Wenn die Sucht ins Alter kommt. - Erkenntnisse und Initiativen zu Unabhängigkeit von Suchtmitteln im Alter -

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Transkript:

STEP: 8. hannöverscher Suchthilfetag am 06.11.2013 Wenn die Sucht ins Alter kommt - Erkenntnisse und Initiativen zu Unabhängigkeit von Suchtmitteln im Alter - Prof. Dr. Gerd Glaeske Universität Bremen, Zentrum für Sozialpolitik (ZeS) Kein Interessenskonflikt im Sinne der Uniform Requirements for Manuscripts submitted to Biomedical Journals der ICMJE

Auswertungen BARMER GEK (n ~ 9 Mio. Versicherte, 2011): Im Durchschnitt bekommen Frauen weniger und kosten-günstigere Arzneimittel als Männer. Ausnahme 15-30jährige Männer DDD pro Vers. Frauen DDD pro Vers. 1.800 Männer Ausgaben pro DDD Frauen Ausgaben pro DDD 2,50 1.600 1.400 2,00 DDD/Vers. 1.200 1.000 800 600 1,50 1,00 Ausgaben/DDD 400 0,50 200 0 0,00

Welche Probleme bringt die Demographie? Die Prävalenz wird in vielen altersassoziierten, v.a. aber altersbedingten chronischen Krankheiten ansteigen Hiervon sind psychische (z.b. Depression, Abhängigkeitserkrankungen), neurodegenerative (v.a. Alzheimer Demenz) oder auch somatische Krankheiten (KHK, Diabetes) besonders betroffen Die Medizin ist auf den Umgang mit Chronischen Krankheiten und Multimorbidität (50% >65 haben >2 Krankheiten) noch schlecht vorbereitet zu wenige Kooperation von Ärzten Neue Versorgungskonzepte multimorbiditätsorientierte Leitlinien, geriatrisch ausgerichteter Forschung, auch in der Arzneimitteltherapie, und einem Professionenmix aus allen Gesundheitsberufen sind daher dringend erforderlich!

Kontakte der Patienten mit Rezepten (n=7.011.478) zu verschiedenen Ärzten / Arztpraxen im Jahre 2011 nach Geschlecht N Ärzte/ Arztpraxen Anzahl Arzneimittel- Patienten* (in %) Männer (in %) Frauen (in %) 7.011.478 (100,0%) 2.705.848 (100,0%) 4.305.630 (100,0%) 1 3.035.891 (43,3%) 1.308.411 (48,4%) 1.727.480 (40,1%) 2 2.078.076 (29,6%) 781.376 (28,9%) 1.296.700 (30,1%) 3 1.069.770 (15,3%) 363.963 (13,5%) 705.807 (16,4%) 4 482.798 (6,9%) 151.905 (5,6%) 330.893 (7,7%) 5 204.290 (2,9%) 61.183 (2,3%) 143.107 (3,3%) > 6 140.653 (2,0%) 39.010 (1,4%) 101.643 (2,4%) * 77% aller Versicherten (9.074.877)

Zu viele Arzneimittel machen krank 35% der Männer >65 und 40% der Frauen >65 bekommen 9 Arzneimittelwirkstoffe und mehr in Dauertherapie 4 5 sind verträglich! Grund u.a.: Behandlung typischerweise durch 4 Arztgruppen: Hausarzt (Allg.Med. / Internist); Orthopäde; Urologe Gynäkologe; Augenarzt Defizite in der Abstimmung Die Folge: Behandlungsbedürftige Neben- und Wechselwirkungen, Stürze, 10,2% Krankenhausaufenthalte, Pflegebedürftigkeit etc. (ca. 600 800 Mio. ) Konsequenz: Abstimmung zwischen den Arztgruppen dringend zugunsten der PatientInnen verbessern, neue Versorgungskonzepte für ältere Menschen schaffen, Leitlinien auf die Anforderungen von älteren Menschen anpassen 6

Arzneimittel Nutzen und Risiken Richtig angewendet gehören Arzneimittel zu den effizientesten und wichtigsten Instrumenten ärztlicher Therapie Arzneimittel werden auf der Basis des Nachweises der Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutischen Qualität nach AMG zugelassen. Es gibt aber zu wenig Studien und Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit von Arzneimitteln bei älteren Menschen Arzneimittelgefahren: Dosierungsfehler, Frequenz, Wechselwirkungen, mangelnde Informationen, zu lange und falsche Anwendung, Missbrauch, Abhängigkeit usw. ) oder auch durch zu viele nebeneinander, neben verschriebenen auch selbstgekaufte.

