Praktische Auswirkungen der Änderung der unterhaltsrechtlichen Kindergeldanrechnung gem. 1612b Abs. 5 BGB zusammengestellt vom Ausschuss Familienrecht der Bundesrechtsanwaltskammer Mitglieder: unin RAuN RA unin Ingeborg Rakete-Dombek, Berlin, Vorsitzende Ulrike Börger, Bonn Sven Fröhlich, Offenbach, Berichterstatter Brigitte Hörster, Augsburg Dr. Hans-Georg Mähler, München Karin Meyer-Götz, Dresden Frauke Reeckmann-Fiedler, Berlin Julia von Seltmann, BRAK, Berlin Verteiler: Bundesministerium der Justiz Landesjustizminister/Justizsenatoren der Länder Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages Arbeitskreise Recht der Bundestagsfraktionen Rechtsanwaltskammern Bundesnotarkammer Bundessteuerberaterkammer Deutscher Notarverein Deutscher Anwaltverein e. V. Deutscher Richterbund Deutscher Juristinnenbund Deutscher Steuerberaterverband Bundesverband der Freien Berufe Deutscher Familiengerichtstag e. V. Wissenschaftliche Vereinigung für Familienrecht Redaktionen der NJW, FamRZ, FuR, FÜR, ZFE November 2002
- 2 - Die Rechtsanwaltskammern haben die jeweils in ihrem Bezirk im Familienrecht tätigen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte gebeten, ihre Erfahrungen zu den praktischen Auswirkungen der Änderung der unterhaltsrechtlichen Kindergeldanrechnung gem. 1612b Abs. 5 BGB zusammenzufassen und der Bundesrechtsanwaltskammer zu übermitteln. Es sind ca. 50 Stellungnahmen eingegangen. Unter Berücksichtigung des Vorlagebeschlusses des Amtsgerichts Kamenz vom 30. Januar 2001 (FamRZ 2001, 1090-1096) und der noch ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts werden die Stellungnahmen wie folgt wiedergegeben: Diejenigen, die die Änderung überwiegend positiv beurteilten, führten insbesondere an: - Insbesondere in den ersten sechs Gehaltsstufen verändert sich der Unterhaltszahlbetrag kaum, so dass durch die Regelung zumindest in diesen Gehaltsstufen erhebliche streitige Auseinandersetzungen darüber vermieden werden können, ob ein Unterhaltsschuldner nun in die eine oder in die nächsthöhere Gehaltsstufe der Düsseldorfer Tabelle einzugruppieren ist. Die Prozesshäufigkeit und die Prozessauseinandersetzung über die Höhe des Unterhalts in diesen Gehaltsstufen hat abgenommen. - Eine Entschärfung der Unterhaltsstreitigkeiten in den ersten sechs Einkommensgruppen ist eingetreten. - Da die Zahlungspflicht in den Gruppen 2 bis 6 im Ergebnis für alle Gruppen gleich hoch ist bzw. zu einem fast identischen Betrag führt, bleibt hier die schwierige Ermittlung der Einkünfte zur Differenzierung innerhalb dieser Gruppen erspart. - Allgemein wird akzeptiert, dass die Kindergeldanrechnung in den ersten Gehaltsstufen nicht oder nur eingeschränkt stattfindet. Auch von den Parteien wird diese Regelung durchaus als gerecht angesehen und angenommen. - Die Anwendung des Gesetzes bereitet prinzipiell keine Schwierigkeiten und führt insbesondere auch zu ausgewogenen Ergebnissen. - Erleichterung der praktischen Handhabung und der rechnerischen Ermittlung des Unterhaltsbetrages, da ein kurzer Blick in die Tabelle zeige, ob und wie viel vom jeweiligen Unterhalt abzuziehen ist (Kindergeldabzugstabelle als
- 3 - Anlage der unterhaltsrechtlichen Leitlinien wird als erhebliche Arbeitserleichterung angesehen). - Da bis zur Deckung des Mindestbedarfs des Kindes das Kindergeld nur noch anteilig in Abzug gebracht wird, werden durch die neue Regelung die Kindesinteressen deutlich besser vertreten. Somit dient die Änderung der Absicherung des Bedarfs minderjähriger Kinder. Eine Stärkung des Kindesunterhaltsanspruches im Bereich des Existenzminimums ist erfolgt. - Die Gesetzeskonsequenzen werden allseits akzeptiert, sowohl vom Unterhaltsgläubiger als auch vom schuldner. - Die volle Anrechnung des hälftigen Kindergeldes erst ab der Einkommensstufe 6 zeigt eine Verbesserung der finanziellen Stellung des Kindes bzw. des Naturalunterhaltsverpflichteten. - In der praktischen Anwendung im laufenden Unterhaltsprozess führt die Gesetzesänderung zu keinerlei Problemen. - Die Gesetzesänderung führt zur vereinfachten Handhabung der juristischen Arbeit. - Durch die Neuregelung findet tendenziell eine Entlastung der Sozialämter statt. Kritisch wurden Auswirkungen in verschiedener Hinsicht benannt: - Trotz der Mindestbedarfsdeckung, durch die Kindergeld auch nur anteilig in Abzug gebracht werden kann, wenn der Mindestbedarf ansonsten nicht gedeckt ist, wurde von den Abänderungsmöglichkeiten kaum Gebrauch gemacht, da vielfach die Meinung vorherrscht, es lohne die Mühe nicht. - Wenn bereits jahrelang zahlende Unterhaltsverpflichtete mit der Änderung konfrontiert werden, ist nur schwer zu erläutern, warum sie nun derart drastische Änderungen in absoluten Zahlbeträgen hinnehmen müssen. Die sozial ungerechte Gleichstufung in den ersten 6 Einkommensstufen ist dem Unterhaltsverpflichteten schwierig zu erläutern. Die Gerechtigkeit dieser Verteilungslösung kann bei den Unterhaltsverpflichteten in der Regel nicht vermittelt werden.
