Charta für Menschwürdige Arbeit

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1 Charta für Menschwürdige Arbeit 2 O. Einleitung und Herleitung 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 Menschenwürdige Arbeit ist eine wichtige Grundlage für eine nachhaltige Entwicklung von Gesellschaft und Wirtschaft. Die Leitlinien dieser Charta sollen Leitmaxime politischer Entscheidungen sein, um die Arbeitsbedingungen und die Lebensqualität aller Menschen nachhaltig zu verbessern. Diese Leitlinien beziehen sich auf die Frage einer nachhaltigen Entwicklung hier vor Ort genauso wie in Europa und weltweit! Ein Beitrag, der zu einer nachhaltigen Entwicklung für alle Menschen führt, fordert von allen gesellschaftlichen Kräften Engagement. In diesem Sinne sind Kirchen, Gewerkschaften, Politik, Unternehmen etc. gefordert, die gesellschaftliche Situation klar zu analysieren, Position zu beziehen und zu Handeln bzw. das Handeln aller einzufordern. Centesimus Annus 44 Zur Verwirklichung dieser Ziele muß der Staat, sei es unmittelbar oder mittelbar, seinen Beitrag leisten. Mittelbar dadurch, daß er nach dem Prinzip der Subsidiarität möglichst günstige Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Wirtschaft bietet, die damit ein reiches Angebot an Arbeitsmöglichkeiten und einen Grundstock für den Wohlstand schafft. Unmittelbar leistet der Staat seinen Beitrag, wenn er nach dem Prinzip der Solidarität, zur Verteidigung des Schwächeren Grenzen setzt, die über die Arbeitsbedingungen entscheiden, und wenn er dem beschäftigungslosen Arbeiter das Existenzminimum garantiert. Vorrangiges Ziel ist es vor dem Hintergrund einer globalisierten, vernetzten Welt politische Lösungen für eine nachhaltige Entwicklung zu finden, von denen alle Menschen profitieren: 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 Aus EG 49: Mir ist eine verbeulte Kirche, die verletzt und beschmutzt ist, weil sie auf die Straßen hinausgegangen ist, lieber, als eine Kirche, die aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Bequemlichkeit, sich an die eigenen Sicherheiten zu klammern, krank ist. 1. Menschwürdige Arbeit muss das Ziel sein! Engagement und Politik für menschwürdige Arbeit bedeutet die Einbeziehung aller Politikfelder, insbesondere Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Gerechtigkeit darf dabei nicht Halt machen an nationalen Grenzen. Die Spaltung zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinnern und Verlierern des aktuell vorherrschenden Wirtschaftssystems ist ein internationales Problem. Wir setzen uns ein für ein nachhaltiges Wirtschaftssystem, das den Menschen mit seinen Bedürfnissen und Wünschen wieder in den Mittelpunkt rückt. Es geht uns als Christinnen und Christen um eine gerechte Entwicklung der globalisierten Welt, in der die gleichen Rechte für alle Arbeiterinnen und Arbeiter gelten. Dabei müssen die Menschenrechte geachtet und die elementaren Lebensgrundlagen gesichert sein. Politik und Wirtschaft müssen sich dafür einsetzen, dass weltweit das Recht auf Menschwürdige Arbeit für alle Menschen gilt. Dabei ist wirtschaftliches Wachstum allein nicht genug - es muss sich nachhaltig gegen Armut und für Entwicklung auswirken und Arbeitsplätze schaffen. Wirtschaftswachstum muss dafür stehen, die Anzahl der Arbeitsplätze zu steigern und weltweit

