Die Grammatik, Semantik und Pragmatik des Wortes

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Alena Lejsková, Jana Valdrová (Hg.) Die Grammatik, Semantik und Pragmatik des Wortes Ihre Erforschung und Vermittlung

Begründet von Jana Valdrová und Hans Wellmann Der Druck wurde von der Universität Augsburg unterstützt. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89639-806-2 Wißner-Verlag, Augsburg 2011 www.wissner.com Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zulässigen Fällen bedarf deshalb der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlags.

Vorwort... 8 Teil A Zur Pragmatik des Wortes... 11 Da lob ich mir die Höflichkeit. Ein Gang auf das weite Feld der linguistischen Pragmatik... 15 Wolfram Bublitz, Augsburg Zum Verhältnis von Semantik, Pragmatik und Grammatik am Beispiel von Namen und Deiktika... 56 Peter Ernst, Wien Sprachnormen im Schulunterricht: Eine Untersuchung aus soziolinguistischer Perspektive... 66 Vít Dovalil, Praha Pragmatische Lexikographie: Der Definitionswortschatz... 90 Hans Wellmann, Augsburg / České Budějovice Die Interpretierbarkeit von Wortbildungen in Lyrik: Gibt es eine pragmatische Lösung?... 107 Veronika Kotůlková, Opava Teil B Zur Semantik des Wortes... 114 Wortbedeutung und Korpus... 117 Norbert Richard Wolf, Würzburg Zirkumfixbildungen auf GE-(E) aus kontrastiver (deutsch-tschechischer) und korpuslinguistischer Sicht... 125 Martin Šemelík, Marie Vachková, Prag Zur korpusgestützten Ermittlung naher Synonyme... 141 Marek Schmidt, Ústí nad Labem Die Sammelnamen und die Gesamtnamen... 151 Olga Vomáčková, Olomouc 5

Teil C Die Grammatik des Wortes im Unterricht... 161 Die Verbvalenz als satzkonstituierendes Mittel im DaF-Unterricht... 164 Alena Lejsková, Budweis Die Wahrnehmung des deutschen Zeitsystems durch österreichische Muttersprachler und durch Deutsch lernende Tschechen... 174 Alena Aigner, České Budějovice Pronomen im DaF-Unterricht... 180 Jana Doleželová, České Budějovice AAA-Interaktion: Wie das Artikelwort mit dem Adjektiv im Attribut korrelliert. Überlegungen zur Didaktisierung eines Grammatik-Kapitels im DaF-Unterricht... 185 Jana Valdrová, České Budějovice 6

VÍT DOVALIL, PRAHA Sprachnormen im Schulunterricht: Eine Untersuchung aus soziolinguistischer Perspektive 0. Zielsetzung und Einleitung Ziel dieses soziolinguistisch orientierten Aufsatzes ist es, an einigen sprachlichen Variablen die Wirkung tschechischer Deutschlehrer auf die Gestaltung der Standardvarietät im DaF-Unterricht zu zeigen. Im Vordergrund befindet sich diese Varietät als Zielvarietät, deren Vermittlung im Lehr-/Lernprozess für selbstverständlich gehalten wird. 1 Einleitend wird auf das eingegangen, was unter dem Konzept Standardvarietät verstanden wird. Da dieses Konzept und die damit zusammenhängende sprachliche Standardisierung in der Soziolinguistik nie als unumstritten gegolten hat und immer wieder problematisiert wird, bedarf es gewisser Begriffsklärung. 2 Ausgegangen wird dabei von der Existenz eines sozial dynamischen Diskurses, in dessen Rahmen die Normen einer Standardvarietät in den Interaktionen geschaffen, angezweifelt, umgebildet bzw. verteidigt werden (können). Daraus ist ersichtlich, dass die Forschung schon vom methodologischen Standpunkt aus grundsätzlich nicht mit ein für allemal fertigen Produkten zu tun hat, son- 1 Die vorliegende Untersuchung wurde gefördert vom Forschungsprojekt des Schulministeriums der Tschechischen Republik VZ MSM 0021620825 (Sprache als menschliche Tätigkeit, ihr Produkt und Faktor). Diese Studie ist eine durchgesehene Version von Dovalil 2010. Dieser Aufsatz wäre nicht ohne aktive Kooperation von fünf Studentinnen entstanden, die im Sommersemester 2006 am Seminar zur Sprachnormenforschung und später an der eigentlichen Untersuchung teilgenommen haben: Es sind in der alphabetischen Reihenfolge Alena Čermáková, Zuzana Hajíčková, Martina Malimánková, Hana Ondráčková und Alena Pufflerová. Der Autor möchte sich an dieser Stelle bei ihnen vor allem für die Durchführung der Datenerhebung und für die sorgfältige Auswertung der verschickten Tests bedanken. In den empirischen Passagen dieses Aufsatzes wird mit einem Teil der Datenauswertung von Alena Pufflerová und Zuzana Hajíčková gearbeitet. 2 Die Literaturliste zu diesem Bereich könnte sehr lang sein. Aus den neueren germanistischen Sammelbänden und Studien der vergangenen Jahre könnten vor allem Konopka/Strecker (2009), Fandrych/Salverda (2007), Dovalil (2006), Eichinger/Kallmeyer (2005), Lameli (2004), Deumert/Vandenbussche (2003), Androutsopoulos/Ziegler (2003) oder Ammon/Mattheier/Nelde (2003) aufgeführt werden. Die Liste ist bei weitem nicht vollständig. Diesen neueren Ansätzen ist die Bemühung um die bottom-up-perspektive gemeinsam, die Mikroebene wird also keineswegs vernachlässigt. 65

