Klaus Menne Erziehungsberatung im Kontext von Dienstleistung und Wächteramt Kommentar zum Impulsreferat für das Forum Zwischen Dienstleistungsorientierung und staatlichem Wächteramt im Rahmen der Fachtagung 20 Jahre Kinder- und Jugendhilfe im Spiegel ihrer Statistik der Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik AKJ Stat am 6. und 7. Mai 2010. Erziehungsberatung im Kontext des staatlichen Wächteramtes zu sehen kann überraschen. Gehört es doch zentral zum Selbstverständnis von Erziehungsberatung, dass sie von Ratsuchenden, von Eltern aber auch von Minderjährigen, aus eigener Entscheidung in Anspruch genommen wird. Die Freiwilligkeit der Inanspruchnahme ist deshalb auch als ein Essential der Erziehungsberatung bezeichnet worden. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, Erziehungsberatung gemeinsam mit den anderen Hilfen zur Erziehung in den Blick zu nehmen und ihre Position im Kanon der erzieherischen Hilfen auf der Grundlage der empirischen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik zu bestimmen. In dieser Perspektive werde ich vor allem die drei Abbildungen kommentieren, die auch Erziehungsberatung darstellen. Dabei werde ich zunächst Inhaltliches anmerken, aber auch methodische Bemerkungen machen. I. Abb. 2: Entwicklung der Hilfen zur Erziehung nach Leistungssegmenten * Die Abbildung verdeutlicht eine steigende Inanspruchnahme der ambulanten Hilfen zur Erziehung seit Beginn der 1990er Jahre bei einer etwa gleich bleibenden Quote von Fremdunterbringungen. Die steigende Inanspruchnahme kennzeichnet Erziehungsberatung ebenso wie die anderen ambulanten Hilfen zur Erziehung. Dennoch ist die Situation der Erziehungsberatung von der der anderen ambulanten Hilfen zu unterscheiden: Denn Erziehungsberatung wird in der übergroßen Mehrzahl der Fälle nicht förmlich durch das Jugendamt gewährt, sondern durch die Leistungsberechtigten direkt in Anspruch genommen (vgl. 36a Abs. 2 SGB VIII). Erziehungsberatung kann insoweit als ein Seismograph für die Situation der Familien in der Gesellschaft gesehen werden. Der Anstieg ihrer Inanspruchnahme, der eine Zunahme an familiären Belastungen indiziert, lässt sich seit ihrer Erfassung in der Bundesstatistik verfolgen. Ein zweiter Unterschied erscheint mir noch gravierender: Während die anderen ambulanten Hilfen seit 1991 überhaupt erst aufgebaut und personell ausgestattet werden mussten, trifft der gestiegene Beratungsbedarf auf eine praktisch unveränderte Personalsituation in der Erziehungsberatung. Nach den Erhebungen der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung bestanden in den Jahren 1995, 1998, 2003 und 2007 jeweils ca. 3.650 Planstellen für Beratungsfachkräfte (Gerth, Menne: Expertise für den 13. Kinder- und Jugendbericht). Das entspricht 2,3 Planstellen je 10.000 Minderjährigen. * Es wird auf die entsprechende Abbildung im Impulsreferat zum Forum Zwischen Dienstleistungsorientierung und staatlichem Wächteramt Bezug genommen. 1
Die Abbildung Inanspruchnahme und Beratungskapazität macht die Schere deutlich, die sich hier auftut. Praktisch bedeutet dies, dass die Leistungsausweitung bezogen auf die Zahl aller Beratenen mit einer Leistungseinschränkung im Einzelfall einhergeht. Denn die Zahl der durchschnittlichen Beratungskontakte muss angesichts der steigenden Inanspruchnahme deutlich reduziert werden. Inanspruchnahme und Beratungskapazität 25,0 20,0 15,0 10,0 Inanspruchnahme je 1.000 Minderjährige Planstellen je 10.000 Minderjährige 5,0 0,0 II. Abb. 1: Inanspruchnahme von Hilfen zur Erziehung sowie der Maßnahmen zur Inobhutnahme * Die Abbildung zeigt mit standardisierten Werten die vergleichsweise geringe Quote von Inobhutnahmen gegenüber den jeweils um ein Mehrfaches höheren Quoten der drei Leistungsgruppen. Grundsätzlich wird die Relation von Hilfen und Inobhutnahmen damit zwar anschaulich gemacht. Doch dürfen die konkreten Zahlen nicht zueinander in Beziehung gesetzt werden. Denn die Daten zur Inobhutnahme und zu den Leistungen unterscheiden sich in zweifacher Hinsicht: 1. Inobhutnahme ist begrenzt auf Minderjährige. Es können daher auch nur Leistungen für Minderjährige verglichen werden. Die Einbeziehung der Leistungen für junge Volljährige verzerrt das Bild. 2. Inobhutnahme wird statistisch nach ihrer Beendigung erfasst. Es sind daher auch nur die in demselben Jahr beendeten Leistungen zum Vergleich heranzuziehen. Die in der Darstellung berücksichtigten am Jahresende fortdauernden Hilfen verzerren ebenfalls das Bild. * Es wird auf die entsprechende Abbildung im Impulsreferat zum Forum Zwischen Dienstleistungsorientierung und staatlichem Wächteramt Bezug genommen. 2