41 42 43 44 45 46 alle Wirtschaftsregionen stärker einzubeziehen. Dabei geht es nicht nur um die Anzahl der Arbeitsplätze allgemein, sondern um eine gezielte Steigerung der Lebensqualität und damit um die Menschenwürde aller Menschen. Die deutsche Politik ist aufgerufen sich international stärker zu engagieren und national die prekäre Beschäftigung aktiv mit politischen Beschlüssen nachhaltig zu beseitigen, um den Menschen langfristig eine gesicherte Zukunft zu ermöglichen. 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64 65 EG 53. Ebenso wie das Gebot du sollst nicht töten eine deutliche Grenze setzt, um den Wert des menschlichen Lebens zu sichern, müssen wir heute ein Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung und der Disparität der Einkommen sagen. Diese Wirtschaft tötet. Es ist unglaublich, dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während eine Baisse um zwei Punkte in der Börse Schlagzeilen macht. Das ist Ausschließung. Es ist nicht mehr zu tolerieren, dass Nahrungsmittel weggeworfen werden, während es Menschen gibt, die Hunger leiden. Das ist soziale Ungleichheit. Heute spielt sich alles nach den Kriterien der Konkurrenzfähigkeit und nach dem Gesetz des Stärkeren ab, wo der Mächtigere den Schwächeren zunichte macht. Als Folge dieser Situation sehen sich große Massen der Bevölkerung ausgeschlossen und an den Rand gedrängt: ohne Arbeit, ohne Aussichten, ohne Ausweg. Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann. Wir haben die Wegwerfkultur eingeführt, die sogar gefördert wird. Es geht nicht mehr einfach um das Phänomen der Ausbeutung und der Unterdrückung, sondern um etwas Neues: Mit der Ausschließung ist die Zugehörigkeit zu der Gesellschaft, in der man lebt, an ihrer Wurzel getroffen, denn durch sie befindet man sich nicht in der Unterschicht, am Rande oder gehört zu den Machtlosen, sondern man steht draußen. Die Ausgeschlossenen sind nicht Ausgebeutete, sondern Müll, Abfall. 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 2. Menschenwürdige Arbeit braucht Verlässlichkeit! Alle Menschen, insbesondere junge Menschen, haben ein Recht auf Bildung und Beteiligung am gesellschaftlichen Leben. Dazu brauchen sie eine gute Schul- und Ausbildung sowie einen verlässlichen Einstieg ins Berufsleben. In Deutschland ist die Zunahme der prekären Beschäftigungsverhältnisse, wie zum Beispiel Mini-Jobs, Werkverträge, Leiharbeit und ähnlichem, längst kein Randphänomen mehr, sondern betrifft mittlerweile Hunderttausende von Beschäftigten, und dies vor allem im Dienstleistungsgewerbe. Immer mehr Menschen leben nicht nur mit einem, sondern mehreren prekären Anstellungen. Befristete Arbeitsverhältnisse mit kurzen Vertragslaufzeiten bedeuten für die Arbeiterinnen und Arbeiter. Unsicherheit und ungewisse berufliche Perspektiven. Mehr als ein Drittel aller Angestellten im sozialen Bereich sind atypisch beschäftigt. Die Praxis des Outsourcings von öffentlichen Aufgaben im Sozial- und Bildungsbereich darf nicht mit unverlässlichen Finanzierungsaussagen fortgeführt werden. Die Träger müssen durch politische Entscheidungen in die Lage versetzt werden langfristig Zusagen machen zu können, um die

82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100 101 102 Entkoppelung der Personalpolitik der Sozial- und Bildungsbetriebe von öffentlichen Haushalten zu ermöglichen. Politik und Wirtschaft sind aufgefordert, eine gerechte Ausgestaltung der heutigen Arbeitswelt zu ermöglichen. Zentrale Elemente, um ein Leben in Würde für alle Arbeiter und ihre Familien zu garantieren, stellen dabei der Mindestlohn und unbefristete Arbeitsverhältnisse dar. EG 58. Eine Finanzreform, welche die Ethik nicht ignoriert, würde einen energischen Wechsel der Grundeinstellung der politischen Führungskräfte erfordern, die ich aufrufe, diese Herausforderung mit Entschiedenheit und Weitblick anzunehmen, natürlich ohne die Besonderheit eines jeden Kontextes zu übersehen. Das Geld muss dienen und nicht regieren! [ ] Ich ermahne euch zur uneigennützigen Solidarität und zu einer Rückkehr von Wirtschaft und Finanzleben zu einer Ethik zugunsten des Menschen. INFO-BOX Armut "Armut hat