Arzneimittel warum, wogegen, für wen und wie viele? Rund 20 Packungen pro EinwohnerIn, etwa 1.200 Pillen, allerdings mit starker Verschiebung hin zu den Menschen im höheren Alter Neben dem Nutzen einer Arzneimitteltherapie auch Probleme: 1,5 1,9 Mio. Abhängige, pro Jahr 300.000 stationäre Einweisungen wegen UAW, geschätzt 16-24.000 Todesfälle Etwa 6% aller verordneten und ca. 15% aller verkauften Arzneimittel haben ein eigenes Missbrauchspotenzial (Tranquilizer, Schlafmittel, bestimmte Antidepressiva (SSRI), Mittel mit Codein, Stimulanzien (Appetitzügler), Abführmittel, Schmerzmittel, v.a. solche mit Coffein, best. Nasentropfen, alkoholhaltige Mittel) viele führen auch zur Abhängigkeit! Immer wieder öffentliche Darstellung der Vorzüge von Arzneimitteln für Gesunde Propaganda für Doping im Alltag

Die Abhängigkeiten in D im Überblick (DHS 2013) Statistiken geben folgende Auskunft: Tabak / Nikotin ca. 5 6 Mio Alkohol ca. 1,3 Mio. Illegale Drogen (v.a. Cannabis) ca. 220 Tsd. Medikamente (v.a. Hypnotika, Tranquilizer, Opioide) ca. 1,5 1,9 Mio. Die Medikamentenabhängigkeit wird am wenigsten in der Öffentlichkeit diskutiert und problematisiert warum? - Experten (ÄrztInnen, ApothekerInnen) sind in den meisten Fällen daran beteiligt - Medikamente haben ein positives und sauberes Image - Wir alle sind an die Einnahme von Medikamenten gewöhnt (verordnet oder selbstgekauft)

Wer ist von der Arzneimittelabhängigkeit betroffen? Zweidrittel der Medikamentenabhängigen sind im Alter über 65 Jahren Etwa 14% der älteren Menschen leiden darunter, 2/3 davon sind Frauen im höheren Lebensalter insgesamt ca. 1 Million Die Anzahl der suchtkranken Senioren dürfte sich in den nächsten 20 30 Jahren verdoppeln, wenn kein Umdenken bei den Ärztinnen und Ärzten stattfindet. Die Abhängigkeit kommt zumeist schleichend, die Mittel werden verordnet, um auch weiter trotz Belastungen unterschiedlicher Art funktionieren zu können. Mother s Little Helpers ein Song der Rolling Stones aus dem Jahre 1966

Arzneimittelabhängigkeit nur eine Nebenwirkung? Benzodiazepine und ähnlich wirkende Mittel (Z-Drugs) sind nach wie vor das Hauptproblem bei Arzneimittelmissbrauch und abhängigkeit im Alter Historisch: Benzodiazepine 1960, bereits ab 1961 Hinweise auf körperl. Entzugsphänomene (Hollister et al., 1964 Essig) Seit 1973 in der PDR Abhängigkeitsrisiko als Warnhinweis, in D 1984 erstmals in der ROTEN LISTE als Stoffcharakteristik Begrenzung der Anwendungsdauer auf 8 14 Tage, ansonsten Verordnungen zur Entzugsvermeidung bei lowdose-dependency.bei fortgesetzter Einnahme Gefahr der Abhängigkeit (Sucht)

Arzneimittelabhängigkeit nur eine Nebenwirkung? Benzodiazepine sind nach wie vor in der Therapie Mittel der Wahl: bei Angst- und Panikattacken, prä-operativ als Muskelrelaxans, als krampflösendes Mittel, auch bei Fieberkrämpfen bei Kindern, auch als Hypnotika Franco Basaglia (1973): Richtig eingesetzt sind Psychopharmaka Mittel der Befreiung, falsch eingesetzt Mittel der Unterdrückung Bestimmungsgemäßer Gebrauch muss im Vordergrund stehen (Zulassungshinweise beachten, z.b. empfohlenen Anwendung 8 14 Tage) Bei der Verordnung bereits möglichen Missbrauch verhindern und über das Abhängigkeitsrisiko aufklären!

Frauen und Männer sollten also darüber informiert werden, was sie schlucken!

