Evaluation der Rehabilitation bei. Rentenantragstellern

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Transkript:

Abschlussbericht über das Forschungsprojekt der LVA Rheinland-Pfalz Evaluation der Rehabilitation bei Rentenantragstellern Projektleitung: Dr. Barbara Kulick und Dr. Lothar Florian Wissenschaftliche Mitarbeit: Dirk Enge im Rahmen des Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes Freiburg/Bad Säckingen Zeitraum: 01.09.1998 bis 30.04.2002 Förderkennzeichen: 0109979615

Inhalt 1. Die wissenschaftliche Darstellung des Projektes 6 1.1 Zusammenfassung 6 1.2 Ziele und Einführung 10 Seite 1.2.1 Hintergrund Gesetzlicher Rehabilitationsauftrag der Rentenversicherung 10 1.2.2 Stand der Forschung 12 1.2.2.1 Studien zur Effektivität der Rehabilitation unter dem Postulat Rehabilitation vor Rente 1.2.2.2 Rentenantragsteller als Problempatienten in der medizinischen Rehabilitation 12 16 1.2.3 Fragestellungen und Hypothesen 17 1.2.4 Studiendesign 19 1.2.5 Eigene Vorarbeiten 20 1.3 Projektverlauf 23 1.3.1 Vorbereitung und Organisation 23 1.3.2 Durchführung der Erhebung 25 1.4 Erhebungs- sowie Auswertungsmethodik 28 1.4.1 Stichproben 28 1.4.2 Instrumente und Variablen 31 1.4.3 Drop out-analyse 34 1.5 Ergebnisse 36 1.5.1 Beschreibung der Stichprobe 36 1.5.1.1 Geschlecht und Alter 36 1.5.1.2 Arbeitsunfähigkeitszeiten 39 1.5.1.3 Frühere Rehabilitationsmaßnahmen, Chronifizierungsdauer und Dauer der medizinischen Rehabilitation 42 1.5.1.4 Erwerbsstatus und Arbeitslosigkeit 44 1.5.1.5 Motivation und Einstellung 47 2

1.5.1.6 Reha-Status und Schweregrade der Hauptdiagnose bei Aufnahme bzw. Rentenbeginn 49 1.5.2 Rehabilitationsergebnisse 56 1.5.2.1 IRES 57 1.5.2.2 Arzt- und Therapeutenbogen 82 1.5.2.3 Fragebogen zur Beurteilung Ihrer Rehabilitation 100 (Raspe et al.) 1.5.2.4 Fragebogen zur Arbeitszufriedenheit und Ihren 110 Wiedereingliederungserwartungen 1.5.2.5 Berentung und Berentungszeitpunkt 121 1.5.2.6 Ermittlung von Prädiktoren 126 1.5.2.7 Daten der AOK Rheinland-Pfalz 130 1.5.3 Hypothesen 132 1.6 Diskussion und Ausblick 153 1.7 Überlegungen und Vorbereitungen zur Umsetzung der Ergebnisse 158 1.8 Publikationsliste 162 1.9 Literatur 163 2. Der formale Bericht 168 2.1 Übersicht zum Projekt 168 2.2 Liste laufender Drittmittel 168 2.3 Liste der Diplomarbeiten, Doktorarbeiten und Habilitationen 168 2.4 Liste der Kongress-Besuche mit Präsentationen 168 2.5 Zusammenarbeit im Verbund 169 2.6 Nationale/internationale Kooperation außerhalb des Forschungsverbundes anhand von Co-Publikationen oder anderen Belegen 169 Anhang A Anhang B Tabellen Fragebogen zur Arbeitszufriedenheit und Ihren Wiedereingliederungserwartungen 3

Danksagung Wir möchten den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der folgenden Kliniken, ohne deren Unterstützung die Durchführung der Studie nicht möglich gewesen wäre, recht herzlich danken: Rheumaklinik, Bad Säckingen, Herrn Prof. Dr. Jäckel, Herrn Dr. Baumgartner Edith-Stein-Fachklinik, Bad Bergzabern, Herrn Prof. Dr. Palme, Frau von Grabowski Orthopädische Rehabilitationsklinik Bernkastel, Bernkastel-Kues, Herrn Dr. Schmidt, Frau Sequeira, Frau Wendt Karl-Aschoff-Rhein-Pfalz-Klinik, Bad Kreuznach, Herrn Dr. Zöller, Herrn Kübler-Nolde, Frau Rickes Park-Klinik Bad Dürkheim, Bad Dürkheim, Herrn Dr. Sattler, Frau Arfeen Drei-Burgen-Klinik der LVA Rheinland-Pfalz, Bad Münster am Stein-Ebernburg, Herrn Dr. Keck, Herrn Dr. Budde, Frau Abels Psychosomatische Fachklinik Berus, Überherrn-Berus, Herrn Dr. Carls, Herrn Keller Psychosomatische Fachklinik St. Franziska-Stift, Bad Kreuznach, Herrn Prof. Dr. Rüddel, Herrn Jürgensen Psychosomatische Fachklinik Bad Dürkheim, Bad Dürkheim, Herrn Dr. Limbacher, Herrn Prof. Dr. Bischoff, Herrn Husen Klinik Burg Landshut, Bernkastel-Kues, Herrn Dr. Hettinger Psychosomatische Fachklinik Münchwies, Neunkirchen, Frau Dr. Jahrreiss, Frau Wagner Unser besonderer Dank gilt Herrn Dr. Bernhard Bührlen, seinerzeit Hochrhein-Institut Bad Säckingen, der uns unter der Leitung von Herrn Prof. Jäckel seit Beginn der Planungsphase mit Rat und Tat ideen- und hilfreich zur Seite stand. Ferner danken wir dem Methodenzentrum sowie der Geschäftsstelle des Rehabilitationswissenschaftlichen Forschungsverbundes Freiburg/Bad Säckingen, namentlich Dr. Christoph Löschmann, Jörg Herdt, Carsten Maurischat und Rainer Leonhart für die Beratung und Hilfestellung während der kompletten Studiendauer.. Die Drei-Burgen-Klinik der LVA Rheinland-Pfalz und die Psychosomatische Fachklinik Bad Dürkheim leisteten einen Beitrag zur Fragebogenentwicklung. Die Psychosomatische Fachklinik Bad Dürkheim stellte uns darüber hinaus eine Auswertungsroutine für die SCL-90-R zur Verfügung. Der AOK Rheinland-Pfalz, insbesondere Herrn Toggas, Herrn Brinkrolf, Frau Albinus und Herrn Herkner, möchten wir für ihre Kooperation und die Überlassung von Routinedaten danken. Zu guter letzt bedanken wir uns bei der Geschäftsführung der Landesversicherungsanstalt Rheinland-Pfalz, Herrn Ersten Direktor Hüfken und Herrn Direktor Munhofen, ohne deren Unterstützung ein solchermaßen umfangreiches und 4

abteilungsübergreifendes Forschungsunternehmen in einer Behörde nicht hätte realisiert werden können, den Kolleginnen und Kollegen im Sachgebiet, in der Datenverarbeitung und anderen Bereichen der Leistungsabteilung für ihre Mitarbeit sowie bei den Mitarbeiterinnen unseres Dezernats für die tatkräftige Unterstützung bei der Dateneingabe und Vorbereitung von Präsentationen und Veröffentlichungen. 5

