Stellungnahme der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH e.v.) zur Anhörung der Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesjugend- und Familienbehörden AGJF Weiterentwicklung und Steuerung der Hilfen zur Erziehung Anhörung am 10.12.2013 in Mainz Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) Galvanistrasse 30 D-60486 Frankfurt am Main E_Mail: igfh@igfh.de Web: www.igfh.de 1
Leitfrage 6: Inklusion von Kindern mit Behinderung Die AG,Inklusion von Kindern mit Behinderung hat die Einführung einer neuen Leistung Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe als einzelfallbezogene Hilfe vorgeschlagen, unabhängig davon, ob es sich um einen erzieherischen oder behinderungsspezifischen Bedarf handelt. - Was sind die Konsequenzen für die Hilfen zur Erziehung? Was ist bei der Ausgestaltung der neuen Leistung zu beachten? Die mit der Großen Lösung im SGB VIII zu verbindende Zielsetzung der Inklusion ist mit der bloßen Zuständigkeitsverlagerung noch nicht gewährleistet. Inklusion, hier verstanden als gleichberechtigte Teilhabemöglichkeit aller Menschen in der Gesellschaft ohne behindernde Barrieren, setzt nicht nur inkludierende Teilhabe- und Leistungsrechte, sondern in besonderem Maße auch eine entsprechende strukturelle und organisatorische Ausgestaltung der jeweiligen gesellschaftlichen Bereiche und damit auch der Kinder- und Jugendhilfe voraus. Mit der Schaffung eines inkludierenden individuellen Leistungsrechts in der Kinder- und Jugendhilfe wie etwa der angedachten Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe allein ist es damit noch nicht getan. Das Verfahren zur Gewährung der Hilfe, die einzelnen Leistungsangebote selbst sind organisatorisch und strukturell so zu gestalten, dass sie Inklusion ermöglichen. 2
a) Was ist bei der Ausgestaltung der neuen Leistung zu beachten? Die Inklusionsperspektive erfordert einen Ausbau des Umwelt- und- Sozialraumbezugs der Kinder- und Jugendhilfe. Der Auftrag, dazu beizutragen, positive Lebensbedingungen für junge Menschen zu erhalten oder zu schaffen ( 1 Abs. 3 Nr. 4 SGB VIII), müsste einer der wesentlichen Bestandteile einer Hilfe zur Entwicklung und Teilhabe sein. Die Kinder- und Jugendhilfe kann und darf nicht getrennt von den anderen zur Inklusion verpflichteten Bereichen der Gesellschaft zu sehen. Inklusive Konzepte der Kinder- und Jugendhilfe können letztlich nur im Kontext von inklusiven Konzepten z.b. der Schule und des Ausbildungsmarktes wirksam werden. Die Kinder- und Jugendhilfe muss sich vielmehr vergegenwärtigen, dass bereits Hilfe zur Erziehung in der Regel eine Antwort auf gesellschaftliche Ausgrenzungsund Selektionsprozesse ist. Exklusion durch soziale Benachteiligung stellt häufig den Beginn und den Auslöser von Hilfen zur Erziehung dar. Armuts- und soziale Ausschlussphänomene dürfen nicht im Rahmen einer an die Entwicklungspsychologie angelehnten Begrifflichkeit individualisiert werden. Die Kinder- und Jugendhilfe ist schon jetzt vielfach Ausfallbürge für andere exkludierende Systeme, insbesondere der Schule. Die parallel zu erfolgende inklusive Entwicklung anderer gesellschaftlicher Systeme, insbesondere der Schule, aber auch anderer Leistungsbereiche des SGB VIII wie dem Kindertagesstättenbereich, könnten und sollten hier eine regulierende Funktion haben. Die Vor- und Nachrangigkeiten der unterschiedlichen Bereiche einschließlich Regelungen zu Kostenerstattungs-Ansprüchen wären gesetzlich konkret(er) zu regeln, um Verschiebebahnhöfe zu vermeiden. Der große gesellschaftliche