- 4 - - Der Gesetzgeber hat durch unklare Formulierung und kompliziert nachzuvollziehenden Wortlaut der neuen Vorschrift zur Verunsicherung beigetragen; diese konnte allerdings abgemildert werden durch die Kindergeldabzugstabellen. - Für den Betroffenen ist es in verschiedenen Phasen der Verfahren, insbesondere im vereinfachten Unterhaltsverfahren, sehr undurchsichtig geworden. Gerade hier entsteht, wenn auch noch Prozesskostenhilfe gewährt werden kann, ein enormer Formularwust. - Problematisch ist die Antragstellung, insbesondere bei der Dynamisierung. Die Neuregelung lässt eher zu statischen Festsetzungen neigen. - Der Gesetzgeber hat die öffentliche Bekanntmachung des Gesetzes bzw. Vorankündigungen verpasst, keine Möglichkeit einer breiten Diskussion vor allem auch innerhalb und mit der Anwaltschaft gelassen und aufgrund der Formulierungen dafür gesorgt, dass die praktische Anwendung zu erheblichem Unverständnis bei Gericht und bei Rechtsanwälten führte. Darauf und auf unzureichende Publikation des Gesetzes begründen sich eine Vielzahl von Fehlurteilen und Falschberechnungen in der Anfangszeit ab In-Kraft-Treten des Gesetzes, so dass Abänderungsklagen aufgrund falscher Berechnungen nach In-Kraft-Treten in ordentlichen Abänderungsverfahren unter längeren Erklärungen geführt werden mussten. Die Abzugstabellen wurden erst von Praktikern (Anwälten) erstellt und den unterhaltsrechtlichen Leitlinien zugefügt. - Da grundsätzlich die zur Verfügung stehenden Geldmittel in der Regel gleichmäßig für den Unterhalt aller berechtigten Familienmitglieder einzusetzen sind, dürfte die Regelung, dass ein besser verdienender Unterhaltsverpflichteter mit fast 1.000 Euro Mehrverdienst nicht stärker belastet wird als ein in der niedrigeren Gehaltsstufe angesiedelte Geringverdiener auch verfassungsrechtlich bedenklich sein. Sie entspricht nicht dem Gebot der Gleichbehandlung (Artikel 3 Grundgesetz). - Die gesetzliche Neuregelung führt zu einer wirtschaftlich stärkeren Belastung von wirtschaftlich schwächeren Unterhaltsschuldnern, denen oftmals nur schwer zu erläutern ist, warum sie den gleichen Unterhalt zu zahlen haben wie Stufe 6 mit Abzug des hälftigen Kindergeldes (hier liegt der dreifache Net-
- 5 - toverdienst des Unterhaltsschuldners vor!). Dies stößt auf Unverständnis bei den Betroffenen. - Durch die neue Regelung wird eine erhöhte Leistungsfähigkeit künstlich konstruiert, die faktisch nicht vorhanden ist. - Die Änderung der unterhaltsrechtlichen Kindergeldanrechnung führt in Fällen, in denen der Unterhaltsschuldner in den unteren Einkommensgruppen angesiedelt ist, zu einer Entlastung der Sozialämter zu Lasten des eigentlich eingeschränkt oder nicht leistungspflichtigen Unterhaltsschuldners. Dies vor allem auch auf Grund der Praxis bei vielen Familiengerichten, einem Unterhaltsschuldner unabhängig von der tatsächlichen Höhe der Einkünfte und Belastungen im Regelfall zumindest den Mindestunterhalt in der Stufe für 2 minderjährige Kinder aufzubürden und ggf. vorhandene (teilweise) Leistungsunfähigkeit durch den Hinweis auf die Möglichkeit eines Nebenjobs auszugleichen. Im Regelfall überfordert der so festgesetzte Unterhalt den Unterhaltsschuldner und belässt ihm nicht mehr den notwendigen Selbstbehalt. Eine Mangelfallberechnung wird in der Regel erst ab 3 Unterhaltspflichten durchgeführt. - Die nach dem Unterhaltsvorschussgesetz geleisteten Zahlungen sind niedriger, da hier das Kindergeld regelmäßig unabhängig von der eingesetzten Einkommensgruppe in voller Höhe in Abzug gebracht wird. - Die vor einigen Jahren durchgeführte Änderung der Düsseldorfer Tabelle dahingehend, dass mehr Einkommensstufen eingeführt wurden, ist für die Stufen 2 bis 6 wieder hinfällig. - Im Hinblick auf die geplante Kindergelderhöhung sollte bereits im Vorfeld berücksichtigt werden, dass diese Erhöhung in vollem Umfang den unterhaltsberechtigten Kindern zugute kommen und nicht die Unterhaltsverpflichteten entlasten sollte. - Im Zusammenwirken mit dem BSHG ergeben sich aus der unterschiedlichen Zuordnung des Kindergeldes Probleme, ob das Kindergeld dem betreuenden Elternteil als Einkommen angerechnet wird.