Vít Dovalil, Praha dern auf die empirisch (verhältnismäßig schwer) erfassbare Dynamik angewiesen ist. Aus diesem Grunde sollten zuerst diejenigen Akteure identifiziert werden, deren Einfluss dermaßen groß ist, dass sie für die Gestaltung der Standardvarietät entscheidend sind. Wichtig ist gleichzeitig auch die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie konkret diese einflussreichen Akteure handeln, wenn durch ihre Wirkung doch einigermaßen stabile Normen konstituiert werden. Die schulische Praxis des Fremdsprachenunterrichts beruht grundsätzlich darauf, dass der Weg zur Aneignung hoher Fremdsprachenkenntnisse zum erheblichen Teil über die Standardvarietät führt. Als Grundlage dienen dazu typischerweise verschiedene Lehr- und Wörterbücher, im fortgeschrittenen (Hochschul-) Studium auch Grammatiken bzw. andere Sprachratgeber, mit denen in der Praxis eher präskriptiv umgegangen wird. Obwohl die sprachliche Variation in Form von Erfahrungen der Lehrer und bei der Arbeit mit geschriebenen und gesprochenen Texten nicht übersehen wird, bleibt in strittigen Fällen die Aufmerksamkeit auf die Kodizes gerichtet, die für die Repräsentanten der Standardvarietät gehalten werden. Die soziale Realität der Standardvarietät ist allerdings abwechslungsreicher als das oben skizzierte Bild. Es muss damit gerechnet werden, dass die Inhalte der Kodizes auf dem Wege von den Lehrern zu den Schülern und Studenten nie ohne Störungen zu vermitteln sind. Die Menschen sind nicht vollkommen, sie vergessen, das einst Gelernte kann im Gedächtnis verschiedensten Wandelprozessen ausgesetzt werden usw. Ab und zu begegnet man der Vermutung, dass bestimmte Lehrer dazu neigen, strikter zu handeln und weniger Variation zu tolerieren, als es gegenüber der Kodifizierung adäquat wäre. Oder aber die kritisch denkenden und ebenso mit den Kodizes kritisch umgehenden Lehrer ziehen den Umstand in Betracht, dass es nicht nur eine Grammatik bzw. ein Wörterbuch gibt und dass die Kodifizierung in verschiedenen Grammatiken bzw. Wörterbüchern (zahlreiche) Ungereimtheiten aufweisen kann. Der Glaube an die Identität Standardvarietät = Kodex hält daher kaum Stand. 3 3 Kritisch zu hinterfragen wäre selbst die Auffassung von Kodex. Was ist eigentlich ein Kodex, was genau macht ein Wörterbuch bzw. eine Grammatik zum Kodex? Ammon (1986: 46-52) versucht, die Frage folgendermaßen zu beantworten: Die in dem linguistischen Regelwerk enthaltenen Regeln definieren bestimmte Varietätselemente; bezüglich dieser Varietätselemente sind Gebote offiziell gültig; diese Gebote, deren Inhalt (Präskriptionsinhalt) aus den betreffenden Varietätselementen besteht, sind hinsichtlich der Okkasion generell (nicht partikular). Uns scheint es angemessen, bei einem derartigen präskriptiven Status eines linguistischen Regelwerks von einem linguistischen Kodex zu sprechen. Ebenso kritisch müsste überprüft werden, wie überhaupt die Kodizes in Wirklichkeit erstellt werden und inwieweit die Kodifizierer selbst in der Lage sind einzuräumen, dass sie ab und zu recht intuitiv vorgehen können (mündliche Mitteilung von Gerhard Helbig, IDS- Jahrestagung in Mannheim, März 2004). Eine ausführlichere Auseinandersetzung mit diesen Problemen würde jedoch den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. 66

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät Abgesehen davon bleibt der Lern-/Lehrprozess nicht von anderen sozialen Phänomenen verschont wie z. B. der Durchsetzungs- oder Überzeugungskraft eines konkreten Lehrers, die sich von der eines anderen Lehrers wesentlich unterscheiden kann. Wie sich die Lehrer voneinander unterscheiden können, so kann sich auch die von ihnen gelehrte Standardvarietät unterscheiden. Und genau diese Erkenntnis lag der Frage zugrunde, was eigentlich an tschechischen Mittelschulen gelehrt wird und mit welcher Gestalt von Standardvarietät im Kopf die Schüler den Deutschunterricht verlassen. Wie in anderen Diskursen stößt man auch im Fremdsprachenunterricht darauf, dass es einflussreichere und weniger einflussreiche Personen gibt, die die Standardvarietät nicht nur (auf den ersten Blick passiv) vermitteln, sondern auch sehr aktiv schaffen (ohne das Letztere zu beabsichtigen oder ohne es überhaupt einräumen zu wollen!). Diese kurz gefassten Überlegungen sollen verdeutlichen, mit welchen Phänomenen sich eine soziolinguistisch orientierte Untersuchung auseinander setzen muss, wenn eine sozial adäquatere Rekonstruktion der Standardvarietät angestrebt wird. 1. Auf der Suche nach einem sozial realistischen Standard-Konzept Wenn die zwar in der Praxis häufig umgesetzte, theoretisch aber ebenso häufig angezweifelte einfache Prämisse Standard sei im Kodex zu finden tatsächlich hinterfragt wird, dann bleibt offen, welchen alternativen Ansatz die Soziolinguistik anzubieten hat, wenn die Zugehörigkeit eines Sprachmittels zur Standardvarietät überprüft und im Idealfall auch nachgewiesen werden soll. Bezeichnenderweise formuliert deshalb Ammon die Frage folgendermaßen: Wer entscheidet über das, was der Standardvarietät (noch) angehört? 4 Die Fragestellung impliziert, dass bei der Suche nach dem Standard unterschiedliche (Gruppen-)Interessen anwesend sein können, wodurch der Gedanke widerlegt wird, dass es eine objektive Standardsprachlichkeit gibt. Nach Ammon (2005: 2-35) gehören zu den einflussreichen sozialen Kräften insgesamt vier Gruppen: Kodifizierer, Normautoritäten, Modellsprecher/-schreiber und Linguisten. Im Hintergrund dieses sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät befindet sich die Bevölkerungsmehrheit. Die Rolle der Kodifizierer besteht darin, dass sie im Kräftefeld als Autoren der Kodizes auftreten. Wie bereits oben mit anderen Worten gesagt wurde, ist ein Kodex ein autoritatives Nachschlagewerk für den standardsprachlichen Gebrauch, auf das sich die Sprachbenutzer in Zweifelsfällen berufen (können). 5 4 Das war der Tenor seines Vortrags im Prager linguistischen Zirkel im Mai 2007. 5 Ammon (2005: 35) präzisiert, wie das Konzept autoritatives Nachschlagewerk zu verstehen ist: Autoritativ werden Nachschlagewerke entweder durch Verordnung oder gewohnheitsrechtlich. Sie 67

Vít Dovalil, Praha Wenn in die Kodizes auch Nonstandardvarianten aufgenommen werden, wird ihr Nonstandard-Charakter dementsprechend markiert. Das gilt ebenso für die stilistische Klassifizierung. Die Kodifzierer fallen bei Ammon nicht mit den Linguisten zusammen, weil deren soziale Rolle eine andere ist. Die Sprachexperten erarbeiten Fachurteile und können in Konfliktfällen mit Aussicht auf Erfolg gerade gegen die Kodizes angerufen werden. Die Linguisten treten als fundierte Kritiker der bestehenden Grammatiken/Wörterbücher auf und können auch Änderungen in späteren Auflagen der Kodizes bewirken. Die Modellsprecher/-schreiber sind Autoren von geschriebenen ebenso wie gesprochenen Modelltexten, deren Modellhaftigkeit im Sinne von Vorbildlich- Sein zu deuten ist. Diese Modellsprecher/-schreiber sind typischerweise professionell geschulte Sprachbenutzer, wodurch sie sich von den geläufigen Sprachbenutzern unterscheiden. Es kann sich um Nachrichtensprecher in überregionalen Massenmedien handeln, um Autoren von Sachprosa, um Schauspieler oder Schriftsteller, im Allgemeinen vor allem um die Autoren konzeptionell schriftlicher Texte. 6 Die Modellhaftigkeit wird diesen Texten nach Ammon (2005: 34) durch ihre Öffentlichkeit, sprachliche Meisterschaft und den sozialen Status ihrer Autoren und Beurteiler verliehen. Wichtig ist, dass im Bereich der Sprachproduktion durch diesen Hinweis auf Modelltexte qualitativ differenziert wird, was z. B. für den in/adäquaten Umgang mit großen elektronischen Korpora von Bedeutung ist. Die Rolle der Normautoritäten besteht darin, dass sie berechtigt sind, die Sprachproduktion zu korrigieren. Gesellschaftlich wird diese soziale Funktion, d. h. die Berechtigung, das Sprachhandeln anderer Personen zu korrigieren, nicht nur akzeptiert, sondern sogar erwartet. Die Normautoritäten sind in der Lage, ihre Korrekturen in soziale Praxis umzusetzen bzw. durch ihre Macht durchzusetzen. Die vielleicht wichtigsten Normautoritäten sind in der Gesellschaft die brauchen jedoch nicht in amtlichem Auftrag oder von autorisierten Institutionen, z. B. Akademien, erarbeitet zu sein. Dies ist im Deutschen, aber auch im Englischen, offenkundig. [ ] Entscheidend ist allein, ob man sich auf sie als Nachschlagewerke mit Aussicht auf Erfolg berufen kann. In großen Sprachgemeinschaften umfasst der Sprachkodex vielerlei Werke, deren Status als Kodexbestandteil nicht immer klar ist. Im Zweifelsfall erweist er sich erst bei einem bis zum Äußersten, womöglich juristisch durchgefochtenen Sprachnormenkonflikt. 6 Vgl. Koch/Österreicher (1985). Unter der konzeptionellen Schriftlichkeit sind solche Textcharakteristiken zu verstehen, für die die (räumliche wie auch persönliche) Distanz zwischen den Kommunizierenden typisch ist: Fremdheit der Partner, Öffentlichkeit, Situationsentbindung, Reflektiertheit, raumzeitliche Trennung, Themenfixierung, Komplexität, Elaboriertheit, Planung. Als repräsentative Textsorten wären öffentliche Reden, geschriebene wissenschaftliche Texte oder Nachrichtensendungen zu nennen. Die Charakteristiken und Beispiele zeigen deutlich, dass die konzeptionelle und die mediale Schriftlichkeit der Texte oft auseinander gehen (können). 68