1. Die wissenschaftliche Darstellung des Projektes 1.1 Zusammenfassung Ein hoher Anteil Versicherter wird ohne Rehabilitation im Vorfeld der Rentenantragstellung frühberentet oder erst im laufenden Rentenverfahren einer Rehabilitation zugeführt. Ziel der Studie war es, Effektivität und Langzeitwirkung medizinischer Leistungen zur Rehabilitation bei Versicherten zu prüfen, die wegen Erwerbsunfähigkeit einen Rentenantrag gestellt haben. Versicherte, die erst im laufenden Rentenverfahren einer Rehabilitationsmaßnahme zugeführt werden, werden von den Rehabilitationskliniken als schwer motivierbare und wenig aussichtsreiche Patientengruppe beschrieben. Die Studie beleuchtet eine vermutete Überinanspruchnahme medizinischer Rehabilitationsleistungen und geht der Frage nach, ob der Grundsatz Rehabilitation vor Rente seine Berechtigung hat. Zur Durchführung des Projektes waren drei Untersuchungsgruppen notwendig: Rehabilitanden mit Rentenantrag, Rehabilitanden ohne Rentenantrag sowie Versicherte, denen ohne Rehabilitation eine Erwerbsunfähigkeitsrente bewilligt worden war. Die Gruppe der Rehabilitanden mit Rentenantrag ist für die Analyse unterschieden worden in diejenigen Rentenantragsteller, die ihren Antrag vor der Rehabilitation gestellt hatten (RAv), und jene, die ihren Antrag während oder unmittelbar nach der Maßnahme gestellt haben (RAwn). In die Studie aufgenommen wurden Versicherte bzw. Erwerbsunfähigkeitsrentner mit einer Bewilligungsdiagnose aus den Diagnosengrundgruppen Orthopädie, Kardiologie und Psychosomatik. Auf der Basis der potentiellen Confounder Alter, Geschlecht, Diagnose und Schweregrad wurde ein 1:1-Matching durchgeführt, wobei jedem Rehabilitanden mit Rentenantrag je ein Rehabilitand ohne Rentenantrag sowie je ein Erwerbsunfähigkeitsrentner zugeordnet wurde. Zu fünf Zeitpunkten sind Datenerhebungen durchgeführt worden: Beginn und Ende der Rehabilitationsmaßnahme sowie 6, 12 und 24 Monate nach Rehabilitationsende. Es wurden vier verschiedene Fragebögen eingesetzt, anhand derer Daten zu unterschiedlichen Bereichen wie z. B. Gesundheitsempfinden, Arbeitsunfähigkeit, Erwerbstätigkeit, Behandlungszufriedenheit, Krankheitsdauer, Leistungsbeurteilung, Arbeitszufriedenheit sowie Therapieeinstellung erhoben worden sind. Als wesentliche Ergebnisse sind hervorzuheben: Selbstbeurteilung der Gesundheit in Beruf und Alltag im IRES (Indikatoren des Reha-Status) Rehabilitanden mit Rentenantrag waren in den letzten 12 Monaten vor Rehabilitationsbeginn signifikant länger arbeitsunfähig als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. Die Erwerbsunfähigkeitsrentner lagen hier zwischen den beiden Rehabilitandengruppen. Außerdem waren Rentenantragsteller bei Rehabilitationsbeginn im Mittel wesentlich häufiger und länger arbeitslos als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. Die Selbsteinschätzung der körperlichen und psychosozialen 6

Verfassung zeigte, dass sich Rehabilitanden mit Rentenantrag in allen Bereichen, Reha-Status im IRES sowie in den einzelnen Dimensionen, schon vor Maßnahmebeginn signifikant stärker körperlich und psychosozial beeinträchtigt fühlten als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. Ihrer Selbstbeurteilung nach war zum Zeitpunkt der Entlassung aus der Rehabilitationsklinik bei den Rentenantragstellern keine Verbesserung des Gesundheitszustandes festzustellen, die Rehabilitationsmaßnahme demzufolge subjektiv wirkungslos. Deutlich reduzieren hingegen konnten Rehabilitanden ohne Rentenantrag ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen während der Rehabilitationsmaßnahme. Sechs Monate nach der Entlassung jedoch waren die positiven Effekte der Rehabilitation auch bei dieser Gruppe nicht mehr nachweisbar, denn die Rehabilitanden ohne Rentenantrag waren wieder auf ihr Ausgangsniveau oder sogar darunter zurückgefallen. Die Differenzierung der Gruppe der Rentenantragsteller in diejenigen, die ihren Antrag vor der Maßnahme gestellt haben (RAv), und jene, die ihren Antrag während oder direkt nach der Rehabilitation gestellt haben (RAwn), konnte zeigen, dass letztere hinsichtlich ihrer gesundheitlichen Einschränkungen zwischen den beiden verbleibenden Gruppen lagen und die RAv folglich die am stärksten beeinträchtigte Gruppe war. Der Vergleich der Diagnosengruppen zeigte, dass die psychosomatischen Rehabilitanden die in allen Bereichen gesundheitlich am schwersten belastete Gruppe waren. Allerdings war eine Rehabilitationsleistung bei ihnen auch am effektivsten. Die Verbesserungen hielten häufig sogar länger als ein halbes Jahr an. Fremdeinschätzung der Gesundheit mittels Arzt- bzw. Therapeutenbogen Die arzt- bzw. therapeutenseitige Beurteilung des Gesundheitszustandes der Rehabilitanden und die Selbsteinschätzung der Rehabilitanden fielen in den meisten Punkten tendenziell ähnlich aus. Parallel zum IRES waren Rehabilitanden mit Rentenantrag laut Arzt- bzw. Therapeutenurteil körperlich und psychosozial stärker beeinträchtigt als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. Auch, kongruent mit der Selbsteinschätzung im IRES, waren es die psychosomatischen Rehabilitanden, die verglichen mit den beiden verbleibenden Diagnosengruppen als gesundheitlich am stärksten eingeschränkt beurteilt wurden. Nicht mit den im IRES ermittelten Ergebnissen übereinstimmend war lediglich die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung durch Ärzte und Therapeuten hinsichtlich der beruflichen Leistungsfähigkeit der Rehabilitanden mit Rentenantrag nach Abschluss der Rehabilitationsmaßnahme. Vergleichsweise günstig fiel die Beurteilung der körperlichen und psychosozialen Leistungsfähigkeit der Rehabilitanden mit Rentenantrag bei Rehabilitationsende in Arzt- und Therapeutenbogen aus, denn nach ärztlicher bzw. therapeutischer Einschätzung konnten knapp ein Viertel der Rehabilitanden mit Rentenantrag (23,4%) wieder einer Vollzeittätigkeit im alten Beruf nachgehen. Sogar drei Viertel (74,2%) von ihnen seien in der Lage, einer anderen als der letzten Berufstätigkeit ganztags auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nachzugehen, dies obwohl eine Rehabilitationsmaßnahme laut Selbsteinschätzung im IRES-Fragebogen keine Verbesserung des Gesundheitszustandes bei Rentenantragstellern bewirkt hatte. 7