Am Beispiel: Bei der Erziehungsberatung sind 133.000 am Jahresende fortdauernde Hilfen berücksichtigt. Das sind 30 Prozent der Beratungen. Entsprechend niedriger würde die dargestellte Quote ausfallen. Bei der Heimerziehung dauern 59.000 Hilfen am Jahresende an. Das sind zwei Drittel der berücksichtigten Hilfen. Entsprechend verändert sich auch hier der dargestellte Vergleich. Zudem ist der Anteil der jungen Volljährigen bei den einzelnen Hilfen sehr unterschiedlich. Das macht die Abbildung Junge Volljährige in den einzelnen Hilfearten deutlich. Junge Volljährige in den einzelnen Hilfearten 30,0% 25,0% 20,0% 15,0% 10,0% 5,0% 0,0% Anteil der jungen Volljährigen Nicht nur an dieser Stelle sondern allgemein wäre zu wünschen, dass die Arbeitsstelle die Leistungstatbestände des SGB VIII getrennt auswertet: die Hilfen zur Erziehung, auf die Personensorgeberechtigten einen Anspruch haben, und die um des Minderjährigen willen geleistet werden, und die Hilfen für junge Volljährige, die von den volljährigen jungen Menschen selbst in Anspruch genommen werden können. Vor allem bei den Standardisierungen, bei den Quoten je 10.000, erleichtert eine Begrenzung auf die Minderjährigen die Inanspruchnahme von Hilfen zur Grundgesamtheit in der Bevölkerung in Beziehung zu setzen. Für den beabsichtigten Vergleich von Hilfen zur Erziehung und Inobhutnahmen erscheint es mir (aufgrund der kurzen zeitlichen Dauer der Inobhutnahmen) gerechtfertigt, die beendeten Inobhutnahmen mit den im betreffenden Jahr neu begonnenen Hilfen zur Erziehung, also der Hilfen für Minderjährige, in Bezug zu setzen. (Denn die begonnenen Hilfen entsprechen in ihrer Größenordnung den im selben Jahr beendeten Hilfen.) Durch die Bezugnahme auf die begonnenen Hilfen würde deutlich, welche Hilfesituationen bei Minderjährigen in einem Jahr entstanden sind und welche Maßnahmen einschließlich der Inobhutnahme durch die Jugendhilfe für sie eingeleitet worden sind. 3
III. Abb. 6: Hilfen zur Erziehung aufgrund einer Gefährdung des Kindeswohls nach Hilfearten * Die Hilfearten stehen, das macht die Abbildung deutlich, in einem sehr unterschiedlichen Verhältnis zu dem Hilfegrund Gefährdung des Kindeswohls. Jeder Dritte in Vollzeitpflege und jeder Vierte im Heim untergebrachte junge Mensch erhält diese Hilfe wegen der Gefährdung des Kindeswohls. Bei den meisten anderen Hilfearten betrifft dieser Hilfegrund deutlich weniger als zehn Prozent der jungen Menschen. Vollzeitpflege und Heimerziehung dagegen müssen bei der Hilfeerbringung den hohen Anteil gefährdeter Kinder und Jugendlicher in Rechnung stellen. Dies lässt jedoch nicht den Umkehrschluss zu, dass Gefährdung des Kindeswohls in den anderen Hilfearten eine zu vernachlässigende Größe darstellt (auch wenn die Prozentwerte dies nahe zulegen scheinen). Von allen 37.963 im Jahr 2008 wegen Gefährdung des Kindeswohls neu begonnenen Hilfen entfielen 14.751 auf Erziehungsberatung, 9.320 auf andere ambulante Hilfen zur Erziehung und 12.640 auf stationäre Unterbringungen. Erziehungsberatung hat damit 40 Prozent der Hilfen, die aus Anlass einer Gefährdung des Kindeswohls neu begonnen wurden, erbracht. Jede vierte Hilfe war eine ambulante Hilfe zur Erziehung und jede dritte eine stationäre Unterbringung. Dies veranschaulicht die Abbildung Hilfegrund Kindeswohlgefährdung. Hilfegrund Kindeswohlgefährdung Erziehungsberatung ambulante HzE Stationäre Unterbringung Wenn es also darum geht, Kindern und Jugendlichen, deren Wohl gefährdet ist, eine geeignete Hilfe zu bieten, stehen nicht nur die Fremdplatzierungen in der Verantwortung wie es nach der von der Arbeitsstelle vorgestellten Abbildung erscheinen mag. Erziehungsberatung und ambulante Hilfen bringen für diese Kinder in vergleichbarem Umfang ihre Unterstützung ein. * Es wird auf die entsprechende Abbildung im Impulsreferat zum Forum Zwischen Dienstleistungsorientierung und staatlichem Wächteramt Bezug genommen. 4