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät Lehrer, zu den Normautoritäten gehören aber auch Verlagslektoren, Redakteure oder Amtsvorsteher. Die sozialen Rollen aller kurz skizzierten Instanzen sind nicht statisch aufzufassen. Sie werden immer erst in Interaktionen bzw. in Diskursen aktiv und beobachtbar. Das bedeutet, dass ein Mensch in Abhängigkeit von konkreten Kommunikationssituationen in allen Rollen auftreten kann, wenn sein Verhalten dementsprechend akzeptiert wird. So kann ein Linguist gleichzeitig als Normautorität (Lehre an der Universität), Modellschreiber (Autor eines wissenschaftlichen Textes) oder als Kodifizierer (Autor einer Grammatik) auftreten. Die vier Kräfte wirken aufeinander ein. In Bezug auf eine grammatische Variante können sich alle einig sein, dass diese Variante der Standardvarietät angehört: Ihr Vorkommen ist in den Modelltexten ganz üblich, sie ist in die Kodizes aufgenommen, sie wird von den Normautoritäten (erfolgreich) durchgesetzt, und auch die Sprachexperten zweifeln an ihrer Standardsprachlichkeit nicht. Diese einheitliche Meinung mit der entsprechend einheitlichen sozialen Praxis stellt wohl die stabilste Basis für den Schluss, dass die überprüfte Variante tatsächlich eine Standardvariante ist. Ähnlich einig können sich die sozialen Kräfte sein, wenn es sich um eine Nonstandard-Variante handeln wird: Die Variante kommt in den Modelltexten nicht vor, ihr Gebrauch wird von den Normautoritäten sanktioniert, die Sprachexperten weisen den Nonstandard-Charakter der Variante in ihren Fachurteilen nach, und diese Markierung ist auch in den Kodizes zu finden (oder die Variante ist in die Kodizes gar nicht aufgenommen). Auch in diesem zweiten Fall ist der wünschenswerterweise wieder empirisch nachweisbare Konsensus stabil, dass diesmal eine Nonstandard-Variante vorliegt. Komplizierter sind die Konstellationen, wenn in Bezug auf die Zugehörigkeit einer Variante zum Non/Standard kein Konsensus erreicht wird. Die minimale Interpretation müsste heißen, eine strikte Sanktionierung von Seiten der Normautoritäten ist nur schwer zu begründen und zu verteidigen. 7 Wenn an dieser Stelle die zentrale Frage beantwortet werden sollte, was eine realistische und sozial tatsächlich wirkende Standardvarietät ist, müsste eine ex negativo formulierte Antwort angeboten werden: Standard ist, was von keinem der relevanten Akteure des Diskurses öffentlich beanstandet wird (Normautoritäten, Kodifizierer, Modellsprecher/-schreiber und Linguisten). An diesem Schluss zeigt sich die als nur relativ einzuschätzende Stellung der Grammati- 7 Interessant unter den in Frage kommenden Konstellationen sind solche, in denen der relativ konservative Charakter der Kodizes nachweisbar ist, d. h. wenn die drei übrig bleibenden Instanzen einer Meinung sind und die Kodizes sich von dieser Meinung unterscheiden. Dann könnte der sog. neue Standard vorliegen (vgl. Dovalil 2006: 58-59). 69

Vít Dovalil, Praha ken/wörterbücher, die sozusagen ihr eigenes (= auch wirklichkeitsfernes) Leben leben können, ohne in der Praxis relevant zu sein. Eine der Fragen, die nach diesem Schluss aufgeworfen werden könnte, lautet, ob in dem vorgestellten Modell tatsächlich alle relevanten Kräfte gefunden worden sind. Ammon stellt sich diese Frage seit dem Jahre 1995, als das Modell zum ersten Mal publiziert wurde. Markus Hundt (2009: 122 ff.) hat z. B. in diesem Zusammenhang versucht, die sich bei Ammon im Hintergrund befindende Bevölkerungsmehrheit deutlicher in den Vordergrund zu rücken (dazu vgl. auch Dovalil 2010a). Ein weiteres Problem besteht in der Zweidimensionalität und darin, dass das Modell ein Gleichgewicht im Einfluss aller identifizierten Akteure suggeriert. Obwohl dem auf den ersten Blick so ist, hindert das Modell die Forschung nicht daran, in den Diskursen ein ungleiches soziales Gewicht der einzelnen Kräfte nachzuweisen. Darüber wird im Folgenden diskutiert. 2. Methodologischer Beitrag der Sprachmanagementtheorie und ihre Verknüpfung mit Ammons sozialem Kräftefeld Wie gerade gezeigt wurde, hat Ammon einen Versuch unternommen, die Frage zu beantworten, wer über das entscheidet, was der Standardvarietät angehört und was nicht mehr. Sind in der sozialen Praxis der einzelnen Akteure, in den einzelnen Diskursen gleiche Vorgehensweisen herauszufinden, oder handeln die sozialen Kräfte immer unterschiedlich? Oder teilweise beides? Unter welchen Umständen? Der (auch germanistischen) Standardsprache-Forschung steht seit ungefähr zwei Jahrzehnten eine Theorie zur Verfügung, die u. a. genau das in den Mittelpunkt rückt, wofür sich die Standardsprache-Forschung eigentlich intensiv interessiert: Existenz zahlreicher Sprachprobleme und Bemühungen um ihre Lösung, spezifisches Verhalten der Sprachbenutzer gegenüber der Sprache, Integration der Mikro- und Makroebene der empirischen Forschung und die Dynamik der Sprach(re)produktion in sozialen Netzwerken all das vor dem Hintergrund der ungleichen Machtverteilung in der Sprachgemeinschaft. 8 8 Wie die Sprachprobleme entstehen, ist auch politisch und sozioökonomisch zu erklären. Ein Sprachproblem hat immer eine soziale oder sozioökonomische Basis. Im Hintergrund befinden sich dabei unterschiedliche Interessen, die eben mehr oder weniger deutliche soziale Ungleichheiten in der Machtverteilung re/produzieren. Diese ungleiche Distribution wird über den Sprachgebrauch, d. h. diskursiv inszeniert. 70