Beurteilung der Rehabilitationsmaßnahme im Fragebogen zur Beurteilung Ihrer Rehabilitation (Raspe et al.) Die Rehabilitationsmaßnahme wurde von Rehabilitanden ohne Rentenantrag erwartungsgemäß besser beurteilt als von Rehabilitanden mit Rentenantrag. Vergleichbar zum IRES beurteilte der größte Teil der Rehabilitanden ohne Rentenantrag vier Wochen nach Rehabilitationsende ihren Gesundheitszustand als durch die Maßnahme verbessert. Rehabilitanden mit Rentenantrag waren hauptsächlich der Meinung, dass sich ihr Gesundheitszustand durch die Maßnahme nicht verändert bzw. sogar noch verschlechtert hatte. Diese Tendenz, die bereits in den anderen Instrumenten erkennbar war, setzte sich bei den Veränderungen der körperlichen und seelischen Probleme sowie der gesundheitsbedingten Einschränkungen im Alltag fort. Erneut waren es die Rehabilitanden ohne Rentenantrag, denen eine Rehabilitationsmaßnahme genutzt hat, während sich bei den Rehabilitanden mit Rentenantrag wenig verbesserte. Einschätzung der beruflichen Zukunft und Therapieeinstellung mittels Erhebungsbogen Fragen zur Arbeitszufriedenheit und Ihren Wiedereingliederungserwartungen Außer in Bezug auf die Zufriedenheit mit dem aktuellen bzw. letzten Arbeitsplatz zeigten sich auch hier die bereits in den anderen Instrumenten beschriebenen Tendenzen. In den Skalen zur differenziellen Arbeitszufriedenheit ergaben sich keine signifikanten Unterschiede zwischen den Rehabilitandengruppen. Ansonsten waren es zumeist die Rehabilitanden mit Rentenantrag, die sich als unzufriedener mit ihrer Arbeitssituation und weniger motiviert als die Rehabilitanden ohne Rentenantrag einschätzten. Unterschieden nach Indikationsgruppen waren es erwartungsgemäß die psychosomatischen Rehabilitanden, die sowohl am ehesten unzufrieden mit ihrer Erwerbssituation waren als auch die Rehabilitationsmaßnahme am wenigsten motiviert angetreten hatten. Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit Innerhalb zweier Jahre nach Beendigung der Maßnahme waren 58% der Rehabilitanden frühberentet, die übrigen 42% sind im Erwerbsleben verblieben. Diejenigen Rehabilitanden, die innerhalb des zweijährigen Zeitraumes zwischen Rehabilitationsende und 24-Monatskatamnese wegen Erwerbsminderung berentet worden sind, waren sowohl zu Rehabilitationsbeginn als auch zum Zeitpunkt der abschließenden Befragung zwei Jahre nach der Entlassung aus der Klinik im Mittel gesundheitlich schwerer beeinträchtigt als jene Rehabilitanden, die bei Abschluss der Datenerhebung nicht berentet waren. Im Katamnesezeitraum berentete waren außerdem länger arbeitsunfähig als nicht-berentete Studienteilnehmer. Ferner waren sie älter und bei Rehabilitationsbeginn häufiger arbeitslos als Nicht-Berentete. 8

Daten der AOK Rheinland-Pfalz Rehabilitanden, die bei der AOK Rheinland-Pfalz krankenversichert sind, waren sowohl bei Rehabilitationsbeginn als auch zwei Jahre nach Rehabilitationsende im Mittel gesundheitlich stärker beeinträchtigt als andere Rehabilitanden. Ein Vergleich zwischen Arbeitsunfähigkeitszeiten im Zeitraum zwei Jahre vor und zwei Jahre nach der Rehabilitation zeigt, dass sich die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage nach der Maßnahme signifikant verringert hat. Unter den AOK- Versicherten war der Frauenanteil, etwa ein Drittel, höher als unter jenen, die bei einer anderen Krankenkasse versichert sind. Bei letzteren betrug der Frauenanteil lediglich ein Viertel. Fazit Im Fokus der Studie stand die Effektivität medizinischer Rehabilitationsleistungen bei Versicherten, die einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente gestellt und erst während des laufenden Rentenverfahrens an einer Rehabilitation teilgenommen haben. Es konnte festgestellt werden, dass eine Rehabilitation im laufenden Rentenverfahren in den meisten Fällen laut Selbsteinschätzung wirkungslos war. Optimistischer fiel die sozialmedizinische Leistungsbeurteilung im Arzt-bzw. Therapeutenbogen aus. Zwei Jahre nach Rehabilitationsende waren gerade knapp 60% der Rehabilitanden mit Rentenantrag wegen verminderter Erwerbsfähigkeit berentet. Dies bedeutet, dass mehr als 40 % der Rentenantragsteller mindestens weitere 2 Jahre nach einer Rehabilitation im Erwerbsleben verblieben mit entsprechenden Kostenvorteilen für den Rentenversicherungsträger. Die vermutete Überinanspruchnahme konnte nicht festgestellt werden, der Grundsatz Rehabilitation vor Rente behält nach dieser Studie weiterhin seine Berechtigung. Als wichtigste Prädiktoren für eine Berentung wegen verminderter Erwerbsfähigkeit innerhalb zweier Jahre nach Abschluss einer Rehabilitationsleistung wurden die Rentenantragstellung, der Reha-Status vor Rehabilitationsbeginn (IRES), das Lebensalter des Versicherten sowie die Arbeitsunfähigkeitszeit in den letzten 12 Monaten vor Rehabilitationsbeginn ermittelt. Die genannten Variablen leisteten mit 38,6% (R² nach Cox und Snell) bzw. 53,1% (R² nach Nagelkerke) einen großen Erklärungsbeitrag. Überlegungen zur Umsetzung der Projektergebnisse richten sich sowohl auf eine Verbesserung der Verwaltungspraxis beim Rentenversicherungsträger als auch auf eine verstärkte Ausrichtung der rehabilitativen Angebote auf die spezifischen Bedürfnisse von Rentenantragstellern bzw. chronisch schwerer beeinträchtigten Rehabilitanden mit erhöhtem Berentungsrisiko. Eine enge Verzahnung von Arbeitsbereichen, die sich beim Leistungsträger mit Rehabilitation und Rente beschäftigen, mehr Transparenz sozialrechtlicher Vorgaben im Einzelfall gegenüber den Rehabilitationseinrichtungen sowie die Entwicklung indikativer Rehabilitationsangebote und Nachsorgeleistungen für diese Gruppe schwer beeinflussbarer Versicherter werden als Konsequenz aus den Ergebnissen dieser Studie angeregt. 9

1.2 Ziele und Einführung 1.2.1 Hintergrund Gesetzlicher Rehabilitationsauftrag der Rentenversicherung Die Finanzierbarkeit von Rente und Rehabilitation und damit die Zukunft des gesetzlichen Rentenversicherungssystems ist in den letzten Jahren in den Fokus öffentlicher Diskussion gerückt. Bedarf für eine weitgehende Rentenreform wird wegen der zu erwartenden demografischen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten bei gleichzeitig rückläufiger Teilnahme am Erwerbsleben wegen Arbeitslosigkeit gesehen. Betrachtet man die Berentungssituation am Beispiel der LVA Rheinland-Pfalz, einem Träger der Arbeiterrentenversicherung mit insgesamt ca. 900.000 aktiven Versicherten, so ist festzustellen, dass im letzten Jahrzehnt sowohl die Anträge als auch insbesondere die Bewilligungen von Versichertenrenten abgenommen haben. So wurden 1998 im Vergleich zu 1994 6,1 % weniger Rentenanträge gestellt und 10,4 % weniger Renten bewilligt. Die LVA Rheinland-Pfalz hat 1998 zum Zeitpunkt des Studienbeginns - 35.829 Versichertenrenten neu bewilligt. Davon waren: Renten wegen Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit 22 % Vorzeitige Altersrenten (u. a. wegen Arbeitslosigkeit) 41 % Regelaltersrenten 37 % 63 % der Berentungen entfielen damit auf Versicherte, die vor Erreichen der Regelaltersgrenzen aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Gut ein Fünftel aller Berentungen erfolgte wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit, d. h. wegen einer Erwerbsminderung durch Krankheit und Funktionsbeeinträchtigungen, die dem Betreffenden auf absehbare Zeit nicht mehr erlauben, eine Arbeit von wirtschaftlichem Wert zu erbringen. Die Väter der Rentenversicherung hatten bereits sehr früh erkannt, dass vorzeitige Berentung wegen Erwerbsminderung mit erheblichen finanziellen Einbußen nämlich Beitragsverlusten und Rentenzahlungen einhergeht, und haben deshalb im Sozialgesetzbuch VI früher RVO gesetzlich den Auftrag zur Rehabilitation vor Rente verankert. So heißt es im SGB VI, 9 Aufgabe der Rehabilitation (1) Die Rentenversicherung erbringt medizinische, berufsfördernde und ergänzende Leistungen zur Rehabilitation, um 10

