Komplexe Wörter in der Spontansprache Morphologie und phonetische Realisierung von Zweitgliedern. Pia Bergmann P&P 9, 11. Oktober 2013, Zürich

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Komplexe Wörter in der Spontansprache Morphologie und phonetische Realisierung von Zweitgliedern Pia Bergmann P&P 9, 11. Oktober 2013, Zürich

Gliederung Hintergrund - Morphologisch komplexe Wörter - Smooth signal redundancy hypothesis Datenüberblick und Hypothesen Ergebnisse Zusammenfassung und Diskussion 2

Morphologie-Phonologie-Interface Interface means that different kinds of information can see each other. (Booij 2012:156) Beispiele - Verschiebung des Wortakzents bei bestimmten Suffixen +anz Akzeptanz vs. +er Gewerkschafter +ei Mogelei +ung Prüfung - Pluralbildung: Stammallomorphie durch Auslautverhärtung [hunt][hun.d+e] [valt] [väl.d+er] 3

Das phonologische Wort keine direkte Verbindung zwischen Morphologie und Phonologie, sondern vermittelt durch prosodische Konstituenten (z.b. Booij 1985, Nespor& Vogel 1986 /2007, Hall 1999, Raffelsiefen 1999, Wiese 2000) Silbifizierung täg.+lich, schad.+los kin.d+isch, far.b+ig, Gewerkschaf.t+er Ur.+oma, Un.+art, Ver.+antwor.t+ung Zahn.+arzt, Stand.+uhr Phonologische Prozesse [Uŋgarn] w [un] w [gern] w oder[uŋ] w [gern] w [Schrift] w [tum] w, [glaub] w [bar] w [tantst] w von /tants/ + /st/ (2. Ps. Sg.) C-Suffixe = pwort V-Suffixe kein pwort (nach Wiese 2000) Phonetische Evidenz Auslautverhärtung Grenzmarkierungsmittel 4

Phonetische Realisierung phonetische Realität komplexer als angenommen, z.b. - relevante Grenzmarkierungsmittel Koartikulation, Clusterdauer bei +lichvs. +ig(lieblich/neblig) (Auer 2002) - morphologische und prosodische Struktur pre-boundarylengthening: Reimdauer bei - taxvs. tack+s, baconvs. bak+ingund - attend+ance vs. attend+ing, phras+al vs. phras+ing (Sugahara& Turk 2009) - weitere Einflussfaktoren Frequenz (z.b. relative Frequenz softly/softvs. swiftly/swift, Hay 2003) informativeness(z.b. in +igheid, Pluymaekers et al. 2012) Semantik? (z.b. Transparenz, semantic bleaching, Booij 1999) 5

Smooth signalredundancyhypothesis (Turk 2010) Einflussfaktoren predictability Hervorhebung Phonetische Variation Grenzmarkierungsstärke Akzentuierung (Turk 2010:229) 6

Korpusstudiezur Spontansprache Ziele - deskriptiv: Beschreibung der Variation / der akustischen Reduktion - Einbeziehung verschiedener Einflussfaktoren Gegenstand - Zweitglieder: Komposita Suffixoide Suffixe Korpora - CallHome, DFG-Dialektintonation, BigBrother(Staffel 1) 7

Korpusstudiezur Spontansprache Abhängige Variablen - Dauern (Reim, C2, grenzübergreifende Sequenz) - Koartikulation Methode - akustisch-phonetische Analyse in Praat, manuell segmentiert - auditive Analyse (Koartikulation) 8

Datenüberblick Kategorie Zweitglied Beispiel pwort Zweitglieder in Komposita (n=211) Suffixoide (n=203) C-Suffixe (n=210) V-Suffixe (n=174) +li Nordlicht 2 pwörter +lo Schichtlohn +lä/la Ausländer +los endlos 2 pwörter +lich stündlich 2 pwörter +ling Flüchtling +lein Stündlein +ler Künstler l+er Händler 1 pwort l+ig schwindlig l+isch englisch (stünd) w (lich) w - (schwind.l+ig) w 2 pwörter - 1 pwort 9

Beispiel 10

Hypothesen Abhängige Variablen jeweils - Dauern (Reim, C2, grenzübergreifendes Cluster) - Koartikulation Hypothese pwort - 2 pwörter> 1 pwort Hypothese Wortbildungstyp - Zweitglieder > Suffixoide > Suffixe_l#, Suffixe_#l Hypothese Semantik (1) lex. vs. gramm. Bedeutung / Ausbleichung - lex(teile der EG und Suffixoide) > gramm(alle Suffixe und Teile der EG und Suffixoide) (2) Transparenz - transparent > intransparent 11

Hypothesen Hypothese Frequenz (1) absolut - LF > HF (2) relativ - Simplex häufiger > komplexes Wort häufiger weitere Einflussfaktoren: - Satzakzent - IP-Position - Segmentkontext - Phonotaktik - Silbenzahl - Sprechgeschwindigkeit - Region - Sprecher 12

Ergebnisse für Subset: Reim ges. VC VVC VCC VVCC VCCC Zweitglied 60 92 22 8 6 188 Suffixoid 35 23 32 75 2 167 Suffix_l# 68 37 37 0 1 143 Suffix_#l 63 15 100 6 29 213 ges. 226 167 191 89 38 711 - ausgeschlossen: VVCCC, V, VV - Koartikulation nicht abhängig von Reimstruktur - Dauer C2 nicht abhängig von Reimstruktur - Dauern C1 und C1+C2 variieren signifikant mit Reimstruktur homogene Untergruppen jeweils VC, VVC, VVCC vs. VCC, VCCC 13

Ergebnisse: pwort C2 signifikant kürzer, wenn ein pwort, d.h. Nordlicht, endlos, stündlich, Künstler > Händler, schwindlig, englisch andere Dauern n.s. Koartikulation n.s. 14

Ergebnisse: Wortbildung Koartikulation variiert signifikant (χ 2 = 8,803; df = 3; p < 0,05) Zweitglieder Suffix_#l contra pwort Affix: #ler 15

Ergebnisse: Wortbildung C2 signifikant kürzer in Suffix_l#, Suffix_#l als in Suffixoiden und Zweitgliedern C1 und C1_C2 signifikant kürzer in Suffix_#l als in Suffix_l#, Suffixoiden, Zweitgliedern 16

Ergebnisse: Frequenz Trend: höchstfrequente mehr Koartikulation als niederfrequente (χ 2 = 8,803; df = 3; p = 0,092) C2 signifikant kürzer in Höchstfrequenten*** (C1 n.s., C1_C2*) 17

Zusammenfassung Koartikulation Dauern H pwort n.s. C2 *** C1 n.s. C1_C2 n.s. H Wortbildung * Zweitglieder < Suffixoide, Suffixe_l# < Suffixe_#l H Frequenz Trend (p = 0,092) HF > LF C2 *** (Suffixe vs. S.oide, ZG) C1 *** (Suffix_#l vs. andere) C1_C2 *** (Suffix_#l vs. andere) C2 *** C1 n.s. C1_C2 * 18

Diskussion in Hinblick auf die untersuchten Variablen - wenig Evidenz für pwortin der Unterteilung in C-Suffixe und V- Suffixe allerdings: -lerals C-Suffix (contra Minimalitätsanforderungen an pwörter; sonst nur bei -chen) - Suffixe vs. Zweitglieder und Suffixoid ( -los) Wortakzent, Fußstruktur - abs. Wortfrequenz führt zu mehr Reduktion relative Frequenz, semantische Faktoren, Sprechgeschwindigkeit zusätzliche abhängige Variablen: Vokalqualität 19

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit! 20