Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems Rede der Bundesministerin für Bildung und Forschung, Prof. Dr. Johanna Wanka, anlässlich des Festkolloquiums Kognition und Innovation für die deutsche Wirtschaft zum 60. Geburtstag von Herrn Prof. Reimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft, am 28. Juni 2013 in Dresden Es gilt das gesprochene Wort!
Liebe Festgemeinde, meine sehr verehrten Damen und Herren, ich begrüße Sie alle ganz herzlich, und natürlich besonders Sie, lieber Herr Neugebauer: Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Geburtstag. Sie gehören zu jenen, die in den Jahren nach der Wiedervereinigung die Chancen, die wir damals hatten, erfolgreich genutzt haben. Die friedliche Revolution und die Möglichkeiten, die sich daraus ergaben waren einerseits ein Glück. Auf der anderen Seite darf man aber auch nicht vergessen, dass sich das gesamte Leben innerhalb kürzester Zeit verändert hat; auch das Wissenschaftssystem unterlag einem umfassenden Transformationsprozess. Sie, lieber Herr Neugebauer, haben diese Chance sofort gesehen und genutzt und sind 1992 aus Dresden nach Chemnitz zu Fraunhofer-Gesellschaft gegangen. Sie hatten dabei überhaupt kein Problem mit dem Thema»Anwendung der Forschung«. Man hatte uns in den neuen Ländern 1990 gelegentlich den Vorwurf gemacht, wir würden an den Universitäten zu viel Bezug zur Wirtschaft und zur Technik schaffen und damit sozusagen vom rechten Pfad abweichen. Heute sind wir in einer anderen Situation und auch die Skepsis gegenüber der Anwendungsorientierung ist gewichen. Ihr Weg an die Spitze von Fraunhofer, lieber Herr Neugebauer, war in diesem Zusammenhang auch folgerichtig. Ich bin gebeten worden, etwas zu den Perspektiven des deutschen Wissenschaftssystems zu sagen. Ich kann darüber heute natürlich nicht umfassend referieren, das würde den Rahmen dieser Veranstaltung sprengen. Erlauben Sie mir aber, dass ich einige Punkte, insbesondere in Bezug auf Fraunhofer, anspreche. Der Wissenschaftsrat hat in den vergangenen Jahren strategische Papiere entwickelt, die sich mit Zukunftsfragen von Wissenschaft und Forschung beschäftigen. Da ging es beispielsweise um die IT-Ausstattung in Deutschland. Und das nicht nur im öffentlichen Bereich, sondern auch in den Forschungsabteilungen der Unternehmen, bezüglich der Großrechner etc. In seinem aktuellen Papier überlegt der Wissenschaftsrat, wie sich das Wissenschaftssystem in Deutschland weiter entwickeln kann und soll, wenn die Exzellenz- Initiative ausläuft, wenn viele weitere Rahmenbedingungen sich verändern. Man darf die Erwartungen an ein solches Papier nicht zu hoch setzen, außerdem müsste man eigentlich zwei Papiere schreiben: Das eine für ein Szenario, bei dem alles so bleibt, wie es ist, was Kompetenzen und Zuständigkeiten in Deutschland betrifft. Und das andere, das viel interessantere Papier, müsste die Variante behandeln, bei der wir die Kraft haben, das Grundgesetz in Deutschland in einem wichtigen Punkt zu ändern: Für das Herzstück des Wissenschaftssystems, die Hochschulen, hat der Bund heute nämlich keine Zuständigkeit.