2.1 Grundzüge der Theorie Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät Der Sprachgebrauch und die Interaktionen sind kaum völlig spontan. Der Sprachgebrauch wird in jeder Sprachgemeinschaft und dabei mag es sich um eine einsprachige wie auch eine mehrsprachige Gemeinschaft handeln von Seiten der Sprachbenutzer durch abwechslungsreiche Eingriffe in die Interaktionen oder ins Sprachsystem gekennzeichnet. 9 Dass in den Sprachgebrauch von den Benutzern eingegriffen wird, wird noch deutlicher, wenn über Lernprozesse von Fremdsprachen diskutiert wird, wie z. B. Deutsch als Fremdsprache. Dadurch wird der Bereich der ausgesprochen gesteuerten Aktivitäten von metasprachlicher Natur betreten, denn der Sprachgebrauch wird mit Hilfe der Sprache selbst beeinflusst. Die Sprachbenutzer werden immer wieder Zeugen eines gewissen Verhaltens gegenüber der Sprache. Besonders deutlich zeigt sich dieses Verhalten in verschiedenen Purismus-Debatten, im Diskurs über den Sprachverfall, in der laienhaften Sprachkritik usw. Die Soziolinguistik bezeichnet solche metasprachlichen Aktivitäten, die gerade auf der Existenz des beobachtbaren behaviour towards language basieren, als Sprachmanagement. 10 Dass die Herausbildung von Standardvarietäten das Resultat und gleichzeitig den Prozess eines solchen Verhaltens gegenüber der Sprache widerspiegelt, liegt nun auf der Hand. Das Sprachmanagement bildet eine Gesamtheit von metalinguistischen Aktivitäten, die auf die Sprachproduktion und rezeption abzielen. Es bezieht nicht nur den Umgang mit der Struktur einer Sprache (z. B. Kodifizierung) mit ein, sondern auch die kommunikative und soziokulturelle Kompetenz (Wahl der Themen und des Stils im Gespräch, Rollenwechsel usw.). Für die Sprachmanagementtheorie ist charakteristisch, dass sie von praktischen Sprachproblemen der Sprachbenutzer ausgeht. Diese Probleme kommen üblicherweise in alltäglichen Kommunikationsinteraktionen auf der Mikroebene zum Ausdruck (vgl. Jernudd, 2000: 199). Nicht jedes Sprachproblem muss allerdings von Umständen auf der Mikroebene verursacht werden. Es kann durchaus passieren, dass die Ursache für ein Sprachproblem von der Makroebene kommt: Eine Institution kodifiziert Sprachnormen, durch deren Umsetzung in der Praxis ein Problem 9 Die Soziolinguistik unterscheidet je nach dem Gegenstand einige Typen sprachplanerischer Tätigkeiten: Die Korpusplanung interessiert sich primär für das Sprachsystem und seinen Ausbau, die Statusplanung für die Stellung der Sprache/n in den Sprachgemeinschaften. Erforscht wird darüber hinaus auch die Spracherwerbsplanung. Bei Cooper (1989) heißt es corpus planning, status planning und acquistion planning. Baldauf (2008: 18) fügt auch das Prestige hinzu (prestige planning). Die Trennlinien sind allerdings nicht als unüberbrückbar zu deuten (vgl. Shohamy 2006: 47-48). 10 Die Beschreibung der Sprachmanagementtheorie und des terminologischen Apparats beruht generell auf Nekvapil/Sherman (2009), Neustupný/Nekvapil (2003) und Dovalil (2008). Im Detail wird auch auf andere Quellen hingewiesen. 71

Vít Dovalil, Praha entsteht oder geradezu geschaffen wird. 11 Wichtig ist aber, dass die Konsequenzen eines Sprachproblems (wo auch immer es eigentlich entstanden sein mag) jedenfalls auf der Mikroebene in ganz konkreten Interaktionen zum Ausdruck kommen und von den Interagierenden identifiziert und wahrgenommen werden (vgl. Jernudd, 2001 passim). Die Probleme bestehen prinzipiell in der Uneinigkeit gegenseitiger Kommunikationserwartungen der beteiligten Sprecher/Hörer, mit anderen Worten in den Abweichungen von den Erwartungen, die in den ganz konkreten Interaktionssituationen vorkommen. Diese Abweichungen repräsentieren typischerweise Normabweichungen im weiten Sinne (in den englischen Texten wird hierfür der Terminus deviation from the norm verwendet, vgl. beispielsweise schon Neustupný (1985: 168). 12 Vom Vorkommen einer Normabweichung leiten sich die nächsten Phasen des Management-Prozesses ab. Entweder werden die Normabweichungen von den Sprachbenutzern bemerkt (noting), oder nicht. 13 Im ersteren Falle wird das Management fortgesetzt, im letzteren gibt es dafür keinen Grund, denn ein unbemerktes Problem ist für die Kommunizierenden praktisch gar kein Problem. Nur etwas Bemerktes kann weiter muss aber nicht bewertet werden (evaluation). Unter der Voraussetzung, dass ein bemerktes Problem auch bewertet wird, hat es Sinn, sich zu überlegen, wie diese Bewertung ausfallen kann. Dabei bieten sich grundsätzlich zwei Möglichkeiten an negativ oder positiv. Diese durchaus nachvollziehbare Dichotomie sollte allerdings um feinere Übergangsstufen erweitert werden um eine neutrale Position. Eine sprachliche Variante oder ein Sprachproblem können z. B. nur kommentiert werden, ohne dass ein solcher Kommentar automatisch eine negative (oder positive) Bewertung bedeuten würde. Für die Fortsetzung des Management-Prozesses ist die negative Bewertung von besonderer Bedeutung, weil im Falle der positiven Bewertung kein Grund entsteht, den Sprachgebrauch zu verändern. Die negative Bewertung, die gerade das Gegenteil von der erwartbaren adäquaten Kommunikation darstellt, löst den Bedarf aus, geeignete Maßnahmen zu entwickeln (im Englischen: adjustment design), die dazu beitragen würden, dass die Kommunikationspartner das Problem wirksam loswerden. Als leicht vorstellbare Maßnahmen bieten sich aus formaler Hinsicht Korrek- 11 Für ein solches Problem wird von manchen Deutschen die Rechtschreibreform gehalten. 12 Begrifflich ist die Verknüpfung zwischen Norm und Erwartung sehr eng, denn die Norm lässt sich als eine Art soziale Erwartung (oder sogar Erwartungserwartung) auffassen. Die Normen basieren somit auf den Erwartungen, die die sprachlichen Handlungen regulieren (sollen). Ausführlicher zu diesem Konzept vgl. Dovalil (2006: 20-27). 13 Die Übersetzung des englischen Ausdrucks noting ist relativ schwierig. Ich neige zu den deutschen Entsprechungen Bemerken bzw. Merken (im Tschechischen hat sich hierfür der Ausdruck povšimnutí eingebürgert). Wie konkret dieses Bemerken einer Normabweichung zu deuten ist und was beim Bemerken/Merken geschieht, ist vor allem eine (sozial-)psychologische Frage. 72

