Beitrag zur Eröffnungsveranstaltung zum Schulversuch zur Unterrichtung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen im gemeinsamen Unterricht nach den Lehrplänen der Grund- und Regelschule Erfurt, 05.11.2009 A. Sasse / V. Helm 1
1. Vorbemerkungen 2. Funktion von Leistungsbewertung 3. Noten als klassische Form der Leistungsbewertung 4. Bezugsnormen und Perspektiven 5. Kombinationsmöglichkeiten A. Sasse / V. Helm 2
1. Vorbemerkungen A. Sasse / V. Helm 3
Im Gemeinsamen Unterricht - lernen, spielen und arbeiten - alle Kinder - in Kooperation miteinander - auf dem jeweiligen Niveau ihrer Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmöglichkeiten - am gemeinsamen Lerngegenstand. A. Sasse / V. Helm 4
n Bislang werden Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen ab Klassenstufe 3 (auch im Gemeinsamen Unterricht) nach einem Lehrplan im Bildungsgang Lernförderung unterrichtet. n Dieser Lehrplan enthält ähnliche Inhalte wie die Lehrpläne für Grund- und Regelschulen; jedoch sind im Bildungsgang Lernförderung die Bildungsziele in ihrem Umfang reduziert, weniger abstrakt formuliert und in anderen Zeiträumen zu erreichen. A. Sasse / V. Helm 5
n Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen orientieren sich im Gemeinsamen Unterricht auch an den nichtbeeinträchtigten Mitschülern. n Diese bieten ihnen bedeutsame Entwicklungsanregungen und Lernmotivationen. n Im Gemeinsamen Unterricht erreichen Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen nicht selten ein Leistungsniveau, das in einigen oder in den meisten Unterrichtsfächern über dem Niveau des Lehrplans im Bildungsgang Lernförderung liegen. A. Sasse / V. Helm 6
n Wissenschaftler verweisen seit mehr als drei Jahrzehnten darauf, dass eigene (im Anspruch reduzierte) Lehrpläne für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen dazu führen, dass diesen Schülerinnen und Schülern bestimmte Bildungsinhalte und Leistungen von vornherein gar nicht zugetraut werden. n Deshalb können diese (reduzierten) Lehrpläne selbst zu einer Ursache für die Einschränkung der individuellen Bildungsbiographie werden. A. Sasse / V. Helm 7
n Schulische Bildung soll jedoch Perspektiven für Kinder und Jugendliche nicht von vornherein einengen, sondern neue Perspektiven und Horizonte eröffnen. n An diese Überlegungen schließt der Schulversuch zur Unterrichtung von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Lernen im gemeinsamen Unterricht nach den Lehrplänen der Grund- und Regelschule an. A. Sasse / V. Helm 8
n Die Entwicklung von passenden pädagogischen Angeboten für Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf der Grundlage der Lehrpläne für die Grund-und Regelschule soll für ihre Bildungsbiographie neue Perspektiven eröffnen, statt durch die Reduktion der Angebote frühzeitig eine Einengung der Perspektive festzuschreiben. n Die konkrete Arbeit mit den Lehrplänen wird in den kommenden Arbeitssitzungen kontinuierlich eine große Rolle spielen. A. Sasse / V. Helm 9
n Noch häufiger als die Arbeit mit Lehrplänen wird mit Blick auf den gemeinsamen Unterricht die Frage diskutiert, wie die Leistungen der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf zu bewerten sind. n Für die Bewertung ihrer Leistungen ist das Notensystem der Bildungsgänge Grund- und Regelschulen wenig geeignet. n Aber auch für Schüler der Grund- und Regelschulen sind Noten nicht der einzige Bewertungsmaßstab. A. Sasse / V. Helm 10
n Neben der Orientierung am Lehrplan stellt die Entwicklung einer veränderten Leistungs- und Bewertungskultur einen bedeutsamen Schwerpunkt in der Entwicklung des Gemeinsamen Unterrichts vor. n Wenn der geistig Behinderte die Integralrechnung beherrscht, dann nehmen wir ihn auch an unserem Gymnasium auf! A. Sasse / V. Helm 11
2. Funktion von Leistungsbewertung A. Sasse / V. Helm 12
Widersprüchliche Funktionen Förder- und Auslesegedanke vertragen sich nicht Rückmeldung für Lehrer und Schüler Bericht für Eltern und Schüler Soziali- sierungsfunktion Motivations- funktion für den Schüler Disziplinierung Curriculare Kontrolle Chancenausgleichsfunktion Selektionsbzw. Zuteilungsfunktion A. Sasse / V. Helm 13
3. Noten als klassische Form der Leistungsbewertung A. Sasse / V. Helm 14
Quellen: R. Valtin Noten- oder Berichtszeugnisse? Probleme der Leistungsbeurteilung, Berlin 2009 Novara Noten- oder Verbalbeurteilung? Akzeptanz, Realisierung, Auswirkungen 1996 Brügelmann, H.: Sind Noten nützlich und nötig? Ziffernzensuren und ihre Alternativen im empirischen Vergleich, Frankfurt/M. 2006 A. Sasse / V. Helm 15