Entwicklungsbedarf in Sachen Inklusion muss daher mit in den Blick genommen werden, soll Jugendhilfe nicht als Ausfallsbürge für exkludierende Subsysteme der Gesellschaft fungieren. Die Frage nach den Befähigungen beinhaltet die Forderung an die Gesellschaft, aktiv zur Entwicklung aller Mitglieder der Gesellschaft beizutragen. Ein abschließender Leistungskatalog ist bisher weder im Bereich Hilfe zur Erziehung noch in der Eingliederungshilfe vorhanden und sollte auch für einen neuen Leistungstatbestand nicht eingeführt werden. Er würde der Vielfalt der Lebenssachverhalte nicht gerecht. Alle bisher als Hilfe zur Erziehung und Eingliederungshilfe möglichen Leistungen sind in diesen Katalog zu übernehmen. Im Laufe der Zeit ist jede (auch schon etablierte) Leistung einem Inklusions-Check zu unterziehen und daraufhin zu überprüfen, ob sie Inklusion tatsächlich stützt, und ggf. unter dieser Perspektive zu variieren. 3
Unter Inklusionsperspektive ist es notwendig, neben einem Katalog individueller Leistungen eine Gewährleistungsverpflichtung der öffentlichen Jugendhilfe ins Gesetz aufzunehmen, um die organisatorischen und strukturellen Rahmenbedingungen (u.a. Finanz- und Personalressourcen) für Inklusion in der Jugendhilfe zu garantieren. Gleichzeitig ist mit Blick auf die Verwirklichung der Umwelt- und Sozialraumperspektive eine Verpflichtung der öffentlichen Jugendhilfe (sowie der freien Träger) zur Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Bereichen (mit dem Ziel der Abstimmung und Unterstützung der jeweiligen inklusiven Bemühungen) gesetzlich abzusichern. Der Inklusionsgedanke ist als Zielformulierung der Kinder- und Jugendhilfe sowohl in 1 wie auch 9 SGB VIII aufzunehmen. Anspruchsberechtigte der neuen Hilfe können nach Auffassung der IGfH nur die jungen Menschen selbst sein. Ein Rückbau der Rechtsposition gegenüber 35a SGB VIII ist unter Kinderrechtegesichtspunkten nicht vertretbar. Die mit der den Kindern und Jugendlichen zugeordneten Anspruchsinhaberschaft der neuen Hilfe gleichzeitig verbundene Verlagerung des Rechts auf erzieherische Hilfe nach 27 SGB VIII auf die Kinder und Jugendlichen wird in Fachkreisen seit langem gefordert. Mit Erreichen der Volljährigkeit sollte den jungen Menschen mit besonderem Bedarf an Förderung der Persönlichkeitsentwicklung und der selbstbestimmten, gleichberechtigten Teilhabe am Leben in der Gesellschaft (vgl. 1 SGB IX) ein längerer Verbleib in der Jugendhilfe ermöglicht werden. Dem Ablöseprozess eines Menschen z.b. mit geistiger Behinderung ist ausreichend Zeit einzuräumen. Aus Gründen der Rechtsklarheit sind eindeutige Voraussetzungen dafür im Gesetz zu schaffen. Denkbar wäre eine generelle Festlegung der Altersgrenze auf das 27. Lebensjahr, verbunden mit Kostenerstattung durch die Sozialhilfeträger ab dem 21. Lebensjahr. Vermutlich werden bei einer Hilfe zur Entwicklung nicht alle Entscheidungen über Teilhabeleistungen (z.b. Hilfsmittel) der Vorbereitung durch eine Hilfeplanung bedürfen. Die Befürchtung besteht, dass in diesem Zusammenhang die in der Jugendhilfepraxis jetzt schon z.t. reduzierte Umsetzung der Hilfeplanung eine weitere Aushöhlung mit Hinweis auf vermeintlich nicht hilfeplannotwendige Teilhabeleistungen erfährt. Das Hilfeplanverfahren müsste gesetzlich neu abgesichert werden, (u.a. auch die hinzukommenden neuen Akteur_innen beispielhaft benennen), um zu verdeutlichen, dass es das zentrale inklusive Steuerungselement der Hilfe ist. Die Erweiterung der zu verhandelnden Thematiken und die Ausweitung des zu beteiligenden Personenkreises werden einen höheren Zeit- und Bearbeitungsaufwand bedeuten und entsprechend kostenrelevant sein. Bei einer Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für die Eingliederungshilfe gilt es, die Kostenheranziehungsregeln von Jugendhilfe 4