- 6 - - Die Regelung ist sozial unausgewogen und offensichtlich von der Motivation des Gesetzgebers getragen, bei Gewährung von Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG die öffentlichen Haushalte zu entlasten. - Als Problem stellen sich auch konkrete Einzelfälle bei der Unterhaltsberechnung dar: a) Fragen wirft die Unterhaltsberechnung für Kinder in verschiedenen Rangklassen auf, d. h. ein Unterhaltsschuldner muss für minderjährige Kinder und für ein volljähriges Kind zahlen. Wird der vorrangige und zunächst einkommensmindernde Unterhalt an die minderjährigen Kinder nach dem tatsächlichen Einkommen des Unterhaltsschuldners entnommen oder nach der im Prinzip der Lohngruppe VI gleichenden Düsseldorfer Tabelle mit der teilweisen Anrechnung des Kindergeldes? b) Ein Unterhaltsschuldner der untersten Lohngruppe steht sich bei Unterhalt für ein volljähriges Kind erheblich schlechter als ein Schuldner der Lohngruppe VI. Hier bedarf es einer Korrektur. Die Neuregelung ist dahingehend problematisch, dass im Gesetzeswortlaut nicht unterschieden wird zwischen volljährigen und minderjährigen Kindern, in Kommentaren und der Rechtsprechung jedoch zwischen minderjährigen, nicht privilegierten volljährigen und privilegierten volljährigen Kindern differenziert wird. Beim Volljährigenunterhalt gehen die Gerichte (Essen) regelmäßig von der hälftigen Anrechnung des Kindergeldes aus, so dass als Unterhaltszahlbetrag erheblich weniger zugesprochen wird als bei einem noch minderjährigen Kind. Eine klarstellende gesetzgeberische Maßnahme wäre dahingehend wünschenswert, dass auch bei Volljährigen die Kindergeldanrechnung auch teilweise im Sinne des 1612b Abs. 5 BGB erfolgen kann. c) Die Neuregelungen führen selten zu direkten Mehreinnahmen, selbst wenn ein Unterhaltstitel erstritten werden kann, da dann aufgrund der Pfändungsfreigrenzen, die nach der Anhebung über dem Selbstbehalt liegen, eine Vollstreckung nicht möglich ist. d) Problematisch ist die Gesetzesänderung in den Fällen, in denen das Kindergeld an den Unterhaltspflichtigen ausgezahlt wird und sich der
- 7 - Betrag der Düsseldorfer Tabelle sowohl um den hälftigen Kindergeldbetrag als auch um den Differenzbetrag bis zur 135%-Grenze erhöht. - Im Rahmen der Berechnung des Ehegattenunterhaltes wird der Unterhaltsschuldner aus einer niedrigeren Einkommensgruppe gegenüber dem einer höheren unangemessen benachteiligt. Die Berechnung erfolgt nach allgemeiner Rechtsprechung, indem vom bereinigten Nettoeinkommen nicht der effektiv zu zahlende, sondern der jeweilige in der Tabelle ausgewiesene Unterhaltsbetrag abgezogen wird und dann der Ehegattenunterhaltsanteil ermittelt wird. Dies kann bedeuten, dass der Unterhaltsschuldner, zu dessen Lasten ein höherer Tabellenunterhaltsbetrag für den Kindesunterhalt geltend gemacht werden kann, unter Umständen weniger Ehegattenunterhalt zu zahlen hat als derjenige einer niedrigeren Einkommensgruppe. - Diese Gesetzesänderung müsste mit verschiedenen anderen Gesetzen (z. B. in den Bereichen Sozialrecht und Pfändungsfreigrenzen) und mit Hilfen der öffentlichen Hand in Einklang gebracht werden. - Schwierigkeiten könnten bei künftigen Tabellenänderungen bei einer späteren Vollstreckung unter Berücksichtigung der früheren Tabellen entstehen. - Am ehesten würde eine Regelung akzeptiert werden, bei der das Kindergeld grundsätzlich nicht mehr angerechnet wird, sondern dem Haushalt in voller Höhe zugute kommt, in dem das Kind sich aufhält.