1. den Auswirkungen einer Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit der Versicherten entgegenzuwirken oder sie zu überwinden und 2. dadurch Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit der Versicherten oder ihr vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder sie möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben wiedereinzugliedern. Die Leistungen zur Rehabilitation haben Vorrang vor Rentenleistungen, die bei erfolgreicher Rehabilitation nicht oder voraussichtlich erst zu einem späteren Zeitpunkt zu erbringen sind. (2) Die Leistungen nach Absatz 1 können erbracht werden, wenn die persönlichen und versicherungsrechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Die Versicherten sind verpflichtet, an der Rehabilitation aktiv mitzuwirken. Danach ist es gesetzliches Ziel der Rehabilitation, die sowohl medizinische Leistungen als auch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben umfasst, den Auswirkungen von Krankheit und Behinderung auf die Erwerbsfähigkeit entgegenzuwirken und die Erwerbsfähigkeit wieder so herzustellen, dass der Versicherte möglichst dauerhaft in das Erwerbsleben eingegliedert wird und bleibt. Dies bedeutet auf den Punkt gebracht: der Versicherte soll durch Rehabilitation befähigt werden, wieder bzw. weiter Beiträge zur Rentenversicherung zu zahlen. Der Vorrang Rehabilitation vor Rente impliziert weiterhin, dass vor Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit eine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt werden soll, um nach Möglichkeit ein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Erwerbsleben zu verhindern oder zumindest den Beginn einer Rente kostensparend zu verzögern. Die Rehabilitation der Rentenversicherung richtet sich ganz überwiegend auf chronische Gesundheitsschäden, bei denen die völlige Wiederherstellung mit akutmedizinischen Mitteln nicht erreichbar ist und die Funktionsfähigkeit in Beruf, Gesellschaft und Familie als Folge dieser chronischen Gesundheitsschäden eingeschränkt ist. Die Rentenversicherung beauftragt zur medizinischen Rehabilitation qualifizierte Rehabilitationskliniken, die nach einem interdisziplinären, umfassenden und ganzheitlichen Ansatz arbeiten und deren Konzepte neben ärztlicher und somatischer Behandlung unter anderem psychologische, psychotherapeutische, soziotherapeutische und berufsintegrierende Interventionen einschließen. Gelingt es der Rehabilitation nicht, ihren Rehabilitationsauftrag zur nachhaltigen Besserung der Leistungsfähigkeit im Erwerbsleben zu erfüllen, ist der Eintritt des Versicherungsfalles zu prüfen, nämlich ob eine Frühberentung wegen Erwerbsunfähigkeit oder Erwerbsminderung erfolgen muss. 11

1.2.2 Stand der Forschung 1.2.2.1 Studien zur Effektivität der Rehabilitation unter dem Postulat Rehabilitation vor Rente Die Rentenversicherung hat im Jahre 1998 ca. 640 000 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbracht und dafür 5 236,1 Mio. DM aufgewendet. Im Jahre 2001 waren es 892.687 medizinische Rehabilitationsleistungen mit einem Gesamtaufwand von 1 783,3 Mio. EUR. Mit der Budgetierung durch die Spargesetze sind seit 1996 dem zukünftigen Wachstum der Rehabilitation deutliche Grenzen gesetzt. Angesichts der zunehmenden Verknappung finanzieller Ressourcen im Rehabilitationssektor gewinnt die Frage an Aktualität, ob die Rehabilitation der Rentenversicherung ihren Gesetzesauftrag hinsichtlich Frühzeitigkeit und Wirksamkeit tatsächlich erfüllt. Kann man belegen, dass das Geld für die Rehabilitation so effizient eingesetzt wird, dass damit vorzeitige Rentenleistungen vermieden werden, so wäre dies ein starkes Argument für den Erhalt bzw. sogar Ausbau der Rehabilitation. Im Rahmen der Reha-Verlaufsstatistik (Müller-Fahrnow, Löffler, Schuntermann & Klosterhuis, 1989) wurde als Erfolgsmaß der medizinischen Rehabilitation im Vier-Ebenen-Modell die sozialmedizinische Prognose als das Fünf-Jahres-Ergebnis von medizinischen Rehabilitationsmaßnahmen im Hinblick auf den Verbleib im Erwerbsleben erstellt. Es konnte nachgewiesen werden, dass bei der Gesamtheit aller Maßnahmen zwischen 60 und 70 % der Rehabilitanden weiterhin im Erwerbsleben verblieben. Unter Berücksichtigung der Altersruhegeldzugänge lag der Erfolg medizinischer Rehabilitationsleistungen in Abhängigkeit von Geschlecht und Versicherungszweig sogar zwischen 71 und 85 %. Unter Berücksichtigung des Alters zeigte sich, dass vor allem wenn medizinische Rehabilitationsleistungen im Frühstadium und vor dem 45. Lebensjahr der Versicherten eingeleitet werden, diese zur Verbesserung der Erwerbsprognose deutlich beitragen (Biefang, Potthoff, Bellach, Ziese & Buschmann-Steinhage, 1996). Schuntermann (1988) konnte zeigen, dass die Berentung bei psychiatrischen Erkrankungen um 9,2 Jahre hinausgeschoben werden kann, wenn in den fünf Jahren vor der Berentung eine Rehabilitation durchgeführt wurde. Die sozialmedizinische Zweijahresprognose aus dem Jahre 1996 (Irle, Klosterhuis, Grünbeck 1998) hat gezeigt, dass insgesamt 15 % der Versicherten der Arbeiterrentenversicherung, die an einer medizinischen Rehabilitationsleistung teilgenommen haben, innerhalb von zwei Jahren nach der Reha-Leistung wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bzw. Berufsunfähigkeit (BU) aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. Ein Blick auf die Diagnosengrundgruppen zeigt, dass bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen 22 % der Rehabilitanden, bei den muskuloskeletalen Erkrankungen 9 % und bei den psychischen Erkrankungen (ohne Sucht) 12 % zwei Jahre nach der Rehabilitation aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind. 12

