROs stärker zum Tragen. Kulturelle Unterschiede schlagen sich vor allem in Politikbereichen nieder, wo es um Werte geht. So ist man sich in der internationalen Frauenpolitik zwar über die Ablehnung von Gewalt gegen Frauen einig, jedoch nicht über deren Rollenideal. WS/SS 2003/4 Harald Müller, HSFK 13