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät turen. Das ganze Sprachmanagement endet, wenn die für die Bewältigung des Problems entwickelte und gleichzeitig geeignete Maßnahme erfolgreich in die Praxis umgesetzt wird (implementation). 14 Die beschriebenen Phasen des Management-Prozesses lassen sich folgendermaßen skizzieren (bearbeitet nach Miyazaki 2001: 41): sprachliche Interaktion/Gespräch ohne Normabweichung Normabweichung nicht bemerkt bemerkt nicht bewertet bewertet positiv neutral negativ negativ ohne Maßnahmen Maßnahmen nicht umgesetzt umgesetzt Dieses Schema zeigt gleichzeitig, dass der Prozess nicht alle Phasen von Anfang bis Ende durchlaufen muss, sondern dass er in jeder der Phasen abgebrochen werden kann. Das Management ist in der Lage zu erklären, wo (d. h. in welchem Stadium) sich ein Problem befindet, wenn es noch nicht definitiv gelöst worden ist. Diese Erfassung vermag darüber hinaus sowohl die auf der Mikroebene ablaufenden Interaktionen einzubeziehen, als auch die Ereignisse auf der Makroebene, wenn einige Phasen (vor allem z. B. die Suche nach optimalen Maßnahmen) an die Organisationen auf der Makroebene delegiert werden. 14 Der Inhalt jeder Phase ließe sich weiter ausführen: So wäre nicht nur die Evaluation (positiv, negativ) um feinere Elemente dazwischen (hier als neutral angeboten) zu erweitern, sondern man könnte die darauf folgende Phase adjustment design um eine qualitative Komponente (spontan, sorgfältig durchdacht und andere) verfeinern. Noting könnte z. B. bewusst oder halbbewusst geschehen usw. 73

Vít Dovalil, Praha Die Sprachmanagementtheorie hat für die jeweilige Ebene die Konzepte einfaches Management und organisiertes Management eingeführt, die aufeinander einwirken: Die auf der Makroebene von den Institutionen/Organisationen entworfenen und durchgesetzten Maßnahmen finden ihren Niederschlag in den ganz konkreten Interaktionen auf der Mikroebene, und diese Interaktionen beeinflussen in ihrer Gesamtheit von unten (d.h. von der Mikroebene) wiederum die Makroebene. Das einfache Management spielt sich in den Interaktionen ab, es ist das hic et nunc solcher individuellen Interaktionen. Am organisierten Management nehmen soziale Strukturen teil; das Management ist systematisch, gesteuert, reich an Ideologien und bildet den Gegenstand öffentlicher Diskurse (wie z. B. der Sprachkritik, Sprachpflege). Die Phasen des Managements sind nicht nur als Sequenz bestimmter nacheinander folgender Schritte zu deuten, sondern sie stellen einen Zyklus dar: Die Sprachproduktion stimuliert die einzelnen Phasen des Prozesses, sie gilt zugleich aber auch als deren Produkt (im Sinne der Implementation als realisierter Maßnahme/n). Das Generieren der Diskurse wird immer wieder von ihrem Managen begleitet und stimuliert. Die Beschreibung der Management Prozesse bliebe lückenhaft, wenn deren Akteure nicht näher charakterisiert würden (hierzu vgl. Nekvapil/Nekula 2006: 311). Die Prozesse verlaufen nicht abstrakt, sondern sie sind an konkrete soziale Netzwerke gebunden, für die Folgendes gilt: Je komplexer das sich durch die Interaktion konstituierende Netzwerk (oder das bereits fest etablierte Netzwerk) ist, desto intensiver (= mit desto weiter reichenden Konsequenzen) spielt sich auch das eigentliche Management ab. Als Beispiele kommen in Frage Familien, Betriebe, Banken, Krankenhäuser, Schulen, Staaten, internationale Organisationen oder im Kontrast zum letztgenannten eine Interaktion zwischen zwei Bekannten. 2.2 Integration beider Ansätze Wenn die Sprachmanagementtheorie in das Fungieren des sozialen Kräftefeldes einer Standardvarietät projiziert wird, stellt sich Folgendes heraus: Der Management-Prozess kann am weitesten von allen Instanzen des Kräftefeldes bei den Normautoritäten verlaufen, wenn die Legitimität ihrer Eingriffe und der davon abgeleitete direkte Einfluss auf das sprachliche Handeln anderer beurteilt werden. Von den Normautoritäten wird erwartet und die Gesellschaft erteilt ihnen diskursiv die Berechtigung dass sie die Normabweichungen bemerken (= nicht übersehen bzw. nicht überhören) und dass sie sie bewerten. Falls die Bewertung der Abweichung negativ ausfällt, wird von den Normautoritäten erwartet, dass sie in der Lage sein sollten, angemessene Korrektur-Maßnahmen zu entwickeln. Darüber hinaus ist es bei den Normautoritäten wichtig, diese Maß- 74

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät nahmen durch ihre soziale Macht (durch ihr soziales Gewicht in der Gesellschaft) in die Praxis umzusetzen. Das von den Normautoritäten durchgeführte Sanktionieren der Normsubjekte für deren sprachliches Handeln ist ein Ausdruck der negativen Bewertung; es stellt eine der legitimen Verhaltensweisen der Autoritäten dar. Aufgrund des Kräftefeldes ließe sich voraussetzen, dass die Normautoritäten beim Sanktionieren und bei der darauf folgenden Suche nach den zu implementierenden Maßnahmen, durch die die Sprachprobleme gelöst werden, von den Kodizes, Modelltexten und von Fachurteilen der Sprachexperten ausgehen werden. Ob dies der Praxis beispielsweise der tschechischen Deutschlehrer entspricht, war vor der Untersuchung eher unklar. In einigen von den Studentinnen durchgeführten Interviews zeigte sich jedoch deutlich, dass sich die Lehrer vor allem auf die Lehr- und Wörterbücher stützen, und viel seltener wenn überhaupt auf die Modelltexte. Die Stellungnahmen der Linguisten werden von ihnen praktisch gar nicht in Betracht gezogen. Abgesehen von dem Umstand, wie stark die Bindung zwischen den Normautoritäten und den anderen sozialen Kräften ist, lässt die soziale Funktion einer Normautorität wenigstens den Gedanken aufkommen, dass die Normautoritäten das Sprachmanagement in entscheidendem Ausmaß vorantreiben, denn in ihrem Falle ist die Implementation wenn nötig, dann sogar gegen den Willen der Normsubjekte am einfachsten zu begründen. Im Einklang mit Ammon bedeutet der Verzicht auf die konsequente Durchführung des ganzen Prozesses des Sprachmanagements einen Verstoß gegen die Erwartungen, die den Autoritäten zugeschrieben werden. Die Rolle der Sprachexperten ist eine andere. Da von ihnen qualifizierte Fachurteile über die Sprachprobleme erwartet werden, sind sie in der Phase des Bemerkens und der Evaluation unentbehrlich. Sie sind in der Lage, den Management-Prozess aufzuhalten, wenn sie nachweisen, dass in einem strittigen Fall keine Normabweichung vorliegt. Andererseits können sie den Prozess beschleunigen, wenn die Existenz einer Normabweichung tatsächlich begründet werden kann. Ihre Evaluation wiegt schwer, weil sie fachlich fundierte Urteile formulieren. Die Linguisten sind kaum zu übergehen, wenn nach denjenigen Maßnahmen gesucht wird, mit denen ein Problem beseitigt werden soll, zumal es sich um innovative Vorschläge handeln soll. In dieser Phase müssen sie sich mit den Normautoritäten bei Weitem nicht auf eine Strategie einigen. Wenn beide sozialen Kräfte im Einklang handeln, helfen die Autoritäten bei der Durchsetzung der (von Linguisten gefundenen) Maßnahmen besonders intensiv. Die Kodifizierer scheinen eher statische Lösungen beim Beseitigen der Sprachprobleme vorzulegen. Die Kodizes sind eigentlich Summen von formulierten Maßnahmen, die in spezifischen Kommunikationssituationen besonders relevant sind (wie z. B. gerade im Schulunterricht). An und für sich erreichen sie 75