eine Außenseite und Armut hat eine Innenseite. Armut höhlt Identitätsressourcen aus; Das zeigt sich vor allem auch in der Bedeutung, die Scham in einer Armutssituation spielt." (aus "Warum Arm - Armutsbekämpfung, eine Grundlegung", Clemens Sedmak, Böhlau Verlag GmbH, 2013, Seite 53) "Armut ist eine Deprivation von Identitätsressourcen, die sich in erschwertem Zugang zur Versprechens- und Bindungsfähigkeit zeigt." (ebd. Seite 70) "Dinge (Besitz, bzw. Nicht-Besitz, Ergänzung der Verfasser) sind wichtig; sie sind gewissermaßen Ausdruck eines Gesprächs über die eigene Identität, sozusagen Ausdruck eines Selbstgesprächs." (ebd. Seite 92) 103 104 3. Menschenwürdige Arbeit braucht starke Arbeitnehmervertretungen 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 Gewählte Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben sind grundlegend wichtig für eine solidarische und gerechte Arbeitswelt. Politik und Gesellschaft müssen Arbeitnehmervertreter in den Betrieben und Gewerkschaften achten, stärken und ihre Rolle und Funktion wertschätzen. Mit Blick auf die Situation vieler Unternehmen halten wir fest, dass nur starke Arbeitnehmervertretungen die Beschäftigteninteressen in Sachen Druck und Leistungsverdichtung als eine Folge globalisierten Wettbewerbs und Wirtschaftens effektiv und verantwortlich in den Unternehmen umsetzen können. Die Grenzen der Belastbarkeit und Verfügbarkeit von Menschen und die Grenzen der Ökonomisierung aller Lebensbereiche müssen neu zum Thema in Kirche, Gesellschaft und Politik werden. Der Zergliederung von Unternehmen zur Verlagerung von unternehmerischen Risiken auf die Belegschaften ist entgegenzuwirken. Privater Besitz muss dem Gemeinwohl dienen! Alle Akteure des Wertschöpfungsprozesses müssen an der Verteilung des Gewinns teilhaben. 119

120 121 122 123 124 125 126 127 Centesimus annus (35) Denn Zweck des Unternehmens ist nicht bloß die Gewinnerzeugung, sondern auch die Verwirklichung als Gemeinschaft von Menschen, die auf verschiedene Weise die Erfüllung ihrer grundlegenden Bedürfnisse anstreben und zugleich eine besondere Gruppe im Dienst der Gesamtgesellschaft bilden. Der Gewinn ist ein Regulator des Unternehmens, aber nicht der einzige. Hinzukommen andere menschliche und moralische Faktoren, die auf lange Sicht gesehen zumindest ebenso entscheidend sind für das Leben des Unternehmens. Menschenwürdige Arbeit, also eine Arbeitswelt, in der der Mensch nicht zum bloßen Objekt unternehmerischer Sichtweisen wird, braucht starke Arbeitnehmervertretungen! 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145 146 4. Menschenwürdige Arbeit braucht Lohngerechtigkeit und gesellschaftliche Anerkennung Lohn und gesellschaftliche Anerkennung sind zwischen den verschiedenen Berufsgruppen sehr unterschiedlich verteilt. Oftmals ist festzustellen, dass die Arbeit zur Produktion von Gütern höher bewertet wird als die Arbeit an und mit dem Menschen. Es braucht eine Neubewertung von Arbeiten zwischen den verschiedenen Branchen und Arbeitsfeldern und die psychosozialen Belastungen müssen in allen Berufen finanziell berücksichtigt werden. Zurzeit arbeiten rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland in sogenannten Mini-Jobs. Auch in Deutschland sind es fast immer Frauen, die während oder nach der Familienphase für kleines Geld Menschen pflegen, Regale einräumen, Kellnern, putzen oder Haare schneiden. Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass weder Männer noch insbesondere Frauen ungleich für gleiche Arbeit und gleiche Arbeitsleistung bezahlt werden. Vor allem Frauen, die sich der schweren Aufgabe stellen und Familie und Beruf vereinbaren wollen, brauchen unsere Solidarität und gute Perspektiven und nicht Sackgassen auf ihrem Lebensweg. Wir brauchen politische Beschlüsse für eine Mini-Job-Reform, damit sich Altersvorsorge lohnt, staatliche Zusatzleistungen unnötig sind und Schwarzarbeit vermieden wird. Wir brauchen Maßnahmen, die den beruflichen Wiedereinstieg von Frauen während und nach Familienzeiten erleichtern. 