und Sozialhilfe zu harmonisieren und zu vereinheitlichen. Ziel muss es sein, inkludierende Regelungen zu finden, die den Betroffenen den Zugang zu den Hilfen ermöglichen und erleichtern. Unter rein struktureller Perspektive bieten sich auf den ersten Blick die Kostenheranziehungsregeln des SGB VIII an. Die Regelungen des SGB XII sind eher unsystematisch und auf Grund verschiedener weichenstellender Beurteilungsspielräume weniger transparent. Vor Klärung der Kostenheranziehungsfrage ist daher eine Erhebung der bisherigen Praxis der Kostenheranziehung nach SGB XII zu empfehlen, um den Vergleich zwischen den beiden Leistungssystemen verlässlich ziehen zu können. Ist Jugendhilfe ausschließlich für die Leistungen der Eingliederungshilfe für junge Menschen zuständig (d.h. für die nachrangige Erbringung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, zur Teilhabe am Arbeitsleben und zur Teilhabe an der Gemeinschaft), ist sie über ihre bisherige Rolle als Rehabilitationsträger hinaus verstärkt in das System des Rehabilitationsrechts und damit in die Struktur des SGB IX eingebunden. Das betrifft u.a. das Persönliche Budget ( 17 SGB IX), die Zuständigkeitsfeststellung ( 14 SGB IX) und die Vernetzung und Zusammenarbeitspflicht mit den anderen Rehabilitationsträgern (vgl. 12 SGB IX). Notwendig ist aus Sicht der IGfH ein inhaltlich und zeitlich gut geplanter Implementierungsprozess, der u.a. folgende Elemente beinhaltet: - Kooperation der Führungs- und Fachkräfte der bislang getrennten Bereiche Jugendhilfe und Behindertenhilfe mit dem Ziel der Entwicklung eines neuen gemeinsamen Aufgabenverständnisses - Kooperation der Jugendämter und freien Träger mit den Behindertenverbänden, insbesondere den Selbsthilfeverbänden bei der Hilfegewährung - Sensibilisierung der politischen Verantwortungsträger in den Kommunen für die Bedeutung der Inklusionsthematik und die Notwendigkeit der Ausstattung der Jugendhilfe mit zusätzlichen Finanzressourcen insbesondere für Schulungen und Weiterbildungen der Fachkräfte und zur Förderung von Um und Neubauten von Jugendhilfeeinrichtungen - Beim Thema gemeinsame und fachübergreifende Fort- und Weiterbildungen sowie Schulungen könnten die Fachverbände für Erziehungshilfen und die Fachverbände sowie vor allem die Selbsthilfeverbände der Behindertenhilfe eng zusammenarbeiten Kooperation der Jugendhilfe mit den jeweiligen Schulen und Schulträgern - Da die Umsetzung des Inklusionsgedankens wesentlich von der Haltung der agierenden Fachkräfte abhängig ist, ist neben der Vermittlung spezifischen operativen Fachwissens in Schulungen die Ausbildung einer inklusiven Grundhaltung bedeutsam. - Eine flankierende Überzeugungsarbeit von Bund, Ländern und Kommunen, die z.b. mit kleinen Modellversuchen immer wieder versucht, einen lernenden 5