Zielke (1993) kommt nach einer Analyse des Rentenzugangsalters zu dem Schluss, dass Rehabilitationsmaßnahmen das durchschnittliche Berentungsalter wesentlich nach oben verschieben können. Durch diese Verzögerung des Rentenzugangsalters kann erheblich Geld gespart werden. Der Einspareffekt wird auch nicht durch die Kosten der Rehabilitation geschmälert. Allein mit einer dreimonatigen Beitragszahlung, so Zielke, können die Kosten einer dreiwöchigen medizinischen Rehabilitation ausgeglichen werden. Obwohl durch Reha-Verlaufsuntersuchungen belegt werden kann, dass der Eingliederungserhalt nach Rehabilitation hoch ist, haben bei weitem nicht alle Frührentner vor ihrer Frühberentung an einer Rehabilitation teilgenommen. Schuntermann, Löffler, Müller-Fahrnow und Braun (1990) stellten einen Anteil der BU-/EU-Rentner mit positiver Rehabilitationsanamnese in den letzten fünf Jahren vor Berentung von 42 bis 56 % je nach Versicherungszweig und Erkrankungsgruppe fest. Umgekehrt heißt dies, dass 44 bzw. 58 % der Frührentner in den Jahren vor der Berentung nicht als rehabilitationsbedürftig identifiziert wurden und nicht an einer Rehabilitation, sei es in den Jahren vor der Antragstellung, sei es im laufenden Rentenverfahren, teilgenommen haben. Aus der Rentenzugangsstatistik des VDR aus dem Jahr 2000 ergibt sich für die Arbeiterrentenversicherung, dass in den letzten fünf Jahren vor der Berentung ca. 49 % der erwerbsunfähig berenteten Männer und 54 % der Frauen an keiner medizinischen Rehabilitationsleistung teilgenommen haben. Die Unterschiede bei den einzelnen Krankheitsbildern zeigt die Zusammenstellung aus der VDR-Statistik 2000 in Tabelle 1: Erkrankungen Anzahl der Frührenten Durchführung einer medizinischen Rehabilitation in den letzten fünf Jahren vor Berentung Männer Frauen Männer Frauen Krebs 16.178 12.649 8.452 52,24% 5.579 44,11% Stoffwechsel 3.834 1.779 2.150 56,08% 975 54,81% Nervensystem 6.397 4.732 3.464 54,15% 2.393 50,57% Kreislaufsystem 21.755 6.573 9.841 45,24% 2.989 45,47% davon Herzerkrankungen 11.870 2.553 4.948 41,68% 1.070 41,91% Atmungsorgane 4.671 1.936 2.376 50,87% 877 45,30% Verdauungsorgane 3.300 1.618 2.022 61,27% 894 55,25% Skelett, Muskeln, Bindegewebe 34.972 19.122 16.089 46,01% 8.093 42,32% Verletzungen, Vergiftungen 4.538 1.551 2.899 63,88% 856 55,19% Psychische Erkrankungen 25.665 25.785 15.000 58,45% 12.518 48,55% Gesamt 121.310 75.745 62.293 51,35% 35.174 46,44% VDR Statistik Bd. 137 Rentenzugang 2000 Der Anteil an Frühberentungen ohne Durchführung einer medizinischen Rehabilitationsleistung in den letzten 5 Jahren hat sich damit verringert. 1995 waren es 58,8 % und 1998 immerhin noch 13

52,1 % der Frührentner, die vor ihrer Berentung an keiner medizinischen Rehabilitation in den letzten fünf Jahren teilgenommen hatten. Zu Ergebnissen in vergleichbarer Größenordnung kam Zielke (1993). Einen Anteil von 51 % Rentenantragstellern mit positiver Rehabilitationsanamnese fand er jedoch nur bei Männern mit ischämischen Herzerkrankungen, bei anderen Erkrankungen und bei Frauen insgesamt lag der Anteil mit maximal 39 % wesentlich darunter, bei psychiatrischen Krankheiten sogar nur bei 28 %. Mehr als zwei Drittel der Frührentner mit Rehabilitation haben diese erst im Jahr vor der Berentung erhalten (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 1996). Die Inanspruchnahme von Rehabilitationsleistungen durch Frührentner wird nach Behrens und Dreyer-Tümmel (1995) durch Alter und Geschlecht der Versicherten sowie bestehende Arbeitslosigkeit und die Stabilität des Beschäftigungsverhältnisses beeinflusst. Vergleichbare Ergebnisse zur VDR-Statistik für die gesamte Arbeiterrentenversicherung wurden in einer Vorstudie zu diesem Projekt (s. ausführlich Kap. 1.2.5) an 300 Versicherten der LVA Rheinland-Pfalz erzielt, denen im zweiten Halbjahr 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt worden war. In der Studie sollte die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen vor dem aktuellen Rentenbeginn untersucht werden. Die Zufallstichprobe setzte sich zusammen aus 22 % Frauen und 78 % Männer. Als wichtigstes Ergebnis zeigte sich, dass bei insgesamt 45 % der Versicherten, davon bei 36 % der orthopädischen Patienten, bei 55 % der psychiatrischen und bei 44 % der Herz-Kreislauf-Patienten in den letzten fünf Jahren vor der Berentung keine Rehabilitationsleistung durchgeführt worden war. Zieht man nur die Rehabilitationen bezüglich der Hauptdiagnose in Betracht, dann erhöhte sich der Anteil sogar auf 61 %. Als Ergebnis der vorliegenden Rentenversicherungsstatistiken ist an dieser Stelle festzuhalten, dass trotz deutlicher Belege für die Wirksamkeit der Rehabilitation unter der Zielsetzung der Rentenversicherung dem Postulat Rehabilitation vor Rente offenbar nur ungenügend Rechnung getragen wurde und Chancen zur erfolgreichen Einflussnahme nicht ausreichend genutzt werden. Es gibt bisher nur wenige Studien, denen Hinweise auf Variablen, die den Rehabilitationserfolg bezüglich einer Berentung beeinflussen und die damit als Prädiktoren des Rehabilitationserfolges in Frage kommen, zu entnehmen sind. Schliehe und Haaf (1996) zeigten, dass Diagnose bzw. Schwere der Erkrankung den Erfolg medizinischer Rehabilitation beeinflussen. Die Autoren berichten, dass der Anteil der Versicherten, die mindestens fünf Jahre nach der medizinischen Rehabilitation weiterhin im Erwerbsleben verbleiben, je nach Art der Rehabilitationsmaßnahme schwankt, z. B. über 80 % nach einer Entwöhnungsbehandlung und über 50 % nach einer Anschlussheilbehandlung und über 65 % nach einer allgemeinen stationären Rehabilitationsleistung. In einer Studie von Angermann und Dreschler (1991) nahm nur jeder zweite Versicherte, der vor der Rehabilitation arbeitsunfähig war, danach wieder eine Beschäftigung auf, von den Versicher- 14

ten mit einer ischämischen Herzkrankheit sogar nur 33 %. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Effektivität der Rehabilitation stark von der Auswahl der Rehabilitanden abhängt. In einer weiteren Studie der Autoren (Angermann & Dreschler, 1992) wurde der große Einfluss psychosozialer Faktoren (Alter, Grad der Berufsausbildung) auf die Berentungsquote von Rehabilitanden im Herz-Kreislauf-Bereich belegt. Die kardiale Belastbarkeit hatte keinen wesentlichen Einfluss. Auch Grande, Schott und Badura (1996) identifizierten insbesondere das Alter, eine hohe berufliche Qualifikation, ein geringes Maß an kardialen und unspezifischen Beschwerden sowie eine positive Selbsteinschätzung der Genesung als Prädiktoren erfolgreicher beruflicher Reintegration nach kardiologischer Rehabilitation. Auch Faßmann (1991) hält die Motivation hinsichtlich einer weiteren Erwerbstätigkeit für eine bedeutsame Einflussgröße auf den Rehabilitationserfolg. Dörning, Haase, Hofmann und Schwartz (1996) identifizierten als Prädiktoren für Berentungen wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit in erster Linie die Arbeitsunfähigkeitstage, den Beschäftigungsstatus, den Versichertenstatus und das Lebensalter. Wille u. a. (1997), aber auch Irle u. a. (1998) berichten mit Verweis auf Daten der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), dass mit der Dauer der Arbeitsunfähigkeit der Verbleib im Erwerbsleben sinkt. Nach diesen Autoren ist der Sprung im Frühberentungsrisiko zwischen der vorhergehenden Arbeitsunfähigkeitszeit von unter und von über drei Monaten besonders auffällig. Da das Berentungsrisiko hier nämlich um mehr als das Doppelte steigt, ist dieser Drei- Monatszeitraum ein für die langfristige Prognose offenbar äußerst kritischer Bereich. Dauert die Arbeitsunfähigkeit länger als sechs Monate, gelingt die Wiedereingliederung ins Erwerbsleben fast nur noch bei jedem Zweiten dieser Rehabilitanden. 42 % der Versicherten mit sechs und mehr Monaten Arbeitsunfähigkeit waren fünf Jahre nach psychosomatischer Rehabilitation berentet. Als weitere Einflussfaktoren auf das Berentungsgeschehen nach der Rehabilitation werden neben Alter, Geschlecht und Hauptdiagnose auch Faktoren des Sozialsystems und des Arbeitsmarktes diskutiert. Dabei spielen nach Faßmann, Kentner, Passenberger und Wasilewski (1985) sowohl institutionelle Bedingungen wie z. B. die Vermittelbarkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie auch persönliche Lebensumstände (z. B. Familienverhältnisse, sozioökonomische Lage), berufstypische Belastungsmuster, Faktoren der Berufsausbildung und des Arbeitsumfeldes (z. B. Zeiten der Arbeitslosigkeit und Zufriedenheit mit dem Einkommen) eine wichtige Rolle. Bei allen diesen Untersuchungen blieb der Zeitpunkt der Rentenantragstellung außer Betracht, so dass nicht bekannt ist, ob diese Einflussfaktoren auch für Versicherte gelten, die im laufenden Rentenverfahren an einer Rehabilitation teilnehmen. Der Zeitpunkt der Rentenantragstellung kann aber hinsichtlich der Ausgangsbedingungen, des Rehabilitationsbedarfs und der Erfolgsaussichten von entscheidender Bedeutung sein. 15