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 Aus EG 202: [...] Solange die Probleme der Armen nicht von der Wurzel her gelöst werden, indem man auf die absolute Autonomie der Märkte und der Finanzspekulation verzichtet und die strukturellen Ursachen der Ungleichverteilung der Einkünfte in Angriff nimmt, [173] werden sich die Probleme der Welt nicht lösen und kann letztlich überhaupt kein Problem gelöst werden. Die Ungleichverteilung der Einkünfte ist die Wurzel der sozialen Übel. 5. Menschenrecht auf Menschenwürdige Arbeit Ziel der internationalen Politik muss es sein, Arbeitnehmerrechte, soziale Absicherung und existenzsichernde Einkommen sicher zu stellen und ausbeuterische und ungeschützte Arbeit zu beseitigen. Wir sehen eine weltweit entgrenzte Wirtschaftsverflechtung ohne einen global geltenden rechtlichen Ordnungsrahmen.

160 161 162 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172 173 174 Die transnationale Arbeitsteilung und die Transnationalisierung von Unternehmen und Produktion hat nicht zu einem Mehr an Würde für die Menschen in Arbeit geführt. Menschenwürdige Arbeit und menschenwürdige Arbeits- und Produktionsbedingungen lassen Arbeiterinnen und Arbeitern ihre Würde und sorgen dafür, dass Menschen in der Arbeit Subjekte bleiben und nicht zu Objekten degradiert werden. Wir fordern für arbeitende Menschen Würde und Respekt, politische Anstrengungen gegen Zwangsarbeit, die Ächtung von Kinderarbeit weltweit, sichere und nicht gesundheitsgefährdende Arbeitsplätze und Arbeitsgebäude, existenzsichernde Löhne, humane und familienverträgliche Arbeitszeiten und die Zulassung von Arbeitnehmervertretung als Stimme und Interessenvertretung der Menschen in Arbeit und beruflicher Ausbildung Dabei sind nicht nur die politische Entscheidungsträger und Unternehmen in der Pflicht, sondern auch Konsumenten in den Industriestaaten. Menschenwürdige Arbeit für alle ist nur möglich, wenn Konsumenten in den Industrienationen ihr Kaufverhalten so ändern, dass auch Menschen in den Entwicklungs- und Schwellenländern gute Arbeitsbedingungen und gerechte Löhne erhalten. 175 176 177 178 179 180 181 182 183 184 EG 203. Die Würde jedes Menschen und das Gemeinwohl sind Fragen, die die gesamte Wirtschaftspolitik strukturieren müssten, doch manchmal scheinen sie von außen hinzugefügte Anhänge zu sein, um eine politische Rede zu vervollständigen, ohne Perspektiven oder Programme für eine wirklich ganzheitliche Entwicklung. Wie viele Worte sind diesem System unbequem geworden! Es ist lästig, wenn man von Ethik spricht, es ist lästig, dass man von weltweiter Solidarität spricht, es ist lästig, wenn man von einer Verteilung der Güter spricht, es ist lästig, wenn man davon spricht, die Arbeitsplätze zu verteidigen, es ist lästig, wenn man von der Würde der Schwachen spricht, es ist lästig, wenn man von einem Gott spricht, der einen Einsatz für die Gerechtigkeit fordert. [...] 