Vít Dovalil, Praha die soziale Relevanz nicht. Für die Implementation der Kodifizierung sind primär wieder die Normautoritäten besonders bedeutsam. Die Modellsprecher/-schreiber implementieren, ohne das sprachliche Handeln anderer sanktioniert zu haben. Bei den Modellsprechern/-schreibern wird das ganze Management durchgeführt, der Prozess endet in ihrer realisierten Textproduktion. Wenn sie bestimmte Normabweichungen bemerken und negativ bewerten, können sie ihre eigenen Maßnahmen sofort in die Praxis umsetzen. Dabei ist nicht entscheidend, ob das Bemerken, das negative Bewerten oder gar die vorgeschlagenen Maßnahmen von außen inspiriert werden oder ob diese Phasen auf individuellen Werten und Fähigkeiten der Sprecher/Schreiber basieren. Diese soziale Gruppe könnte mit der Bevölkerungsmehrheit zusammenfallen, wenn die Qualität der Maßnahmen der Modellsprecher/-schreiber mit der der Bevölkerungsmehrheit identisch wäre. Die Modellhaftigkeit spricht allerdings dagegen. Hier kann man vermuten, dass die Modellsprecher/-schreiber teilweise andere Normabweichungen bemerken und sie auch anders als übliche Sprachbenutzer bewerten können. Das Sprachmanagement, das bei einzelnen Instanzen des Kräftefeldes unterschiedliche Phasen durchläuft, ermöglicht es, die soziale Relevanz der beteiligten Akteure unterschiedlich zu gewichten. 3. Datenerhebung zur Stellung der Normautoritäten im Kräftefeld die Interviews Die Untersuchung bestand aus zwei Phasen Interviews und Korrekturen vorgefertigter Tests. In der ersten (Mai Juni 2006) wurden insgesamt 10 halbstrukturierte Interviews durchgeführt, in denen die tschechischen Deutschlehrer (Gymnasiallehrer) nach der Art und Weise gefragt wurden, wie sie mit Normunsicherheiten umgehen. Interviewt wurden Frauen im Alter von 35 bis 60 Jahren, die meisten außerhalb Prags. Der Grund für diese Vorgehensweise bestand darin, dass das Aufnehmen der authentischen Interaktionen im unmittelbaren DaF- Unterricht von den Lehrern nicht bewilligt wurde. In den Interviews wurden diese Fragen gestellt: 1. An welche Grammatiken/Wörterbücher wenden Sie sich im Falle einer Normunsicherheit? 2. Argumentieren Sie in diesen Fällen mit Lehrbüchern? Was wird bevorzugt die Wörterbücher/Grammatiken oder die Lehrbücher? 3. Haben Sie eine Möglichkeit, sich an einen Germanisten zu wenden? Wenn ja nutzen Sie diese Möglichkeit aus? Wie müsste ein Problem 76

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät aussehen, dass Sie die Notwendigkeit empfinden würden, sich an einen Germanisten zu wenden? 4. Haben Sie eine Möglichkeit, sich an einen Muttersprachler zu wenden? Wenn ja nutzen Sie diese Möglichkeit aus? Differenzieren Sie, um was für einen Muttersprachler es sich handelt (Bildung, Beruf)? Wie müsste ein Problem aussehen, dass Sie die Notwendigkeit empfinden würden, sich an einen Muttersprachler zu wenden? 5. Verfolgen Sie die deutschsprachigen Medien und arbeiten Sie im Deutschunterricht mit Originaltexten (öffentlich-rechtliche Medien, überregionale Presse, Sachprosa, künstlerische Literatur)? Spielt der Sprachgebrauch in diesen Texten bei Ihrer Entscheidung in den Fällen einer Normunsicherheit eine Rolle? Welche? 6. Arbeiten Sie beim Lösen einer Normunsicherheit auch mit Materialien aus der Zeit Ihres Studiums (Vorlesungen, Seminare, Übungen)? 7. Kommentieren Sie in Ihrem Unterricht den Gebrauch von Varianten z. B. im Sinne das ist gesprochenes Deutsch, das ist geschriebenes Deutsch, dies wird im österreichischen Deutsch verwendet? 8. Welche Stellung nehmen Sie ein, wenn Sie auf eine Unstimmigkeit stoßen (unterschiedliche Informationen zwischen einem Lehrbuch und einem Wörterbuch / einer Grammatik oder älteren Studienmaterialien)? 3.1 Welches Kräftefeld scheint im tschechischen DaF-Unterricht relevant? In der ersten Phase der Untersuchung hat sich herausgestellt, dass die Normunsicherheiten in der gymnasialen Praxis des tschechischen DaF-Unterrichts primär mit Hilfe der Lehrbücher geklärt werden, nach denen dann in den zweisprachigen deutsch-tschechischen Wörterbüchern nachgeschlagen wird. Den Ungereimtheiten in den einzelnen Lehrbüchern wird keine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Grammatiken (einschließlich der kontrastiven) spielen kaum eine Rolle, was auch für die Berücksichtigung des Sprachgebrauchs in den Modelltexten gilt. Gar nicht werden die Germanisten als Sprachexperten angerufen. Dafür wenden sich die Lehrer praktisch immer, wenn eine solche Gelegenheit existiert, an die Muttersprachler. Der Differenzierung ihrer Bildung und ihres Berufs wird kein besonders hoher Wert beigelegt. In Konfliktfällen wird die Meinung des Muttersprachlers bevorzugt. Daraus kann geschlussfolgert werden, dass sie eine spezifische Normautorität sui generis darstellen und dass ihre Muttersprachler-Qualifikation in der Praxis der interviewten Deutschlehrer die entscheidende Rolle spielt. Andere Argumentationsmöglichkeiten gerieten in den Fällen der Normunsicherheit als weniger relevant in den Hintergrund oder wurden gar nicht wahrgenommen. 77