1.2.2.2 Rentenantragsteller als Problempatienten in der medizinischen Rehabilitation Hinsichtlich der Ausgangsbedingungen, des Rehabilitationsbedarfs und der Erfolgsaussichten ist vermutlich von Bedeutung, zu welchem Zeitpunkt Rehabilitationsmaßnahmen erfolgen. Bis heute haben wir keinerlei empirische Evidenz, ob Rehabilitation auch dann noch wirksam zum Eingliederungserhalt beiträgt, wenn bereits ein Rentenantrag gestellt ist. Versicherte, die einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente gestellt haben und im laufenden Rentenverfahren vom Rentenversicherungsträger in eine Rehabilitationsklinik geschickt werden (Bückers, Kriebel & Paar 2001), sind ein ungeliebtes Klientel, da sie als kaum motivierbar und wenig erfolgversprechend im Hinblick auf das Ziel beruflicher Wiedereingliederung gelten. Diese Patienten erregen Ärger und Resignation bei Ärzten und Therapeuten, da ihr Berentungswunsch oft nicht mit ihrem Gesundheitszustand korrespondiert und sie Widerstand gegen therapeutische Bemühungen - passiv oder aktiv verweigernd - leisten. Die Rehabilitation gilt in den Augen des Rentenantragstellers oft als Schritt auf dem Weg zur Rentengewährung, der keine Alternativen zulässt (Zielke 1993). Nach Plassmann und Färber (1995) nehmen Rentenbewerber ein spezifisches Rentenverhalten ein, das er als soziale Regression bezeichnet. Er unterscheidet zwischen einer Desorientierungsphase, in der erste Zweifel am bisherigen Lebenskonzept und der Leistungsfähigkeit auftreten, einer Ambivalenzphase, in der der Betreffende sich mit der Frage beschäftigt, ob nicht eine Berentung die beste Lösung wäre, und einer Schlussphase, in der der Versicherte von seiner Invalidität überzeugt ist und keine Energie mehr in die Rehabilitation investiert. Abb. 1: Rentenentwicklung nach Plassmann und Färber (1995) schwer objektivierbare Krankheitsfolgen soziale Regression (Rentenverhalten, Rentenerwartung, Rentenantrag) Krankheitsverarbeitung subjektive Krankheitstheorie Krankheitsgewinn familiäre Erwartungen Behandlungsversäumnisse verschlossener Arbeitsmarkt Rehabilitation oder Berentung 16

Krankheit und Behinderung sind nach klinischer Beobachtung somit häufig überlagert durch das Rentenbegehren, durch psychosoziale Ausgrenzungsprozesse und arbeitsmarktbedingte Einschränkungen, die sich zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung bereits so verfestigt haben können, dass therapeutische Bemühungen oft vergeblich erscheinen. Diesbezügliche Hinweise fand Zielke 1993 in seinen Untersuchungen an über 6.000 Patienten in der psychosomatischen Rehabilitation. In seiner Klinikstichprobe befanden sich 9 % Rentenantragsteller in den verschiedenen Phasen des Rentenverfahrens. Die Rentenbewerber in der psychosomatischen Rehabilitation waren im Vergleich zu den Patienten ohne Rentenverfahren sieben bis zehn Jahre älter, doppelt so häufig arbeitslos, hatten deutlich erhöhte Arbeitsunfähigkeitszeiten und litten häufig unter schwer beeinflussbaren Krankheitsbildern, z. B. an Persönlichkeitsstörungen und psychosomatischer Komorbidität. Die Dauer der Erkrankung seit Erstmanifestation war jedoch nicht signifikant länger als bei Rehabilitanden ohne Rentenverfahren. Die Suche nach diagnoseabhängigen Risikoprofilen ergab, dass sich insbesondere Schmerzsyndrome, Persönlichkeitsstörungen und hysterische bzw. hypochondrische Formen der Wahrnehmung und Erlebnisverarbeitung als schwer zu beeinflussende Krankheitsbilder erwiesen, die - so Zielke - offensichtlich wegen der hohen Konsistenz der Beeinträchtigungen, der Beschwerden und der ständigen Probleme im interaktionellen Verhalten mit einem hohen Berentungsrisiko verbunden sind. Angststörungen, funktionelle Störungen und Essstörungen hingegen sind nach Zielke hinsichtlich eines Rentenverfahrens weniger gefährdet. Weiterhin fand Zielke heraus, dass das Berentungsrisiko von Patienten in der psychosomatischen Rehabilitation sich weitgehend am Vorliegen organischer Krankheitsbilder mit chronischen und/oder progredienten Verläufen orientiert. Unter Berücksichtigung psychosomatisch komorbider Erkrankungen fand sich bei den Patienten einer psychosomatischer Klinik ein über dreifach erhöhtes Berentungsrisiko, wenn neben der psychischen Symptomatik auch ein körperliches Behandlungsleiden vorlag. Zielke interpretiert dieses Ergebnis als Bestreben der Patienten, sich bei Initiativen zu einer vorzeitigen Berentung eindeutig an organischen Krankheitsmodellen und den daraus resultierenden Einschränkungen zu orientieren. Zielke sieht im Rentenbegehren einen Bewältigungsversuch der Betroffenen, eine Leistungseinschränkung medizinisch und rechtlich bestätigen zu lassen, um von der eigenen Verantwortung für die soziale Absicherung entbunden zu werden. Therapeutische Versuche zur Rehabilitation würden von Rentenbewerbern oft als Bedrohung wahrgenommen und der Widerstand gegen rehabilitative Beeinflussung als Voraussetzung für die angestrebte Rentengewährung betrachtet. 1.2.3 Fragestellungen und Hypothesen Fragt man nach dem Erfolg medizinischer Rehabilitation bei Rentenantragstellern, so stellt man sehr schnell ein evaluatives Defizit fest. Obwohl eindrucksmäßig viele Kliniker an der Erfolglo- 17