Diese Situation könnte man so ändern, dass Bund und Länder bei den Hochschulen enger zusammenarbeiten und das nicht nur temporär. Der Vorschlag zur Änderung des Grundgesetzes in diesem Punkt liegt auf dem Tisch, aber vor dem Wahltag wird das nicht funktionieren. Das Zeitfenster für eine solche Veränderung ist aber nicht sehr groß. Und wir würden eine riesige Chance vertun, wenn wir es nicht schaffen, auch den gesamten Hochschulbereich stärker strategisch zu orientieren und dies nicht ausschließlich den Ländern zu überlassen. Wenn ich die Weiterentwicklung des Wissenschaftssystems betrachte, bin ich der festen Überzeugung, dass die Rolle der Fraunhofer-Gesellschaft wächst. Und ich möchte einige wenige Punkte dazu sagen. Der erste Punkt passt gut zu dem, was bereits Herr Fuhrmann gesagt hat. Deutschland ist die viertstärkste Industrienation der Welt. Wir haben aber nur 1,2 Prozent der Weltbevölkerung, und es werden noch weniger. Dass wir viertstärkste Industrienation sind, nach den großen Playern mit vielen Menschen und mit ganz anderen Ressourcen, hat nur einen Grund: Dass wir gut waren und weiterhin gut sind in Forschung, Entwicklung und Anwendung. Das ist unser Vorteil, das hat bis jetzt funktioniert. Aber der Wettbewerb mit Indien, mit China, mit all den bevölkerungsstarken Mitbewerbern wird wesentlich intensiver. Und deswegen können wir uns nicht mehr erlauben, was in der Vergangenheit oft passiert ist: Wir hatten tolle Ideen, haben sie aber nicht selbst umgesetzt oder produziert. Ein Beispiel ist das Faxgerät, das in Deutschland erfunden und das dann in Japan produziert wurde. An dieser Stelle ist es wichtig zu sagen, dass der Transfer sehr viel stärker in den Mittelpunkt rücken muss, damit nichts mehr zwischen Entwicklung und Umsetzung verloren geht. Deswegen, Herr Neugebauer, ist Ihr Thema»mehr Wertschöpfung für Deutschland«, das Sie als Motto Ihrer Präsidentschaft ausgegeben haben, von so zentraler Bedeutung. Nur damit können wir uns unseren Wohlstand auch in Zukunft und bei veränderten Randbedingungen leisten. Ein zweiter Punkt, weshalb Fraunhofer wichtiger wird: Wir haben in Deutschland gute Ideen in den Hochschulen, wir haben eine breit angelegte Grundlagenforschung, wir haben die Wirtschaft mit ihren Forschungsabteilungen, die auch Aufträge an die Hochschulen geben. Stärker werden sollten wir bei der industriellen Anwendung von guten wissenschaftlichen Arbeiten, einer Doktorarbeit oder einer Masterarbeit zum Beispiel, bei denen man von Seiten der Industrie nicht sofort sehen kann, zu welchem konkreten Produkt das führen kann. Diesen vorwettbewerblichen Bereich zwischen einer abstrakten Idee und dem Punkt, an dem die Wirtschaft sagt, ich zahle, weil mir diese Idee etwas bringt, den müssen wir in
Deutschland stärken. Die Institution, die dafür in besonderem Maße prädestiniert ist, ist die Fraunhofer-Gesellschaft. Der dritte Punkt, der insbesondere die Bedeutung von Fraunhofer stärken wird, ist die Innovation im Mittelstand. Vor Ostern gab es eine Einschätzung der EU-Kommission zur Innovationskraft der europäischen Staaten. Deutschland erreichte dabei den zweiten Platz. Als ersten Grund dafür nannte die Studie den Mittelstand und die gewachsene Wirtschaftsstruktur mit guten Unternehmen, wie wir sie in Deutschland haben. Die Chinesen versuchen jetzt im Fünfjahresplan 50.000 oder 60.000 mittelständische Unternehmen zu gründen. Der Ansatz ist sicher richtig, aber das Ergebnis wird längst nicht das sein, was wir in Deutschland schon haben: eine gewachsene Mittelstandskultur. Ich finde es richtig, dass die Fraunhofer-Gesellschaft sich dazu entschieden hat, den Mittelstand, zum Beispiel mit den Anwendungszentren in Kooperation mit Fachhochschulen, stärker zu erreichen und zu fördern und damit sozusagen in die Breite zu gehen. Wenn wir jetzt fast drei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben, zwei Drittel davon aus der Industrie, der Rest von staatlicher Seite, dann muss das noch gesteigert werden. Wir gehören damit in Europa zur Spitze, sind viel besser als der Durchschnitt. Wollen wir diese Investitionen aber weiter steigern, dann muss die Wirtschaft und dann muss auch der