IV. Der Blick auf die jeweiligen Hilfearten reicht zur Analyse nicht aus. Es ist vielmehr notwendig, sich jeweils die Grundgesamtheiten vor Augen zu führen, über die gesprochen wird. Hier sind es die Kinder und Jugendlichen, bei denen eine Gefährdung des Kindeswohls Grund zur Hilfe ist. An anderer Stelle sind es die jungen Menschen, deren Familien von Armut betroffen sind. Die Arbeitsstelle hat den Anteil der jungen Menschen in den Hilfearten berechnet, die in Familien mit Bezug von sozialen Transferleistungen leben (KomDat 1/2009), in diesem Sinne in Armut leben. Dabei wurde festgestellt, dass dies für knapp 60 Prozent der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung ohne Erziehungsberatung zutrifft. In der Erziehungsberatung waren es dagegen (im Jahr 2007) nur 17 Prozent. Soweit stimmen die Zahlen. Nur kann daraus nicht der Schluss gezogen werden (Zitat): Dies verweist auf einen mit Blick auf die Erziehungsberatung wiederholt diskutierten Mittelschichtscharakter (KomDat 1/2009, S. 10). In der Presse wird aus solchen Behauptungen gar die Aussage: Klassische Erziehungsberatung, bei der Eltern von sich aus in eine Beratungsstelle kommen, ist nichts für ärmere Familien (Berth, Süddeutsche Zeitung vom 23.3.2009). Und das ist dann schlicht Unsinn. Betrachtet man nämlich alle jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung und in der Eingliederungshilfe (die hier einbezogen worden war), dann lebten von ihnen im Jahr 2008 147.000 in wirtschaftlicher Armut. Davon erhielten 56.000 oder 38 Prozent Erziehungsberatung. SPFH wurde für 17 % geleistet und 13 % waren in einem Heim untergebracht. Erziehungsberatung hat zwar nicht ihren Schwerpunkt in der Arbeit mit armen Familien, aber sie hat dennoch allein im Jahr 2008 mehr junge Menschen aus armen Familien erreicht als insgesamt Fremdplatzierungen (d.h. Vollzeitpflege, Heimerziehung und Intensive Sozialpädagogische Einzelbetreuung) neu begonnen wurden (49.732). Angesichts der grundsätzlich freiwilligen Inanspruchnahme von Erziehungsberatung belegen 56.000 junge Menschen aus armen Familien, dass die Betroffenen diese Leistung sehr wohl als eine für sich geeignete Hilfe wahrnehmen. Freilich ist damit noch nicht der vermeintliche Mittelschichtscharakter der Erziehungsberatung geklärt. Dazu ist ein Vergleich mit der Gruppe derjenigen jungen Menschen in der Bevölkerung erforderlich, deren Familien die in der Jugendhilfestatistik erfassten sozialen Transferleistungen erhalten. Das Statistische Bundesamt hat auf Bitte der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung diesen Wert errechnet. Im Durchschnitt der Bevölkerung lebten 2008 14,1 Prozent der Unter 21-Jährigen nach den Kriterien der Jugendhilfesstatistik in Armut. In der Erziehungsberatung betrug ihr Anteil 18,3 Prozent. Arme Familien sind in der Erziehungsberatung also nicht unterrepräsentiert, sondern um 30 Prozent überpräsentiert. Wenn sie auch die Hilfe nicht in dem Maße dominieren wie bei der Vollzeitpflege oder der SPFH. Man muss schon vorsichtig mit Daten umgehen bevor man aus ihnen Schlüsse zieht. Ein stärker soziologischer Blick wäre an dieser Stelle sehr zu wünschen. V. Zurück zur Kindeswohlgefährdung: Sie ist nicht nur Hilfegrund, sondern gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung sind nach 8a SGB VIII Anlass, eine Risikoabschätzung durchzuführen. Bedauerlicherweise erfasst die Bundesstatistik entsprechende Daten nicht. Deshalb will ich an dieser Stelle ergänzen, dass die Bundeskonferenz für Erziehungsberatung mit Stand zum Ende des Jahres 2007 erhoben hat wie der Schutzauftrag örtlich umgesetzt wird. Danach hatten 1.600 Beraterinnen und Berater als im Kinderschutz erfahrene Fachkraft den Auftrag mehr als 5.500 Einrichtungen oder Dienste bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos zu unterstützen. Im Jahr der Erhebung waren bereits für gut 1.200 5
Kinder und Jugendliche Risikoabschätzungen unter Beteiligung der Erziehungsberatung vorgenommen worden. Auch wenn Erziehungsberatung in erster Linie eine niederschwellige, durch direkte Inanspruchnahme charakterisierte soziale Dienstleistung für die Familien und ihre Kinder darstellt, nimmt sie doch auch im Kontext von Kindeswohlgefährdung in relevantem Umfang Aufgaben wahr: sei dies durch Beratung der Betroffenen oder durch Beteiligung an der Klärung der Gefährdungssituation. 6