1997

Arzneimittelabhängigkeit es gibt immer eine Vorgeschichte! Über- und Fehlversorgung v.a. bei Frauen: Hypnotika, Beruhigungsmittel und Tranquilizer Assoziation schwach ( The Feminization of Tranquilizers ) und unausgeglichen (hystería) psychosomatische Dysregulation Die Tablette ist für mich wie ein Freund. (Interview mit einer 63jährigen Lehrerin) zur Entspannung nach der Schule Dauerverordnung wegen Entzugsvermeidungsverhalten, allerdings mit falschen Hypnotika, langwirksame und zu hoch dosiert (Staurodorm, Dalmadorm, Radedorm, Rohypnol) Entzüge problematisch ambulant: So viele Monate wie Einnahmejahre die Dosierung langsam verringern ( ausschleichen ), ansonsten stationäre Entzüge mit allen Belastungen (..schlimmer als von Heroin )

PRISCUS-Liste (2010) Liste mit 83 Arzneistoffen, die für ältere Menschen potenziell ungeeignet sind Entstanden aus dem BMBFgeförderten PRISCUS-Teilprojekt 3: Risiken und Nebenwirkungen: Im Alter immer häufiger Quelle: Holt, S; Schmiedl, S; Thürmann, PA: Dtsch Ärzteblatt 2010; 107(31-32): 543-51

PRISCUS-Liste: Arzneistoffklassen mit potenziell inadäquaten Wirkstoffen für ältere Menschen Analgetika, Antiphlogistika Antiarrhythmika Antibiotika Anticholinergika Thrombozytenaggregationshemmer Antidepressiva Antiemetika Antihypertensiva, kardiovaskuläre Arzneimittel Neuroleptika Ergotamin und Derivate Laxanzien Muskelrelaxanzien Sedativa, Hypnotika Antidementiva, Vasodilatatoren, durchblutungsfördernde Mittel Antiepileptika

Gefahren der Anwendung von potenziell für ältere Menschen unangebrachte Arzneimittel (www.priscus.net) Potentially inappropriate medications (PIMs) Beers- Liste in den USA und GB seit den 80er Jahren, in D endlich die PRISCUS-Liste 2010 (83 Wirkstoffe) Unangebracht bedeutet dabei, dass die Auswahl des Arzneistoffs generell oder aber die Dosierung bzw. die Dauer der Therapie nicht empfehlenswert ist, da die potenziellen Risiken einen potenziellen Nutzen überwiegen und es sichere Alternativen gibt oder die Therapie als nicht ausreichend effektiv gilt. v.a. Mittel mit Wirkung auf das ZNS wie z.b. Benzodiazepine: Erhöhung des Sturzrisikos mit der Folge von z.t. schlechtheilenden Brüchen

Die 15 meistverkauften Tranquilizer nach Packg. 2011 Rang Präparat Wirkstoff Absatz 2011 in Tsd. Missbrauchs-/ Abhängigkeitspotenzial 1 Diazepam ratiopharm Diazepam 1.317,8 +++ 2 Tavor Lorazepam 1.249,9 +++ 3 Lorazepam ratiopharm Lorazepam 856,3 +++ 4 Oxazepam ratiopharm Oxazepam 645,9 +++ 5 Bromazanil Hexal Bromazepam 603,6 +++ 6 Adumbran Oxazepam 393,2 +++ 7 Lorazepam neuraxpharm Lorazepam 355,0 +++ 8 Bromazep CT Bromazepam 320,1 +++ 9 Oxazepam Al Oxazepam 260,0 +++ 10 Lorazepam Dura Lorazepam 256,5 +++ 11 Tranxilium Dikaliumclorazepat 178,6 +++ 12 Lexotanil 6 Bromazepam 175,9 +++ 13 Diazepam Stada Diazepam 168,1 +++ 14 Normoc Bromazepam 159,6 +++ (nach IMS Health 2012) 15 Faustan Diazepam 155,9 +++