Vít Dovalil, Praha 4.0 Datenerhebung zur Analyse der Funktion von Normautorität Beschreibung des linguistischen Experiments Die zweite Phase der Untersuchung konzentrierte sich auf das Verhalten der Normautoritäten im Sinne ihrer Wirkung und ihres Einflusses auf die Normsubjekte (Schüler). Da nicht alle abwechslungsreichen Facetten ihrer Wirkung in der Praxis untersucht werden konnten, stellte die Analyse nur eine der Tätigkeiten in den Vordergrund, die den Lehrern typischerweise zugeschrieben werden die Korrekturen schriftlicher Tests. Die Praxis des eigentlichen Unterrichts, die eine andere authentische Datenquelle für die Analyse des Verhaltens der Normautoritäten dargestellt hätte, konnte nicht ermittelt werden, denn die Lehrer haben nicht in die Aufnahmen eingewilligt. Als Methode wurde deshalb das linguistische Experiment gewählt, durch das das Verhalten der Normautoritäten ausgelöst (und geregelt) werden konnte. Ihre Aufmerksamkeit wurde auf potenzielle Normunsicherheiten in ungefähr 20 morphologischen, syntaktischen und lexikalischen Variablen gerichtet, von denen im Folgenden drei Vertreter präsentiert werden: Deklination der Attribute nach beid-, Reihenfolge von beide in Verbindung mit einem Possessivum (meine beiden Schwestern vs. *beide meine Schwestern) und Graduierung ausgewählter Adjektive/Adverbien mit und ohne Umlaut. Die Vorbereitung und die vorgefertigten Tests befolgten die Strategie, dass die einzelnen Variablen womöglich in verschiedenen Übungen gestreut werden sollten, um nicht sofort aufzufallen. Der Zweck dieser Strategie bestand darin, die erste Phase des Managements (noting) von Seiten der Lehrer nicht ungetestet zu übergehen. Diese Vorgehensweise ermöglichte es auf der anderen Seite nicht, die eigentliche Implementation zu analysieren, weil das in Folge des Sprachmanagements veränderte sprachliche Handeln der Schüler nicht untersucht werden konnte. Als Grundlage für das Experiment dienten die von der Arbeitsgruppe vorbereiteten, ausgedruckten und in drei unterschiedlichen Versionen vorausgefüllten Tests, die im Oktober 2007 an ungefähr 300 Lehrer in ganz Tschechien verschickt wurden. Die ungleich vorausgefüllten Versionen der Tests sollten unterschiedliche Niveaus der Deutschkenntnisse der tschechischen Schüler widerspiegeln. Den Lehrern wurde in einem Begleitbrief die Anonymität garantiert, wobei an jede Mittelschule jeweils mehrere vorgefertigte Tests in einem Briefumschlag geschickt wurden. Die Rücklaufquote belief sich auf 62 Tests. 15 Ursprünglich hatte die Untersuchung beabsichtigt, in diesem Experiment alle Typen tschechi- 15 Bezüglich der Respondenten selbst wurden schließlich gar keine Daten erhoben; in den früheren Gesprächen hatte sich nämlich deutlich herausgestellt, dass die Bereitschaft der Respondenten, an der Untersuchung teilzunehmen, noch geringer hätte ausfallen können, wenn nach ihrem Alter, Geschlecht oder nach der Bildung und Berufspraxis gefragt worden wäre. 78

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät scher Mittelschulen abzudecken und die Ergebnisse dementsprechend systematisch zu berücksichtigen. In Folge der niedrigen Rücklaufquote wurde jedoch mit dieser Information nicht weiter gearbeitet. 4.0.1 Die Variable Deklination der nach beid- stehenden Attribute erschien in den Tests in zwei Übungen: a) in der Übung 4 mit der Aufgabe Ergänzen Sie die Substantive/Pronomen in dem richtigen Kasus: Anlässlich... wurde das neue Museum feierlich eröffnet. (beide bedeutende Jubiläen) b) und in der Übung 6, deren Aufgabe lautete Ergänzen Sie in der richtigen Form! Die Hallen (beide, groβ)... Bahnhöfe sind modern. In den beiden Beispielen handelt es sich um die Form der entsprechenden Adjektive im Genitiv Plural. Im ersten Fall wurde das Artikelwort beide in die Übung eingefügt, in der primär die Rektion nach einzelnen Präpositionen geprüft wurde. In der Übung 6 richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Deklination der nach Indefinitpronomina stehenden Adjektive, wo neben beide noch manche, mehrere, viele, alle und andere stehen. Es ist auf den ersten Blick nicht zu sehen, dass sich die Aufmerksamkeit der Fragestellung auf beide konzentrierte. Als Lösungen der Schüler wurden den Lehrern in den vorgefertigten Tests folgende Möglichkeiten angeboten: Übung 4: anlässlich beider bedeutenden Jubiläen anlässlich beider bedeutender Jubiläen Übung 6: die Hallen beider groβen Bahnhöfe die Hallen beider groβer Bahnhöfe 4.0.2 Die Variable Reihenfolge von Possessivpronomen + beid- wurde in der sechsten Aufgabe folgendermaßen getestet: Ergänzen Sie in der richtigen Form! Die Röcke (beide, mein)... Schwestern waren zu kurz. 79

Vít Dovalil, Praha Wieder liegt zwar ein Genitiv Plural vor, diesmal steht allerdings beide nicht in Verbindung mit einem Adjektiv, sondern mit einem Possessivpronomen *beide, mein. Laut Grammatiken herrscht ein klarer Konsensus darüber, dass standardsprachlich korrekt die Reihenfolge Possessivpronomen + beid- ist. Als die zu korrigierenden Varianten wurden den Lehrern in den Tests folgende Konstellationen angeboten: 16 *die Röcke beider meiner Schwestern *die Röcke beider meinen Schwestern *die Röcke beider meine Schwestern 4.0.3 Die Variable Graduierung mit/ohne Umlaut wurde in Form einer Übersetzung aus dem Tschechischen ins Deutsche in der dritten Aufgabe getestet: Übersetzen Sie: Miss vyhrála jako vždy ta nejvyšší a nejštíhlejší... Jste mokřejší, protože jste stáli celou dobu jen pod stromem... Bydlí tu už od 50. let, i když okolí není právě nejzdravější... Nejchladněji bývá venku brzy ráno. Kup ta nejčervenější rajčata, aby ten guláš vypadal hezky. A nezapomeň na brambory! In den einzelnen vorgefertigten Tests variierten diese von den Lehrern zu beurteilenden Formen: größte, schlänkste/schlankste, nasser/nässer, gesundeste, kältesten/kaltesten und rotesten/rötesten. 4.1 Zum Stand der Kodifizierung 4.1.1 Deklination nach beid- Die meisten Grammatiken sind sich darin einig, dass nach beid- das Attribut in allen Kasus überwiegend wie nach bestimmtem Artikel (schwach) dekliniert 16 In keinem der vorgefertigten Tests wurde die adäquate Reihenfolge konstruiert, um eine Situation zu testen, in der das Management möglichst vollständig von den Lehrern selbst durchgeführt werden konnte, einschließlich der verhältnismäßig komplizierten Noting-Phase. 80

