AG Strafrecht I - SS 2008 - Dr. Angie Genenger Das fahrlässige Begehungsdelikt Aufbau Vorprüfung: Handlungsqualität Übersicht 8. Juli 2008 I. Tatbestand 1. Tatbestandsmäßigkeit Eintritt und Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (= objektive Sorgfaltspflichtverletzung) bei objektiver Vorhersehbarkeit des tatbestandsmäßigen Erfolges (ggf. erhöhter Grad der Fahrlässigkeit, Leichtfertigkeit) objektive Zurechnung des Erfolges ( durch Fahrlässigkeit) 2. objektive Bedingung der Strafbarkeit II. Rechtswidrigkeit III. Schuld Besonderheiten bei Fahrlässigkeitsdelikten (v.a. gegenüber Vorsatzdelikten) Strafbarkeit nur dann, wenn ausdrücklich gesetzlich bestimmt ( 15 StGB) weder Versuch noch Teilnahme (nur Nebentäterschaft) möglich keine Unterscheidung zwischen objektivem und subjektivem Tatbestand Unbewusste und bewusste Fahrlässigkeit, Leichtfertigkeit Die unbewusste Fahrlässigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass der Täter bei seinem Verhalten die gebotene Sorgfalt außer Acht lässt und dadurch den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, ohne dies zu erkennen. Bei der bewussten Fahrlässigkeit hält der Täter es demgegenüber für möglich, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht. Er vertraut jedoch pflichtwidrig darauf, dass er den Tatbestand nicht verwirklichen werde. Bei der Leichtfertigkeit handelt es sich um eine erhöhte Form der Fahrlässigkeit. Der Täter muss also die gebotene Sorgfalt in besonders hohem Maße verletzen. Erfolgreiche Fallbearbeitung Die Frage, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorliegt, prüfen Sie bei entsprechenden Anhaltspunkten im Sachverhalt im jeweils in Betracht kommenden Vorsatzdelikt. Gelangen Sie beim Vorsatzdelikt im subjektiven Tatbestand zu der Ansicht, dass nur Fahrlässigkeit, kein Vorsatz vorliegt, geht s mit der Prüfung des Fahrlässigkeitsdelikts weiter. Dabei müssen Sie zwingend nur eine Unterscheidung zwischen Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit (sofern vom gesetzlichen Tatbestand vorausgesetzt) treffen, nicht jedoch zwischen unbewusster und bewusster Fahrlässigkeit. Objektive Sorgfaltspflichtverletzung Zu prüfen ist, ob der tatbestandliche Erfolg objektiv voraussehbar war und ob der Täter insoweit die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht gelassen hat. Objektive Vorhersehbarkeit Was würde ein umsichtiger Dritter aus dem Verkehrskreis des Täters unter den jeweiligen Umständen aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung in Rechnung stellen? 1
Art und Maß der anzuwendenden Sorgfalt Welche Anforderungen sind bei ex-ante-betrachtung der Lage an einen besonnenen und gewissenhaften Dritten in der konkreten Lage und sozialen Rolle des Täters zu stellen? Berücksichtigung von Sonderwissen (ggf. von Sonderkönnen) Vertrauensgrundsatz Spezielle Rechtsvorschriften und allgemeine Erfahrungsgrundsätze Objektive Zurechnung ( durch Fahrlässigkeit ) insbesondere: Schutzzweckzusammenhang Eigenverantwortlichkeit Pflichtwidrigkeitszusammenhang Fahrlässigkeitsdelikte in der Fallbearbeitung Fall 1: Sachverhalt Lkw-Fahrer T will Radfahrer O überholen. Dabei hält T den vorgeschriebenen Mindestabstand nicht ein. Der angetrunkene O zieht sein Rad infolge einer Kurzschlussreaktion nach links, wird vom Lkw erfasst und trägt einen Beinbruch davon. Möglicherweise hätte sich der Unfall infolge der Trunkenheit des O auch dann ereignet, wenn T den vorgeschriebenen Abstand eingehalten hätte. Lösung T könnte sich wegen fahrlässiger Körperverletzung nach 229 StGB strafbar gemacht haben, als er den O mit seinem Lkw erfasste und verletzte. 