Mittelstand sich stärker um Forschung und Entwicklung kümmern. Das kann er durch die Kooperation mit Fraunhofer. Und noch eine Anmerkung zur demografischen Entwicklung. Es ist ganz klar: Wenn der Nachwuchs weniger wird, dann muss man sich stärker um jeden Einzelnen bemühen. Und dann sollte man die klugen jungen Leute, die Maschinenbau oder Elektrotechnik an Fachhochschulen studieren, nicht einfach von dort direkt in die Wirtschaft gehen lassen, sondern dann sollte man ihre Ideen bei Fraunhofer nutzen und die jungen Menschen zugleich noch besser qualifizieren für die Wirtschaft. Und deswegen ist es eine gute strategische Entscheidung für die Zukunft, wenn Fraunhofer verstärkt den Mittelstand ansprechen will. Vierter Punkt: Der internationale Wettbewerb. Wie kann sich eine Nation wie Deutschland behaupten gegenüber China oder Indien oder Brasilien? Sehr viel mehr Menschen als bei uns können dort studieren oder promovieren. Deswegen ist es außerordentlich wichtig, dass wir auch die Chancen nutzen, die sich aus der Kooperation mit den großen, neuen, aufstrebenden Ländern ergeben. Und dafür brauchen wir eine Internationalisierungsstrategie. Es ist richtig und wichtig, dass Fraunhofer zum Beispiel bei unserer Strategie in Richtung China mitmacht. Wir müssen uns überlegen, was wir mit den Tausenden von chinesischen
Studenten machen können, die wir zurzeit in Deutschland haben. Das ist die größte Gruppe unter den ausländischen Studierenden. Nutzen wir dieses Potenzial? Kümmern wir uns richtig um sie, so dass sie nicht einfach nur hier studieren, sondern auch stärker eingebunden werden, damit wir dann später vielleicht einen direkten Ansprechpartner in China haben? Und noch ein fünfter Punkt unterstreicht die Bedeutung der Fraunhofer-Gesellschaft: Ich hatte gesagt, wir belegen den zweiten Platz bei der Einschätzung der EU-Kommission, wie innovativ die Nationen sind. Der eine Grund, den die Kommission nennt, ist der ausgeprägte Mittelstand. Und der andere Grund ist unsere Forschungs- und Wissenschaftsstrategie und hierbei insbesondere die Hightech-Strategie der Bundesregierung. Mit der Hightech-Strategie haben wir entschieden, viel Geld in die Grundlagenforschung zu geben, aber wir wollen uns auch mit den großen Zukunftsaufgaben beschäftigen: Gesundheit und Ernährung, Klima, Kommunikation, Mobilität, Sicherheit. Diese fünf großen Themenbereiche wollen wir mit der Hightech-Strategie besonders stärken. Die französische Forschungsministerin hat übrigens gerade den Plan entworfen, eine Innovationsstrategie für Frankreich nach dem Vorbild der deutschen Hightech-Strategie ins Leben zu rufen. Die Felder zur Umsetzung der Hightech-Strategie sind nicht nur wie für Fraunhofer gemacht, sondern daran hat Fraunhofer auch mitgearbeitet, z. B. bei dem gesamten Thema der Elektromobilität. Um zu illustrieren, welche wissenschaftspolitisch strategisch wichtigen Punkte auf der Tagesordnung stehen, möchte ich auf einen Punkt aufmerksam machen: Im Rahmen der Hightech-Strategie gibt es das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Die Vier steht für die vierte industrielle Revolution, an deren Vorabend wir gerade stehen. Bei dieser Entwicklung hat Deutschland Chancen, die andere Nationen bei weitem nicht haben. Sie haben diese Chancen nicht, nicht weil sie sie möglicherweise nicht sehen oder nicht auch einsteigen wollten. Es liegt vielmehr an der Ausgangsposition, die bei uns viel besser ist. Die Amerikaner hatten in den 60er-Jahren einen Industrialisierungsgrad von 38 bis 40 Prozent. Jetzt sind sie bei 14 Prozent. Das heißt, die müssen erst mit viel Geld wieder Industrie aufbauen. Ähnlich ist das in Großbritannien und in anderen Staaten. Wir liegen also im Vorteil, insbesondere im Maschinenbau, in der Verarbeitungstechnik, in der Verfahrenstechnik. Und wir sind spitze, wenn es um komplexe Maschinenbausysteme geht. Wir sind auch gut, wenn es um die Informatik in diesem komplexen System der Steuerung geht. Aber Industrie 4.0 bedeutet, die Produktion total zu verändern, hin zu einer individualisierten Produktion; Fließband ja, aber individualisiert und nach Bedarf. Dazu braucht man die Anbindung an das Internet.