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät wird (Duden 1998: 288; Helbig/Buscha 2001: 277; Erben 1972: 174; Jung 1980: 298, Sommerfeldt/Starke 1998: 131): beide bisherigen Amtsinhaber, beider deutschen Diplomaten. Die Duden-Grammatik (1998: 286) und Helbig/Buscha (2001: 277) fügen Kommentare hinzu, dass die Deklination wie nach Nullartikel, d. h. gleiche Endungen, als veraltend nach Helbig/Buscha als veraltet gilt. Die parallelen Endungen findet man meistens in den Textsorten der künstlerischen Literatur (vgl. Erben 1972: 174): beide frühreife Knaben (Hesse); beide mögliche Formen (Behaghel); beide geschlossene Augen (Hesse); beider sozialistischer Parteien (H. Mann). Daneben steht in Engel (1991: 573) eine relativierende Bemerkung: Falls beide kein definiter Artikel vorausgeht und die Form im Genitiv Plural steht, kann man häufiger neben den schwachen Formen auch die starken finden: die Vorteile beider bisherigen Schulen, aber auch: die Vorteile beider bisheriger Schulen. 4.1.2 Graduierung der Adjektive/Adverbien groß, schlank, nass, gesund, kalt, rot Das Adjektiv groß ist ein einsilbiges Adjektiv, das immer mit Umlaut graduiert wird (Helbig/Buscha 2001: 279,; Duden 2005: 373). Schlank ist ein einsilbiges Adjektiv, dessen graduierte Formen immer ohne Umlaut gebildet werden (ebenda). Der obligatorische Umlaut gilt auch für kalt. Nass und rot gehören zu denjenigen einsilbigen Adjektiven, die mit und ohne Umlaut graduiert werden können (Helbig/Buscha 2001: 279; Duden 2005: 373), die nicht umgelautete Variante von rot sei nach der letztgenannten Grammatik selten. Nach Augst (1971: 424-431) werden die Formen ohne Umlaut bevorzugt. Gesund ist zweisilbig, seine Komparative und Superlative werden meistens mit Umlaut gebildet, die nicht umgelauteten Formen seien doch standardsprachlich korrekt (Helbig/Buscha 2001: 279; Duden 2005: 373). 4.2 Vorkommen der untersuchten Formen in den überregionalen Modelltexten (IDS-Korpora geschriebener Sprache) Einleitend sei an dieser Stelle vorausgeschickt, dass die Variable Reihenfolge von Possessivpronomen + beid- in den Modelltexten nicht untersucht wurde. Für dieses Segment des Kräftefeldes sind nur die Daten über die Deklination der Attribute nach beid- und die Graduierung von gesund mit/ohne Umlaut präsentiert. 4.2.1 Die Deklination der Attribute nach beid- Die empirische Grundlage dieses Teils der Forschung stellten überregionale Zeitungen (teilweise auch Fachzeitschriften) dar, die in den Korpora geschriebe- 81

Vít Dovalil, Praha ner Sprache des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim online zur Verfügung standen. Dabei wurde mit dem Programm COSMAS II, Version 3.4.1.4 gearbeitet. Letzter Zugriff erfolgte am 28. September 2004. Im Mittelpunkt standen die Textsorten Bericht und Kommentar. Nach der Datenauswertung kann der Schluss gezogen werden, dass die Kodifizierung grundsätzlich adäquat ist. Eine Ausnahme ist gerade die Deklination der Attribute im Genitiv Plural. Steht das attribuierte Adjektiv oder Partizip nach beide im Genitiv Plural, wird das Attribut in 67% der Fälle (174 von 261) stark dekliniert. 17 4.2.2 Die Graduierung des Adjektivs/Adverbs gesund Im IDS-Korpus wurden im Sommersemester 2005 insgesamt 1273 Belege gefunden. Die umgelauteten Formen herrschten im Verhältnis 1247:26 vor (im Komparativ 853:19, im Superlativ 394:7). Auch hier standen im Mittelpunkt die Textsorten Bericht und Kommentar. Weder der Kasus oder Numerus oder Genus, noch die Stellung nach dem Artikel, weder die Stellung im Satz, noch eine konkrete Kollokation entschieden darüber, ob mit oder ohne Umlaut graduiert werden sollte. Beide Varianten waren sowohl in der überregionalen, als auch in der regionalen Presse zu finden. 4.3 Praxis der Normautoritäten beim Korrigieren der Tests 4.3.1 Deklination der Attribute nach beid- 87 % der Lehrer akzeptierten nur eine Variante, 91 % von diesen verlangten die schwache Deklination. Nur zwei von 62 Lehrern akzeptierten beide Varianten. Vier Lehrer haben einmal (in einem Test) die schwache, einmal (derselbe Lehrer in einem anderen Test) die starke Deklination akzeptiert. Ein Lehrer akzeptierte in demselben Test zuerst beide Varianten (beider groβen Bahnhöfe und beider groβer Bahnhöfe), dann lehnte er die starke Deklination ab (nur beider bedeutenden Jubiläen wurde von ihm akzeptiert). 17 Bei der starken Deklination erschien beider in 60 % der Fälle (106 von 174) in der syntaktischen Verbindung "beider deutscher Staaten", die man für die Verbindung mit der höchsten Vorkommenshäufigkeit des Artikelwortes beider halten kann. Dieses Syntagma könnte zeitlich vor allem an den Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gebunden sein, weil es fast immer im Diskurs über die Existenz beider deutscher Staaten und ihre spätere Wiedervereinigung vorkommt. 82

Zum Prozess der Gestaltung der Standardvarietät 4.3.2 Reihenfolge von Possessivpronomen und beid- Von den 61 Lehrern, die sich mit der Reihenfolge beschäftigten, akzeptierten 23 Lehrer die Variante beider meiner, 22 Lehrer die Variante beider meinen, ein Lehrer akzeptierte sogar beides, beider meiner und beider meinen. 18 Fünf Lehrer haben alle drei Varianten abgelehnt, ohne eine richtige vorzuschlagen, und andere fünf Lehrer haben den Fehler (*beide, mein) schon in der Testaufgabe oder in der Lösung bemerkt, negativ bewertet, kommentiert und korrigiert. Die Variante beider meine wurde von ihnen abgelehnt. Dies heißt, dass kaum jeder zehnte Lehrer den Schülern wohl die kodifizierte Variante beigebracht hätte, wohingegen wahrscheinlich mehr als 90 % der Lehrer den Schülern eine der so aufgefassten Norm des Deutschen nicht entsprechende Variante als korrekt vermittelt hätten. Bei einem Lehrer war eine große Unsicherheit zu vermuten. Obwohl der Lehrer zuerst die Variante *beider meinen als korrekt bezeichnete und positiv bewertete (zwei Pluspunkte), hat er dann seine eigene Bewertung gestrichen und dieselbe Variante negativ bewertet (Nullpunkte). Man kann nur vermuten, was vorausgegangen war (Frage an einen Muttersprachler, Nachschlagen in einer Grammatik?). Auf jeden Fall lag eine offensichtliche Unsicherheit vor. Einige Lehrer haben zu ihrer Bewertung Kommentare hinzugefügt, was für die auf der Sprachmanagementtheorie beruhende Analyse besonders wertvoll ist. Einer von ihnen hat beide erst nach dem Possessivpronomen hinzugeschrieben, ein anderer hat *beider meinen auf *beider meiner korrigiert und die Korrektur mit folgenden Worten kommentiert: Ich halte es aber nicht für einen Fehler (weil es sich um eine zu schwierige Frage handelt). Ein Lehrer hat *beider meiner als veraltet gekennzeichnet. Der Ablauf des Sprachmanagement-Prozesses könnte bei diesen zwei Variablen an einigen konkreten Beispielen demonstriert werden. Nicht immer wurde die Normabweichung von den Lehrern bemerkt (Bsp. 1), in den meisten Fällen verlief das Sprachmanagement als bemerkt bewertet negativ, in einigen Fällen mit einer Maßnahme (Korrektur) (Bsp. 4). Im 2. Beispiel ist die Interpretation schwieriger. Der Lehrer ist mit der Deklination nicht zufrieden, deswegen hat er sie angestrichen. Er hat jedoch keinen Minuspunkt erteilt. Es bleibt offen, ob dieser Eingriff als nicht bewertet oder bewertet (negativ) zu deuten ist. Die Lehrer scheinen jedoch ihre negative Einstellung schon mit dem Anstreichen angedeutet zu haben. 18 Ein Lehrer ließ die Erscheinung unbeachtet, zwei Lehrer haben sich zwar mit der Stellung von mein und beide beschäftigt, aber nicht mit der Deklination. 83