1. Tatbestand Handlung des T (+), er erfasst O mit seinem Lkw Eintritt des tatbestandlichen Erfolges (+), O ist körperlich misshandelt Kausalität (+), die Handlung des T kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass die körperliche Misshandlung des O entfällt Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bei objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges grds. (+), die Missachtung des vorgeschriebenen Überholabstandes stellt eine Sorgfaltswidrigkeit dar Zweifel an der Verwirklichung von 229 StGB könnten sich daraus ergeben, dass die körperlichen Misshandlung des O möglicherweise auch dann eingetreten wäre, wenn T sich sorgfaltsgerecht verhalten hätte Eintritt des Erfolges durch Fahrlässigkeit? Pflichtwidrigkeitszusammenhang/rechtmäßiges Alternativverhalten Zwischen dem sorgfaltswidrigen (pflichtwidrigen) Verhalten des Täters und dem Eintritt des Taterfolges müsse ein Pflichtwidrigkeitszusammenhang dergestalt bestehen, dass sich im Taterfolg gerade die Pflichtwidrigkeit des Verhaltens des Täters realisiert habe. Dieser Zusammenhang sei zu verneinen, wenn der Erfolg objektiv unvermeidbar gewesen sei. Es sei also das pflichtwidrige Verhalten durch das (gedachte) pflichtgerechte Verhalten zu ersetzen und zu fragen, ob der Erfolg auch bei letzterem Verhalten eingetreten wäre. Sei diese Frage mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu bejahen, so bestehe kein Pflichtwidrigkeitszusammenhang. Gleiches gelte, wenn (wie in unserem Fall) sich die Frage nicht (praktisch) sicher beantworten ließe, sondern sowohl der Eintritt des Erfolges als auch dessen Ausbleiben möglich erscheine. 2
Fallbezug: Der Erfolg ist nicht durch Fahrlässigkeit entstanden. Argument: Grundsatz in dubio pro reo Risikoerhöhungslehre Die bloße (in unserem Fall gegebene) hypothetische Möglichkeit des Ausbleibens des Erfolges bei pflichtgemäßem Verhalten genüge zur Bejahung des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs. Fallbezug: Der Erfolg ist durch Fahrlässigkeit entstanden. Argument: Wer das erlaubte Risiko überschreite, der schaffe ein insgesamt rechtlich missbilligtes Risiko, das sich im Erfolg verwirkliche. Eine Trennung nach erlaubten und unerlaubten Anteilen verbiete sich (Untrennbarkeitsthese). Zudem lasse sich über den hypothetischen Geschehensablauf vielfach (so auch in unserem Falle) nichts sagen. Je nachdem, für welche der Ansichten Sie sich entscheiden, steigen Sie entweder im Rahmen des Tatbestandes aus der Fallprüfung aus und verneinen die Strafbarkeit des T nach 229 StGB (erste Ansicht) oder Sie prüfen Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld weiter (zweite Ansicht). Fall 2: Sachverhalt T fährt in seinem Pkw mit überhöhter Geschwindigkeit. Kind O springt auf die Straße, wird von T überfahren und stirbt. Ob T bei Einhaltung der vorgeschriebenen Geschwindigkeit die Möglichkeit gehabt hätte, auszuweichen bzw. erfolgreich zu bremsen, lässt sich im Verfahren nicht feststellen. Lösung T könnte sich wegen fahrlässiger Tötung nach 222 StGB strafbar gemacht haben, als er O mit seinem Pkw überfuhr und tötete. 