sigkeit medizinischer Rehabilitation bei Rentenantragstellern keinen Zweifel haben, gibt es bisher keine prospektiven Studien zum Rehabilitationserfolg dieser Fallgruppe. Weder aus den Rehabilitationskliniken noch von den Rentenversicherungsträgern wurden bisher systematische Untersuchungen zur Beschreibung dieser Patientengruppe in der Rehabilitation noch zur Bewertung des Rehabilitationsergebnisses im Hinblick auf die Kriterien Eingliederungserhalt und Befundbesserung im Vergleich zu sonstigen Versichertengruppen unternommen. Mit der vorliegenden Untersuchung, die im Rahmen des Förderschwerpunktes Rehabilitationswissenschaften und im Forschungsverbund Freiburg/Bad Säckingen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) und des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger (VDR) im Zeitraum September 1998 bis April 2002 durchgeführt wurde, sollte erstmals die Rehabilitation bei Rentenantragstellern evaluiert werden. Dabei standen folgende wesentliche Fragen im Vordergrund: In welchen Merkmalen unterscheiden sich Rentenantragsteller von sonstigen Rehabilitanden und frühberenteten Versicherten ohne Rehabilitation? Profitieren sie von der medizinischen Rehabilitation, und gibt es zielgruppenspezifische Unterschiede in der Effektivität von Rehabilitationsleistungen? Lassen sich Rentenantragsteller mit ungünstigen Erfolgsaussichten frühzeitig identifizieren, damit man sich Geld und Mühe sparen kann und eine Überinanspruchnahme von Rehabilitationsleistungen vermeidet? Wie muss das Rehabilitationsangebot für Rentenantragsteller aussehen, die von Rehabilitationsleistungen profitieren könnten? Bedarf es spezifischer Angebote für diese Kerngruppe in der Rehabilitation? Diesen Fragestellungen ist die vorliegende Studie mit folgenden Hypothesen nachgegangen: Hypothesen: 1. Rehabilitanden mit Rentenantrag unterscheiden sich von Versicherten, die eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ohne vorausgegangene Rehabilitation erhalten, hinsichtlich verschiedener Parameter: a) Rehabilitanden mit Rentenantrag sind jünger b) Rehabilitanden mit Rentenantrag sind häufiger männlich c) Rehabilitanden mit Rentenantrag sind subjektiv weniger schwer beeinträchtigt. 2. Rehabilitanden mit Rentenantrag sind subjektiv und im Arzturteil schwerer beeinträchtigt, im Durchschnitt älter und häufiger arbeitsunfähig oder arbeitslos als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. 18

3. Rehabilitanden mit Rentenantrag haben bei Beginn und bei Ende der Rehabilitation eine geringere Erfolgserwartung hinsichtlich ihrer späteren Erwerbsfähigkeit als Rehabilitanden ohne Rentenantrag. 4. Rehabilitanden mit Rentenantrag profitieren substantiell von einer Rehabilitationsmaßnahme. Die durchschnittlichen Verbesserungen sind aber kleiner als bei Rehabilitanden ohne Rentenantrag. 5. Unabhängig von der Rentenantragstellung unterscheiden sich die Diagnosengruppen kurzund langfristig substantiell hinsichtlich des Rehabilitationsergebnisses. 6. Rehabilitanden mit höherer Arbeitszufriedenheit und positiver Rehabilitationseinstellung sowie geringeren Arbeitsunfähigkeitszeiten haben eine hohe Wiedereingliederungserwartung. 7. Der Berentungsstatus nach Ende der Rehabilitationsmaßnahme ist abhängig von Alter, beruflicher Qualifikation, Beschäftigungsstatus und Antragstellung vor Rehabilitationsbeginn sowie von der Wiedereingliederungserwartung und dem Ergebnis der Rehabilitation. 1.2.4 Studiendesign Zunächst erfolgte eine Vollerhebung der Personen, die in eine der drei Diagnosengrundgruppen - Kardiologie, Orthopädie, Psychosomatik - fielen, bei der LVA Rheinland-Pfalz einen Antrag auf Erwerbsunfähigkeitsrente (RA) gestellt und innerhalb eines Jahres eine Rehabilitationsmaßnahme begonnen hatten (Rehabilitanden mit Rentenantrag). Dies ist insgesamt die zahlenmäßig kleinste Gruppe. Als erste Vergleichsgruppe wurde eine Stichprobe von Rehabilitanden ohne Rentenantrag gezogen. Auf der Basis der potentiellen Confounder Diagnose, Alter, Geschlecht und ärztliche Schweregradeinschätzung wurde ein Matching durchgeführt, so dass jedem Versicherten der Experimentalgruppe ein Rehabilitand ohne Rentenantrag zugeordnet wurde. Als zweite Vergleichsgruppe wurde eine Zufallsauswahl aus den Versicherten der LVA gezogen, die innerhalb eines Jahres eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU-Rente) bewilligt bekommen hatten, ohne während des laufenden Rentenverfahrens an einer Rehabilitation teilgenommen zu haben (Rentner ohne Rehabilitation). Diese Gruppe wurde ebenfalls auf der Grundlage der Einflussgrößen Diagnose, Alter und Geschlecht mit den Rehabilitanden mit Rentenantrag parallelisiert. Durchgeführt wurden Erhebungen zu fünf Zeitpunkten: In den beiden Gruppen von Rehabilitanden sind bei Beginn der Rehabilitation auf Patientenseite u.a. soziodemographische Parameter, Vorbehandlungen, Arbeitsunfähigkeitszeiten, Teilnahmemotivation und Aussichten auf eine berufliche Wiedereingliederung nach der Rehabilitation erhoben worden. In einem Arzt- bzw. Therapeutenbogen wurden Eingangsdiagnose, Schweregrad der körperlichen und psychosozialen Beinträchtigung sowie Dissimulations- versus Aggravationstendenzen festgehalten. Bei Rehabilitationsende wurde die kurzfristige Wirksamkeit der Maßnahme aus Sicht des Patienten und des 19

Arztes erfragt. In drei katamnestischen Erhebungen, 6, 12 und 24 Monate nach der Entlassung aus der Rehabilitationseinrichtung, wurden die Versicherten zu ihrer Beschäftigungssituation bzw. Berentung und zur mittel- bzw. langfristigen Effektivität der Rehabilitationsmaßnahme befragt. Der Berentungsstatus wurde aus den der LVA Rheinland-Pfalz vorliegenden Daten ermittelt. In der Gruppe der Rentenzugänge ohne Rehabilitation wurden nur zu einem Zeitpunkt Daten erhoben. Dabei handelte es sich um bei der LVA verfügbare soziodemographische und diagnostische Daten. Dieser Stichprobe wurde zusätzlich der IRES-Fragebogen zugesandt. Abb. 2: Untersuchungsverlauf Erhebungszeitpunkt 1 (Beginn der Rehabilitation) Erhebungszeitpunkt 2 (Ende der Rehabilitation) Erhebungszeitpunkte 3-5 (Katamnesen: 6, 12, 24 Monate nach Reha-Ende) Rehabilitanden mit Rentenantrag Rehabilitanden ohne Rentenantrag Jan. 99 - Jan. 00 Mrz. 99 - Jan. 00 soziodemographische Parameter Eingangsdiagnose(n) Krankheitsverlauf/Vorbehandlungen AU-Zeiten Wiedereingliederungschancen Selbsteinschätzung des Reha-Status körperliche und psycho-soziale Beeinträchtigungen Feb. 99 - Feb. 00 Apr. 99 - Feb. 00 kurzfristige Wirksamkeit der Maßnahme aus Sicht des a) Patienten b) Arztes Behandlungszufriedenheit Wiedereingliederungserwartungen (Erwerbsleben) Entlassungsdiagnosen und Schweregrad Jul. 99 - Feb. 02 Okt. 99 - Apr. 02 Beschäftigungssituation bzw. Berentung ggf. Ursache der Berentung mittel- bzw. langfristige Effektivität der Rehabilitationsmaßnahne Rentner ohne Rehabilitation Mrz. 00 - Aug. 00 Berentungsdiagnose soziodemographische Parameter / Berufsgruppe Reha-Status bei Teilstichprobe (parallelisiert mit Stichprobe Rehabilitanden mit Rentenantrag) 1.2.5 Eigene Vorarbeiten Im Vorfeld des Projektes wurde im Frühjahr 1998 eine Vorstudie mit 300 zufällig ausgewählten Versicherten der LVA Rheinland-Pfalz (22% Frauen und 78% Männer) durchgeführt, denen im zweiten Halbjahr 1997 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bzw. Berufsunfähigkeit bewilligt worden war. Der Anteil der Erwerbsunfähigkeitsrentner lag bei 100%. Aufgrund dieses Ergebnisses und im Hinblick auf das Rentenreformgesetz (RRG 1999) wurden deshalb in die Hauptstudie nur Antragsteller auf die Erwerbsunfähigkeitsrente einbezogen. Die Erhebung erfolgte aus den Datenbeständen der Rentenabteilung der LVA Rheinland-Pfalz. Es sollte die Inanspruchnahme von Rehabilitationsmaßnahmen vor dem aktuellen Rentenbeginn untersucht werden. Dabei ergab sich, dass bei insgesamt 44,7% aller Probanden, davon bei 36,1% mit einer orthopädischen, bei 37,5% mit einer psychosomatischen und bei 43,6% mit einer kar- 20