Eltern n haben einen hohen Anspruch an Qualität des Zeugnisses, n sehen das Zeugnis als bedeutsames Medium der Rückmeldung, des Leistungsstandes, der Diagnose von Stärken und Schwächen, für Fördermöglichkeiten, detaillierte Informationen zu Arbeits- und Sozialverhalten ihrer Kinder. Sie wünschen sich eine Verbindung aus Notenzeugnis und verbaler Beurteilung. A. Sasse / V. Helm 16
Schüler n kennen wesentliche Passagen ihrer letzten Zeugnisbeurteilung, n möchten keine Kopfnoten, n wünschen sich in der Mehrheit Ziffernnoten versehen mit Kommentaren. A. Sasse / V. Helm 17
Lehrer n Noten gehören zur Schule (75%), n sind notwendig zum Anspornen (50%), n sind überflüssig, ausformulierte Beurteilungen sind aussagekräftiger (44%). n Mehr Lehrkräfte aus Grund- und Sonderschulen befürworten verbale Beurteilungen (60%) als Lehrkräfte von Realschulen (21%) oder Gymnasien 26%). n Alle Formen der Bewertung werden als psychisch belastend empfunden. A. Sasse / V. Helm 18
Fragwürdigkeit von Ziffernnoten nach Brügelmann, 2006 1. Bei der Messung von schulischen Leistungen fließen immer die subjektiven Theorien der Lehrkraft mit ein. Noten erfüllen nicht die Gütekriterien. 2. Es gibt keine amtlich festgelegten Kriterien für Anforderungen. 3. Die Informationsarmut von Noten beeinträchtigt die diagnostische und didaktische Funktion von Leistungsbewertung. A. Sasse / V. Helm 19
Novara bestätigt Noten zerstören die intrinsische Motivation (zum Teil). Kinder mit schlechten Noten entwickeln stärkere Leistungsangst. Notenangst ist ebenso wie Notengeilheit zu beobachten. A. Sasse / V. Helm 20
Leistungsangst-hohe Ausprägung Vergessen von bekannten Dingen bei Lehrerfragen 60 50 40 30 20 10 0 Anfang Klasse 3 (Zustimmung in Prozent) Gedanken an ein schlechtes Ergebnis während der Mathearbeit Herz schlägt schneller, wenn Lerherin prüft Hoffnung, dass bei Rechnen jemand anders aufgerufen wird Angst bei Diktat A. Sasse / V. Helm 21
Leistungsangst - niedrige Ausprägung 19 18,5 18 17,5 17 16,5 16 Anfang Klasse 3 (Zustimmung in Prozent) Angst, beim Sportwettkampf der Schlechteste zu sein Angst vor dem Diktat Sorgen auf dem Schulweg A. Sasse / V. Helm 22
Ausprägung der Leistungsangst in den Lernbereichen Deutsch und Mathematik 50 40 30 20 10 0 Zustimmung in Prozent Rechnen Lesen vor Mathearbeit vor Diktat bei Mathearbeit bei Diktat A. Sasse / V. Helm 23
Leistungsangst "Vergleich der Noten und Verbalstichprobe" 50 45 40 35 30 25 20 15 10 5 0 Angst um Versetzung Sorge vor dem nächsten Schultag Aufregung bei Lehrerfragen Zustimmung in Prozent - Noten n=120 Zustimmung in Prozent - verbal n=241 A. Sasse / V. Helm 24
Die Zensur erfüllt damit ihre pädagogische Funktion nicht. A. Sasse / V. Helm 25
A. Sasse / V. Helm 26
Lieber Tobias! Vielen Dank für deinen Brief. Du bist wirklich schon groß! Welche Bücher hast du zu Hause? Deine Frau Müller A. Sasse / V. Helm 27
4. Bezugsnormen und Perspektiven A. Sasse / V. Helm 28
Individuelle Bezugsnorm soziale Bezugsnorm Individuelle Sachliche Bezugsnorm Welchen Fortschritt hat der Schüler gemacht? macht den Zusammenhang von Anstrengung und Leistung deutlich (förderlich) Welche Leistung zeigt das Kind im Vergleich zur Klasse? wirkt bei schwachen Schülern häufig negativ; bei starken neutral oder leicht positiv Inwieweit erfüllt das Kind den Lehrplan? Vergleich mit früheren Leistungen möglich; häufig von Eltern gewünscht A. Sasse / V. Helm 29
5. Kombinationsmöglichkeiten A. Sasse / V. Helm 30
n Individuelle Bezugsnorm? n Soziale Bezugsnorm? n Sachliche Bezugsnorm? A. Sasse / V. Helm 31
Leistung erfährt ihren Sinn von ihren dialektischen Gegenpolen her von ihrem Beitrag zur Erhöhung der Qualität des Lebens, von der Erfahrung des Glücks, der Freude des Könnens, der erfüllten Gegenwart und vom Spiel her. Solche Erfahrung kann sich bisweilen schon im Vollzug der Leistung selbst einstellen etwa im Sport oder in der konzentrierten, einsamen oder gemeinsamen Arbeit an einer Problemlösung. Jedenfalls folgt aus dieser Dialektik des Leistungsbegriffs, dass auch die Schule jungen Menschen immer wieder diese Erfahrung vom Sinn der Leistungsansprüche ermöglichen müsste Erfahrungen des persönlichen und des in Kooperation mit anderen gelingenden Könnens, die Erfahrungen des gelösten Gesprächs, des gemeinsamen Lachens, der Muße, der erfüllten Gegenwart, des Spiels. (Wolfgang Klafki) A. Sasse / V. Helm 32