1. Tatbestand Handlung des T (+), er erfasst O mit seinem Pkw Eintritt des tatbestandlichen Erfolges (+), O ist tot Kausalität (+), die Handlung des T kann nicht hinweggedacht werden, ohne dass der Tod von O entfällt Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt bei objektiver Voraussehbarkeit des tatbestandlichen Erfolges grds. (+), die Missachtung des vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit stellt eine Sorgfaltswidrigkeit dar Im Gegensatz zum oben angeführten Radfahrer-Fall ist hier bereits unklar, ob die Geschwindigkeitsüberschreitung (pflichtwidriges Verhalten) die Todesgefahr überhaupt beeinflusst hat. Eintritt des Erfolges durch Fahrlässigkeit? Pflichtwidrigkeitszusammenhang/rechtmäßiges Alternativverhalten Der Erfolg ist nicht durch Fahrlässigkeit entstanden. Risikoerhöhungslehre (innerhalb der Risikoerhöhungslehre) Sofern die Möglichkeit des Ausbleibens des Erfolges nicht nur ein hypothetischer (Radfahrerfall), sondern ein prinzipiell feststellbarer Umstand sei, greife der Grundsatz in dubio pro reo ein. Fallbezug: Der Erfolg ist nicht durch Fahrlässigkeit entstanden. 3
Argument: Die Bejahung des Zusammenhangs von Täterverhalten und Erfolg durch Wahrscheinlichkeits-/Möglichkeitsgesetze sei nur dann zulässig, wenn es um hypothetische menschliche Entscheidungen (Radfahrerfall, O schwankt in Richtung des Lkw), nicht jedoch, wenn es um naturwissenschaftlich determinierte Prozesse (unser Fall, Bremsweg ist ausreichend oder nicht) gehe. (innerhalb der Risikoerhöhungslehre) Die bloße Möglichkeit einer Risikoerhöhung sei Grund genug, auf der Einhaltung der Sorgfaltspflicht zu bestehen. Fallbezug: Der Erfolg ist durch Fahrlässigkeit entstanden. Hier empfiehlt es sich, den Ansichten zu Folgen, die den Zusammenhang zwischen Täterverhalten und Erfolg verneinen. Der Erfolg ist also nicht durch Fahrlässigkeit eingetreten. 2. Ergebnis T hat sich nicht nach 222 StGB strafbar gemacht. Das vorsätzliche unechte Unterlassungsdelikt Wer es unterlässt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört, ist nach diesem Gesetz nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, dass der Erfolg nicht eintritt, und wenn das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht. ( 13 StGB) Aufbau Vorprüfung: Abgrenzung Tun/Unterlassen Handlungsqualität des Unterlassens I. Tatbestand 1. objektiver Tatbestand Eintritt des Erfolges Unterlassen der Erfolgsabwendung trotz physisch-realer Möglichkeit der Erfolgsabwendung Kausalität zwischen Unterlassen und Erfolg objektive Zurechnung des Erfolges Garantenstellung und -pflicht Gleichwertigkeit i.s.d. 13 StGB (bei verhaltensbezogenen Delikten) 2. subjektiver Tatbestand der Vorsatz muss sich insbesondere auch auf die Garantenstellung beziehen 3. objektive Bedingung der Strafbarkeit II. Rechtswidrigkeit insbesondere: rechtfertigende Pflichtenkollision III. Schuld insbesondere: Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens Irrtum über die Garantenpflicht (Verbotsirrtum, 17 StGB) 4
Unterscheidung unechte/echte Unterlassungsdelikte unechte : Delikte, deren tatbestandsmäßiges Verhalten Handeln wie Unterlassen sein kann. echte: Tatbestände nennen als tatbestandsmäßiges Verhalten explizit ein Unterlassen. Abgrenzung Tun/Unterlassung Problem: Mehrdeutige Verhaltensweisen, die sowohl Elemente des Tuns als auch Unterlassens enthalten. Abzustellen ist auf den Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten Verhaltens, unter Berücksichtigung der Kriterien des äußeren Erscheinungsbildes des Verhaltens, des Energieeinsatzes und der Kausalität. Beispiele (Tun oder Unterlassen?) Patient P wird nach einem schweren Unfall ins Krankenhaus angeliefert. Im OP setzt sein Herzschlag aus. Arzt A beginnt mit der Herzmassage. Nach einiger Zeit sieht er keine Hoffnung mehr für P und bricht die Herzmassage ab. P stirbt. Unterlassen Gleicher Sachverhalt, doch