diologischen Bewilligungsdiagnose in den letzten fünf Jahren vor der Berentung keine Rehabilitationsmaßnahme durchgeführt worden war. Zieht man nur die Rehabilitationsmaßnahmen bezüglich der Hauptdiagnosen (alle Indikationsgruppen) in Betracht, dann erhöhte sich der Anteil derjenigen Versicherten, die in den letzten fünf Jahren vor Rentenbeginn an keiner medizinischen Rehabilitationsleistung teilgenommen hatten, sogar auf 61%. Bei den Versicherten mit Rehabilitation beschränkte sich die Zahl der Maßnahmen in der überwiegenden Zahl der Fälle lediglich auf eine medizinische Rehabilitationsleistung (Abb. 3). In Abb. 4 wird außerdem eine feinere Aufgliederung nach zeitlichem Abstand der Maßnahmen zum Rentenbeginn dargestellt, die zeigt, dass Leistungen zur Rehabilitation in vielen Fällen erst unmittelbar vor Rentenbeginn durchgeführt wurden. Des weiteren wurde ermittelt, dass die zeitliche Differenz zwischen Stellung des Rentenantrags und Bescheiddatum bei knapp 90% der Antragsteller bei maximal sechs Monaten und bei 98% der Antragsteller bei maximal 12 Monaten lag. Somit schien die Prämisse des Projektantrags, dass praktisch alle Rentenantragsteller eine eventuelle Rehabilitationsmaßnahme innerhalb eines Jahres nach Antragstellung antreten können und über die Berentung innerhalb des Katamnesezeitraums entschieden wird, erfüllt. Abb. 3: EU-Rentner nach Diagnose und Anzahl der Maßnahmen 50% 45% 40% 35% 30% 25% 20% Kardiologie 15% n = 55 10% Orthopädie n = 72 5% Psychosomatik 0% keine 1 Maßn. 2 Maßn. 3 Maßn. 4 Maßn. n = 24 Anzahl der Reha-Maßnahmen in den letzten 5 Jahren vor Rentenbeginn 21

Abb. 4: EU-Rentner nach Diagosen und Rehabilitationsmaßnahmen vor aktuellem Rentenbeginn 70% 65% 60% 55% 50% 45% 40% 35% 30% Kardiologie 25% n = 55 20% 15% 10% Orthopädie n = 72 5% Psychosomatik 0% keine Maßn. innerh. 12 Mon. n = 24 innerh. 1 Mon. innerh. letzte 5 J. Reha-Maßnahme wegen Hauptdiagnose vor Rentenbeginn 22

1.3 Projektverlauf 1.3.1 Vorbereitung und Organisation Projektbeginn war am 01.09.1998. Zunächst erfolgte die Vorbereitung der Erhebungen. Sie bestand zum einen in der Auswertung der im Vorfeld durchgeführten und berichteten Vorstudie zum Projekt. Weiter war eine Abstimmung mit den in das Projekt involvierten Abteilungen der LVA vorzunehmen. Dabei zeigte sich, dass eine gekoppelte Abfrage rehabilitationsbezogener und berentungsbezogener Versichertendaten aus dem Routinedatenbestand der LVA wegen der getrennten Dokumentation der Daten nicht möglich sein würde und deshalb mit einem erheblich vergrößerten diesbezüglichen Erhebungsaufwand zu rechnen war. Außerdem musste die Selektion bzw. Entwicklung der Erhebungsinstrumente durchgeführt werden, wobei der Fragebogen zur Beurteilung der Rehabilitation aus dem Qualitätssicherungsprogramm der Rentenversicherung (Programmpunkt 4), für dessen Erarbeitung der VDR (Verband Deutscher Rentenversicherungsträger) zuständig war, erst Mitte Dezember 1998 zur Verfügung gestellt werden konnte. Im Zuge der Vereinbarung projektbezogener Kooperationen fanden Einführungs- und Diskussionsveranstaltungen mit Vertretern der 11 beteiligten Rehabilitationskliniken aus den Indikationsbereichen Orthopädie, Herz-Kreislauf und Psychosomatik statt. Im Nachgang zu diesen Vorbereitungstreffen wurden Richtlinien zur standardisierten Durchführung der Erhebungen und zur datenschutzgerechten und auswertungsfreundlichen Dokumentation und Übermittlung der Daten erarbeitet. Dabei zeigte sich jedoch, dass für einzelne Kliniken aus organisatorischen Gründen Sonderregelungen zugelassen werden mussten, vor allem auch, um eine Überbeanspruchung der Patientenschaft zu vermeiden. So wurde mit zwei Kliniken (Herz-Kreislauf und Psychosomatik) vereinbart, dass die Erhebungsunterlagen für den Rehabilitationsbeginn erst in den Kliniken ausgefüllt werden sollten. Mit einer weiteren psychosomatischen Klinik wurde für das erste Halbjahr des Untersuchungszeitraums ein Verzicht auf die Einbeziehung der wenigen Rentenantragsteller in die Erhebung verabredet, die an einem eigenen Forschungsprojekt der betreffenden Klinik teilnahmen. Außerdem wurden die vom Hochrhein-Institut für Rehabilitationsforschung e. V. in Bad Säckingen erstellten Arzt- und Therapeutenbogen in der vorliegenden Form von den einbezogenen Kliniken nicht akzeptiert. Der Therapeutenbogen wurde überarbeitet. Die für einige Erhebungsinstrumente noch erforderlichen Pretests wurden in drei der in das Projekt einbezogenen Kliniken durchgeführt. Außerdem war die Durchführung von auswertungstechnischen Schulungen für mit der Eingabe der erhobenen Daten betraute Mitarbeiter der beteiligten Kliniken nötig. Die Kliniken wurden daraufhin mit den lizensierten Kopien der speziellen Auswertungsprogramme für die beiden IRES-Varianten sowie die SCL-90-R ausgestattet. Das SCL-Programm basiert dabei auf dem Programm SPSSWIN, wobei letzteres inzwischen zum Standard-Softwarebestand für Behandlungseinrichtungen mit Begleitforschung zählt. Hier ergab sich nur für eine Klinik die Notwendigkeit der Anschaffung, was zunächst offensichtlich mit Finanzierungsproblemen verbunden war. Eine weitere Schwierigkeit bestand in einer Klinik, in der dem zuständigen Arzt kein PC für die Dateneingabe zur Verfügung stand und diese dann auf 23