Damit wir diese Chance in der vierten industriellen Revolution nutzen, ist es wichtig, webbasierte IT-Entwicklungen einsetzen zu können. Und ich denke, wir haben diese Chance, wenn wir die jungen Leute, die damit aufgewachsen sind und es studiert haben, an die Sache setzen. Das heißt, wir müssen jetzt Geld zur Verfügung stellen, damit diese kleinen Zwei- oder Drei-Mann-Unternehmen vorankommen, in denen junge Leute für unsere mittelständischen Maschinenbauunternehmen entsprechende IT-Technik entwickeln. Wir brauchen hierfür auch die Amerikaner, wir müssen sie nach Deutschland holen, und müssen uns eine Zeitlang dorthin begeben, um so die Informationstechnik in Deutschland zu stärken. Die Entscheidungen zur Industrie 4.0 sind in Spitzengesprächen der Kanzlerin mit Forschern entstanden. Die Überlegungen von Fraunhofer sind für uns in der Politik außerordentlich wichtig. Damit wir aber das alles möglich machen können, brauchen wir Geld. Es muss daher auch in den nächsten Jahren ein Schwerpunkt des Regierungshandelns auf Bildung und Forschung liegen. Seit 2005 ist der Etat meines Hauses um 80 Prozent gewachsen, die Fördermittel um 93 Prozent. Das sind wirklich relevante Größenordnungen. Und wir haben uns vorgenommen, dass die fünf Prozent, die die außeruniversitären Forschungseinrichtungen jedes Jahr mehr bekommen haben, so beibehalten werden, nicht nur bis 2015, sondern noch weiter darüber hinaus, so steht es jetzt im Regierungsprogramm. Damit sind die Spielräume gegeben, um neue Felder zu erschließen. Aber ganz wichtig ist, dass auch die Universitäten und die Hochschulen besser finanziert werden. Und deswegen ist eine unserer Vorstellungen, dass nicht nur der Bund bei den außeruniversitären Forschungseinrichtungen regelmäßig aufstockt, sondern dass auch eine Verpflichtung von den Ländern übernommen wird, für den Hochschulbereich den Etat stetig zu steigern. Wenn wir das schaffen, haben wir eine gute Basis neben all den Dingen, die wir schon getan haben, um auch, was die Fachkräfte betrifft, noch stärker und besser zu werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn man sagt, Wissenschaft und Forschung sollen Priorität haben, klingt das sehr abstrakt. Ich hoffe, Sie haben aus den Bemerkungen entnommen: Es ist gar nicht abstrakt, sondern es ist für die Entwicklung dieses Landes für die nächsten Jahre und Jahrzehnte außerordentlich wichtig, dass wir jetzt Geld ausgeben und dass wir dieses Geld auch richtig einsetzen. Ich denke, dass die Priorität für Wissenschaft und Forschung nicht nur an Geldern, sondern auch an der Haltung der Bundeskanzlerin deutlich wird. Wir hatten vor kurzem den amerikanischen Präsidenten zu Gast. Die Kanzlerin lud zu diesem Anlass zu einem Abendessen ein. Der Kanzlerin war es dabei ein Anliegen, die Spitzen unserer
Forschungsorganisationen dabei zu haben, und das zeigt auch an einer immateriellen Stelle, dass Wissenschaft und Forschung bei der Bundesregierung in guten Händen sind. Dass wir, Fraunhofer und die Bundesregierung, dieselbe Zielsetzung haben, Herr Neugebauer, sind doch gute Voraussetzungen für eine erfolgreiche Partnerschaft. Ich wünsche Ihnen nicht nur alles Gute zum Geburtstag, sondern dass alles andere auch so funktioniert, wie wir beide uns das vorstellen. Vielen Dank.