Prozess anzustoßen und Modelle guter Praxis sichtbar macht, wird notwendig sein. Aus Verantwortung für die Belange und die Erfüllung der Bedarfe der jungen Menschen mit Behinderung sollte eine Phase der Erprobung von Modellprojekten (mit wissenschaftlicher Begleitung und Evaluation) einer bundesweiten Implementierung vorgeschaltet werden. b) Was sind die Konsequenzen für die Hilfen zur Erziehung? Bei der Ausgestaltung der Hilfe ist zu beachten, dass vor allem in stationären und ambulanten Angeboten Zusammensein und Zusammenleben von jungen Menschen mit und ohne Behinderung tatsächlich ermöglicht wird und konzeptionell/methodisch abgesichert ist. Leben Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung z.b. in einer Regelgruppe zusammen, ist nach unserer Auffassung - sicherzustellen, dass genügend Mitarbeiter_innen mit spezifischem Wissen aus den Bereichen Behinderung und Rehabilitation (z.b. zu speziellen Kommunikationstechniken) sowie Sozialpädagogik und Fallverstehen für die Kinder und Jugendlichen mit Behinderung zur Verfügung stehen. Hier sind vermutlich gegenüber reinen Gruppen von jungen Menschen mit Behinderung Kostensteigerungen zu erwarten. Weitere Konsequenzen sind: Es ist darauf zu achten, dass in gruppenpädagogischen Settings eine gute fachliche Integration der verschiedenen Professionen auf Augenhöhe gelingt. Die Kooperation muss von gegenseitigem Respekt vor dem Wert anderer professioneller Kompetenzen und dem Bewusstsein der Notwendigkeit multiprofessioneller Arbeit geprägt sein. Dieses verbietet selbstverständlich auch eine unterschiedliche Bezahlung und eine formale Hierarchisierung von Fachkräften mit unterschiedlichen Ausbildungen. Die Konzeption eines Angebotes müsste den umfassenden Leistungsauftrag der inklusionsorientierten Hilfe zur Entwicklung widerspiegeln. Es ist konzeptionell deutlich zu benennen, welche Aktivitäten sich auf individuellen Unterstützungsbedarf, auf die Herstellung einer inklusiven Organisationsstruktur der Einrichtung oder z.b. einer Gruppe und auf die Kooperation mit dem Umfeld/Sozialraum beziehen. Die Betreuungsdauer in Jugendhilfe- und Behinderteneinrichtungen ist in der Regel unterschiedlich. So geht stationäre Behindertenhilfe bei z.b. Menschen mit geistiger Behinderung von eher längerfristigen Betreuungen aus als es bisher in der Jugendhilfe im Rahmen der Hilfe zur Erziehung üblich ist. Evtl. wird hier bei Zuständigkeit der Jugendhilfe eine Erhöhung der Pflegefamilienunterbringung erfolgen (siehe Positionspapier der AGJ Gesamtzuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe für alle Kinder und Jugendlichen vom 24./25.11.2011, S. 5f und S. 8f). 6
Das Recht des jungen Menschen mit Behinderung auf Schutz(raum) muss gewahrt sein. Schutz bedeutet einmal Schutz vor exkludierendem Verhalten z.b. von Mitgliedern einer stationären Wohngruppe. Schutzraum könnte u. U. notwendig werden, um besondere Bedarfe zur Verbesserung der Entfaltungsund Teilhabechancen zu erfüllen (vergleichbar vielleicht den Konzepten der geschlechtergetrennten und geschlechtergemischten Arbeitsweise zur Herstellung von mehr Chancengleichheit im Geschlechterverhältnis). In der Jugendhilfeplanung ( 80 SGB VIII) ist der Bedarfsbegriff um den Bedarf nach Teilhabeleistungen aller Kinder mit Behinderung zu erweitern. Es muss eine inklusive Jugendhilfeplanung konsequent entwickelt werden. Bei der Zusammensetzung der Jugendhilfeausschüsse ist zu garantieren, dass die Einrichtungen, die inklusive Hilfe zur Entwicklung anbieten, angemessen vertreten sind. Der Aufgabenbereich der Ausschüsse sollte in 71 Abs. 2 SGB VIII einen ausdrücklichen Hinweis auf Weiterentwicklung der Jugendhilfe in Richtung Inklusion enthalten. Die Langfassung unserer Ausführungen zu diesem Themenbereich siehe unter: Häbel, H./ Koch, J. (2012): Statement der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH) im Rahmen der Anhörung bei der Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung/ Große Lösung ; in: Forum Erziehungshilfen Heft 3/2012, S. 184-188. 7