P wird an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. a) Arzt A stellt die Maschine ab, weil er keine Rettung für P mehr sieht. Unterlassen, da die Maschine als verlängerter Arm des Arztes betrachtet wird, es nämlich keinen Unterschied machen könne, ob der Arzt eine Herzmassage beendet oder die Herz-Lungen-Maschine abschaltet. b) Der Dritte D stellt die Maschine ab, weil er keine Rettung für P mehr sieht. Tun, da sich das Verhalten des Dritten im aktiven Tun erschöpft. T will nach einem Kinobesuch mit seinem Motorrad nach Hause fahren. Das Licht am Motorrad schaltet er nicht an und fährt los. Einige Straßen weiter fährt er aufgrund mangelnder Sicht den O an. Tun, da Schwerpunkt des Verhaltens nicht das Nichtanschalten des Lichts (= Unterlassen), sondern das Fahren ohne Licht ist (= Tun). A ist im Freibad. Als er am Schwimmbecken vorbeigeht, hört er die Hilfeschreie des B, der aufgrund eines Wadenkrampfes unterzugehen droht. a) A geht weiter. Unterlassen, da die Rettungshandlung noch gar nicht eingeleitet worden ist. b) A sieht einen Rettungsring am Beckenrand, nimmt ihn, um ihn in Richtung des B zu werfen, überlegt es sich dann aber doch anders und geht weiter. Unterlassen, da die Rettungshandlung den zu Rettenden noch nicht erreicht hat. c) A wirft den Rettungsring in Richtung des B, der ihn fängt und sich daran festhält. Nun überlegt es sich A anders und zieht mit dem Seil, das mit dem Rettungsring verbunden ist, diesen wieder aus den Händen des B. Tun, da die Rettungshandlung den zu Rettenden schon erreicht hat. 5
Garantenstellung (= gesetzliche Einstandspflicht) Funktion Herleitung Beschützer-/Obhutsgaranten Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass einem bestimmten Rechtsgut keine Gefahren drohen Rechtsgut a) besondere Rechtssätze oder enge natürliche Verbundenheit b) Lebens- oder Gefahrgemeinschaft c) Freiwillige Übernahme von Schutz- und Beistandspflichten d) Stellung als Amtsträger oder Organ juristischer Personen Überwachungsgaranten Pflicht, dafür Sorge zu tragen, dass von einem bestimmten Rechtsgut keine Gefahren ausgehen Rechtsgut Verkehrssicherungspflichten Pflicht zur Beaufsichtigung Dritter Pflichtwidriges gefährdendes Vorverhalten (Ingerenz) Inverkehrbringen von Produkten Besonderheit der rechtfertigenden Pflichtenkollision (Rechtswidrigkeit) Beispiel Vater V kann aus dem brennenden Haus nur den Sohn S oder die Tochter T retten. Er entscheidet sich für die Tochter. Strafbarkeit des V aus 212 I, 13 StGB bzgl. des S? 1. Tatbestand a) objektiv (+) b) subjektiv (+) 2. Rechtswidrigkeit a) 32 StGB (-), kein Angriff b) 34 StGB (-), kein überwiegendes Interesse (Leben T gegen Leben S) c) Rechtfertigende Pflichtenkollision (+), wenn es unmöglich ist, zwei gleichwertige Rechtsgüter (T und S) zu retten, erlaubt es die Rechtsordnung, sich für eines der beiden gleichwertigen Rechtsgüter zu entscheiden einziger Rechtfertigungsgrund, der nicht auf dem Prinzip des überwiegenden Interesses beruht Voraussetzung nach h.m.: Gleichwertigkeit der bedrohten Rechtsgüter Erfolgreiche Fallbearbeitung Kommt bei einem Verhalten sowohl ein Handlungs- als auch ein Unterlassungsdelikt in Betracht, müssen Sie eine mögliche Strafbarkeit aus dem Handlungsdelikt zuerst prüfen und erst bei Verneinung zum Unterlassungsdelikt übergehen. Ist eine Strafbarkeit nach dem Handlungsdelikt gegeben, müssen Sie bezüglich desselben Verhaltens und Tatbestandes kein Unterlassungsdelikt mehr prüfen. Kommen mehrere Garantenstellungen in Betracht, müssen Sie alle prüfen. 6