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199 200 201 6. Menschenwürdige Arbeit bedeutet Sicherheit und Gesundheit für alle Beschäftigten Auch wenn sich die Arbeitsbedingungen in Deutschland über viele Jahre positiv entwickelt haben, gibt es nach wie vor viele Arbeitsbereiche, in denen körperliche Belastungen weiterhin bestehen, die gesundheitliche Beeinträchtigungen zur Folge haben. Zusätzlich ist inzwischen deutlich geworden, dass Leistungsdruck, Wettbewerb und Ängste um den Arbeitsplatz zugenommen haben und damit bei Arbeiterinnen und Arbeitern arbeitsbedingte psychische Erkrankungen zugenommen haben. In den Schwellen- und Entwicklungsländern ist eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen nicht durchgängig festzustellen. Heute arbeiten immer noch Menschen, besonders Frauen und in einigen Ländern sogar Kinder, unter schrecklichsten Bedingungen, z.b. in riesigen Textil- und Elektronikfabriken. Von Sicherheit am Arbeitsplatz ist da weit und breit nichts zu sehen. Immer noch sterben weltweit jedes Jahr über 320.000 Menschen durch arbeitsbedingte Unfälle. Wir können als Konsumenten des globalen Handels, vor allem von Elektronikgeräten und Textilien, nicht einfach zusehen, wie Menschen Tag für Tag ihr Leben riskieren und mit einem Hungerlohn abgespeist werden, damit wir billig konsumieren können. Politik,

202 203 204 Wirtschaft, aber auch die Konsumenten in den westlichen Staaten müssen sich für einen fairen, gerechten und würdevollen Umgang mit Arbeiterinnen und Arbeitern weltweit einsetzen. Denn Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz sind die Grundlage für Menschenwürdige Arbeit. 205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 EG 55. Einer der Gründe dieser Situation liegt in der Beziehung, die wir zum Geld hergestellt haben, denn friedlich akzeptieren wir seine Vorherrschaft über uns und über unsere Gesellschaften. Die Finanzkrise, die wir durchmachen, lässt uns vergessen, dass an ihrem Ursprung eine tiefe anthropologische Krise steht: die Leugnung des Vorrangs des Menschen! Wir haben neue Götzen geschaffen. Die Anbetung des antiken goldenen Kalbs (vgl. Ex 32,1-35) hat eine neue und erbarmungslose Form gefunden im Fetischismus des Geldes und in der Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel. Die weltweite Krise, die das Finanzwesen und die Wirtschaft erfasst, macht ihre Unausgeglichenheiten und vor allem den schweren Mangel an einer anthropologischen Orientierung deutlich ein Mangel, der den Menschen auf nur eines seiner Bedürfnisse reduziert: auf den Konsum. 7. Kinderarbeit ist das Gegenteil von Menschenwürdiger Arbeit 218 219 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230 231 232 233 Weltweit arbeiten rund 144 Millionen Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren z.b. als Helfer in der Landwirtschaft, in Industriebetrieben oder als Haushaltshilfen. Oftmals ist es harte körperliche Arbeit und in jedem einzelnen Fall ein weltweiter Skandal. Jedes Kind hat ein Recht auf körperliche Unversehrtheit, Bildung, Geborgenheit und ein Leben in Würde. Dies ist in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen verankert. Trotzdem werden Kinder weltweit Tag für Tag ausgebeutet. Wir müssen jetzt den Druck auf die Politik ausbauen, um international politische Lösungen zu finden, die Kinderarbeit verhindern und gleichzeitig den Kindern und den Familien Perspektiven für die Zukunft bieten Der Wohlstand der westlichen Staaten und der Reichtum Einzelner dürfen nicht auf dem Rücken von Kindern entstehen. Eine nachhaltige Entwicklung unserer Welt, mit echten Zukunftsperspektiven für alle Menschen, kann nur mit Zugangsmöglichkeiten zu Bildung und dem strikten Verbot von Kinderarbeit möglich sein. Deshalb brauchen wir eine gerechtere Verteilung des Reichtums dieser Welt. Wir müssen die Schere zwischen armen und reichen Staaten schließen, um jedem Kind, gleich welcher Herkunft, eine echte Chance auf Bildung zu garantieren. 234 235 236 237 238 "Kinderarbeit von 7-, 8-, 9-, 10jährigen Kindern, eine Schande für die Menschheit! Und schuld daran war der ökonomische Liberalismus, der keine Achtung vor der menschlichen Person, vor der menschlichen Familie hatte und nichts anderes sah als Profit und Produktion." Joseph Cardijn