Die 20 meistverkauften Schlafmittel nach Packg. 2011 (Gesamt ca. 28 Mio.Packg) Rang Präparat Wirkstoff Absatz 2011 in Tsd. Missbrauchs-/ Abhängigkeitspotenzial 1 Hoggar N (OTC) Doxylamin 2.097,5 Eher nicht*) 2 Zopiclon CT Zopiclon 1.172,7 ++ (bis +++) 3 Vivinox Sleep (OTC) Diphenhydramin 1.157,5 Eher nicht*) 4 Zolpidem ratiopharm Zolpidem 1.142,9 ++ (bis +++) 5 Zopiclon AL Zopiclon 810,8 ++ (bis +++) 6 Zolpidem AL Zolpidem 752,3 ++ (bis +++) 7 Zopiclon ratiopharm Zopiclon 677,2 ++ (bis +++) 8 Zopiclon AbZ Zopiclon 668,9 ++ (bis +++) 9 Schlafsterne (OTC) Doxylamin 663,4 Eher nicht*) 10 Zolpidem 1A Pharma Zolpidem 561,0 ++ (bis +++) 11 Lendormin Brotizolam 456,1 +++ 12 Betadorm D (OTC) Diphenhydramin 451,8 Eher nicht*) 13 Zolpidem Stada Zolpidem 436,2 ++ (bis +++) 14 Stilnox Zolpidem 420,1 ++ (bis +++) 15 Zolpidem Neuraxpharm Zolpidem 393,9 ++ (bis +++) 16 Zopiclon Stada Zopiclon 385,4 ++ (bis +++) 17 Flunitrazepam ratiopharm Flunitrazepam 275,8 +++ 18 Zopiclon Hexal Zopiclon 274,7 ++ (bis +++) (rp=rezeptpflichtig, nach IMS Health 2012) *) Diese eher-nicht-einschätzung bezieht sich auf den bestimmungsgemäßen Gebrauch. Bei missbräuchlich hoch dosiertem Dauerkonsum von Diphenhydramin und Doxylamin (z.b. >200 mg) kann es aber zu Toleranzentwicklung und Entzugssyndromen kommen. 19 Zopiclodura Zopiclon 263,6 ++ (bis +++) 20 Rohypnol Flunitrazepam 242,2 +++

Anteil ältere Menschen mit VO von Hypnotika nach Alter und Geschlecht (Glaeske et al., 2010)

Verordnungen von 109.109 Versicherte ab 65 Jahren: 28.60 erhielten PRISCUS-AM-Verordnungen (=26,2%, F:M = 27:20; Pflegebedürftige 35%) Höchste Prävalenz: Psychopharmaka

Arzneimittelversorgung (DDD p.c.) für Frauen und Männer Unterschiede (%) nach Indikationsgruppen (Quelle AVR) Mehrverbrauch an DDD je Versicherter gegenüber dem anderen Geschlecht 1995 (gesamte Bundesrepublik) Schilddrüsentherapeutika Migränemittel Venentherapeutika Mineralstoffpräparate Antihypotonika Hypnotika/Sedativa Psychopharmaka Diuretika Kardiaka Ophthalmika Antihypertonika Durchblutungsförd. Mittel Analgetika/Antirheumatika Vitamine Antidiabetika Dermatika Beta-Rezeptorenbl./Ca-Antag./ACE-Hemmer Magen-Darm-Mittel Koronarmittel Antitussiva/Expektorantia usw. Antibiotika/Chemotherapeutika Antimykotika Karies- u. Parodontosemittel Rhinologika Lipidsenker Broncholytika/Antiasthmatika Gichtmittel Urologika 27 25 23 21 19 17 15 13 11 9 7 5 3 1 Männer Frauen 0 50 100 150 200 250 Mehrverbrauch in %

Vor allem ältere Menschen, vor allem Frauen Probleme Schlafstörungen, Entwertung im Alter, Einsamkeit, Unzufriedenheit, Ängste und depressive Verstimmungen aber: Pharmawatte ist keine Bewältigungsstrategie Frauen im Alter um die 50: Empty-Nest-Syndrom, Kinder aus dem Haus, Zweifel an der eigenen Wertigkeit, psychische Belastungen Frauen äußern viel stärker als Männer solche Gefühle Ärzten gegenüber, die Reaktion ist oft und zu schnell die Verordnung von Benzodiazepinen oder Antidepressiva Sie können Sie zwar nicht befreien, sie können ihr aber helfen, sich weniger ängstlich zu fühlen. Nicht Scheinlösung für Probleme, sondern Lösung für Scheinprobleme.

Vor allem ältere Menschen, vor allem Frauen Ältere Menschen, vor allem Frauen, werden oft zu DauerkonsumentInnen von Benzodiazepinen gemacht verordneter Missbrauch führt dann in die Abhängigkeit (nach ca. 3 Monate etwa bei 80%) Einnahme oft über Jahre und Jahrzehnte, nur selten Steigerung der Dosierung stille, introvertierte Sucht, männliche Bewältigung oft Alkohol laut, extrovertiert! Benzodaizepine nie abrupt absetzen, sondern langsam Ausschleichen Ein Entzug ist älteren Menschen oftmals nicht mehr zuzumuten, daher kontrollierte Begleitung durch einen Arzt / eine Ärztin mit einem adäquaten Mittel als Option 4K-Regel: Kleinste Packung, kurze Dauer, klare Indikation, korrekte Dosierung

Regionale Unterschiede: Z-Drugs, zur Hälfte auf Privatrezept! Methodik: A.NET Apothekenpanel von INSIGHT Health für 2008 enthält eine Stichprobe von 2.500 Apotheken deutschlandweit

Regionale Unterschiede: Z-Drugs Anteil Packungen Privatrezepte bei Zolpidem 2008 (grau), Bundesdurchschnitt: 50%

Evidenz und Risikobewertung im Hinblick auf Sturzereignisse Burkhardt H et al, Z Gerontol Geriat 2007

Omas kleine schlimme Helfer (H. Grassegger, SZ Magazin 42/2012)

Verordnungsprävalenz von Benzodiazepinen und Psychopharmaka (AD, Neurol.) bei Versicherten der BARMER GEK mit Demenzerkrankung im Inzidenzjahr (2010/2011)

Verordnungsprävalenz von Benzodiazepinen bei Versicherten der BARMER GEK mit Demenzerkrankung im Inzidenzjahr stratifiziert nach Alter und Geschlecht (2010/2011) 18% 16% 14% 12% 10% 8% 6% 4% 2% Männer Frauen 0% 65-74 75-84 85 + Alter in Jahren

Auch Risiken in der Selbstmedikation gerade für ältere Menschen Abschwellende Nasentropfen oder sprays nur kurzfristig (5-7 Tage), sonst droht Abhängigkeit (geschätzt 100.000 120.000 Menschen in D) Alkoholhaltige Stärkungs- oder Erkältungssäfte (Klosterfrau Melissengeist, Doppelherz, Wick Medinait) Wechselwirkungen mit allen zentral wirksamen Mitteln Schmerzmittel mit Koffein Gefahr der Gewöhnung, beispielsweise Thomapyrin, Neuralgin usw. Abführmittel führen häufig zur Gewöhnung des Darms der wird zum funktionslosen Rohr und lässt sich nur noch durch den Medikamentenreiz bewegen Daher: Auch nicht-rezeptpflichte Mittel können erhebliche Probleme verursachen

Prävention als Strategie Gesundheit ist ohne Bildung und Information nicht machbar! Gesellschaftliche Entwertung älterer Menschen vermeiden, Erfahrungen älterer Menschen nutzen, im privaten wie im beruflichen Alltag ( Mehr-Generationen-Kooperationen ) Schon früh anfangen, sich auf die Zeit im Alter vorzubereiten Wichtig sind Lebensumstände Wohnen, Ernährung, Arbeitsumgebung, Lebensstil, Alltagsbelastungen, Bewältigungsstrategien. Diskriminierung, Entwertung, Einsamkeit und Altersarmut wirken sich allerdings verheerend für viele ältere Menschen aus und Abhängigkeit macht zusätzlich einsam! Kommunikation, soziale Kompetenz und Lust am Leben und der Liebe zu anderen Menschen sollten erhalten bleiben

Prävention als Strategie Verordnungen von Psychopharmaka und Schlafmitteln für ältere Menschen, vor allem für Frauen, sind nur bedingt Ausdruck von Krankheit, oft eher Antworten auf Leiden durch soziale Isolation und Entwertung Die Medizin soll älteren Menschen nutzen zu viele Psychopharmaka und Schlafmittel bringen ältere Menschen in Gefahren (Stürze mit Knochenbrüchen) und vermindern ihre kognitiven und kommunikativen Potenziale bei Demenz kontraproduktiv! Soziale Iatrogenesis verschärft die Abhängigkeitsprobleme und wird zu einer ernsten Gefahr für die Gesundheit insbesondere von Frauen und älteren Menschen. Medikamentenabhängigkeit wird zum Signal für diese Fehlentwicklung chemische Gewalt und Ruhigstellung bei älteren Menschen? Wir brauchen keine pharmakologischen Lösungen gegen die Einsamkeit im Alter, sondern soziale Wärme und Zuwendung

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