Skript zum Seminar Postnatale Zytogenetik Schwerpunkt Chromosomale Mikrodeletionen Aus: Monatsschr Kinderheilk 148:55-69 (2000) Unterrichtsmaterial zusammengestellt von : Dr. Regine Schubert, Praxis für Humangenetik, Herbert-Lewin-Str. 9, 50931 Köln Dr. Raoul Heller, Institut für Humangenetik, Uniklinik Köln, Kerpener Str. 34, 50931 Köln Überarbeitet von Prof. Dr. med. Christian Schaaf, Institut für Humangenetik, Uniklinik Köln, Kerpener Str. 34, 50931 Köln. E-Mail: christian.schaaf@uk-koeln.de Seite 1 von 9
Fall 1 Cri-du-chat (Katzenschrei-) Syndrom Cri-du-chat Syndrom ist selten (ca. 1: 50.000 Lebendgeburten oder ca. 16 pro Jahr in Deutschland). Sie fallen in der Regel im frühen Säuglingsalter durch eine charakteristische Kombination von geistigen und körperlichen Entwicklungsproblemen auf: hochfrequentes katzenartiges Schreien (verliert sich später); vor- und nachgeburtliche Wachstumsverzögerung mit kleinem Hirnschädel; variable geistige Behinderung. Das klinische Bild ist variabel und wird verursacht durch einen Verlust des terminalen Abschnittes des kurzen Arms von Chromosom 5 (Bande 5p15.2, daher auch 5p minus-syndrom ). Diese Deletion ist in vielen Fällen mikroskopisch sichtbar. Bei ca. 10% der Kinder mit einem cri-du-chat Syndrom ist die Deletion Folge einer elterlichen, balancierten reziproken Translokation zwischen einem der beiden Chromosomen 5 und einem anderen Chromosom. mögliche Keimzellen (haploid) eines Trägers (diploid) einer balancierten reziproken Translokation t(5;19) Fälle 2+3 Miller-Dieker-Syndrom Angeborenes Krankheitsbild mit folgenden Befunden: Lissencephalie (s. u.) charakteristische Auffälligkeiten des Gesichtes (gewölbte Stirn, bitemporale Ei n- dellung, flache Nasenwurzel, antevertierte Nasenlöcher, Mittelgesichtshypoplasie, dünne Oberlippe) schwere allgemeine Wachstumsstörung zusätzliche fakultative Anomalien. Seite 2 von 9
Das Miller-Dieker-Syndrom wird verursacht durch Verlust des terminalen Abschnittes des kurzen Armes von Chromsom 17 (Bande 17p13.3). In etwa der Hälfte der Fälle liegt eine cytogenetisch sichtbare Deletion vor, in weiteren ca. 40% kann durch Fluoreszenz-in-situ- Hybrisisierung (s.u.) eine submikrosko pische Mikrodeletion nachgewiesen werden. Lissencephalie Begriff aus der Pathologie. Bezeichnet einen Zustand, bei welchem die Hirnwindungen (Gyri) ganz oder weitgehend fehlen. Es handelt sich um eine schwere Entwic k- lungsstörung des Gehirns infolge einer neuronalen Migrationsstörung. Isolierte Lissencephalie kann durch Mutationen in verschiedenen Genen verursacht werden (z.b. LIS1 auf Chromosom 17p oder DCX auf Chromosom Xq22.3, im letzten Fall XLIS genannt.) http://www.phweek.it/new/relazioni/ws2_guerrini8.pdf Das CT-Bild des Gehirns (s.o.) kann andeuten, ob es sich eher um eine Mikrodeletion des LIS1-Gens auf Chromosom 17 (posterior-anterior Gradient) oder um eine Mutation in dem sog. Doublecortin Gen ( DCX) auf dem X-Chromosom handelt (anterior-posterior Gradient). LIS1-Protein Das PAFAH1B1-Gen, welches für das LIS1-Protein kodiert, liegt im Bereich der Bande 17p13.3 am Ende des kurzen Arms des Chromosoms 17. Mutationen in diesem Gen können eine Lissencephalie verursachen. LIS1 reguliert Dynein, ein Motorprotein, welches wichtig für intrazelluläre Transportvorgänge und Zellteilung ist, insgesamt also von großer Bedeutung für die normale Gehirnentwicklung. Seite 3 von 9
Gensonde ( probe auf Englisch) DNA-Fragment, das radioaktiv, enzymatisch oder fluoreszenz-markiert ist, und zum Nachweis von komplementärer DNA in den Chromosomen der zu untersuchenden Person verwendet wird. Die DNA der Gensonde hybridisiert mit der nachzuweisenden DNA-Sequenz. Hybridisiert man Chromosomenpräparate mit geeigneten Gensonden, kann man hierdurch die fraglichen Chromosomenbereiche selektiv sichtbar machen. Die Methode wird als in-situ-hybridisierung meist mit Fluoreszenzfarbstoff-markierten Sonden durchgeführt (FISH). (http://www.genome.gov/10000206) Aus: Monatsschr Kinderheilk 148:55-69, 2000 Seite 4 von 9
Neue Technologie Detektion submikroskopischer Genom-Imbalancen (Mikrodeletionen/-duplikationen) mittels microarray-based comparative genomic hybridization = array-cgh. Die Auflösungsgrenze hängt von der Dichte der Sonden auf dem Array ab und beträgt bei den für diagnostischen Gebrauch üblichen Arrays 5-50 kb. Indikationen: Rot= Duplikationen Grün= Deletionen Seite 5 von 9
Fall 4 DiGeorge-Sequenz (DGS) Diese Sequenz ist durch eine Thymusaplasie, unterschiedliche angeborene Herzfehler (z.b. unterbrochener Aortenbogen, VSD, Truncus arteriosus communi s; sog. konotrunkale Anomalien) und Hypoparathyreoidismus gekennzeichnet, und stellt einen Entwicklungsfelddefekt des 3. und 4. Kiemenbogens infolge nicht-genetischer (Alkohol) oder genetischer Ursachen (s. u.) dar. Smith s Recognizable Patterns of Human Malformation, 2005 Smith s Recognizable Patterns of Human Malformation, 2005 In Kombination mit anderen Fehlbildungen (z.b. Gaumenspalten, Nierenanomalien), funktionellen (z.b. velopharyngeale Dysmotilität) und psychiatrischen Auffälligke i- ten liegt ein DiGeorge Syndrom / Velocardiofaziales Syndrom vor. Variable ( also nicht immer vorhandene) dysmorphe Stigmata können eine auffällige Nase, tiefsitzende Ohren und Mikrognathie sein. Seite 6 von 9
In ca. 1/3 der genetisch verursachten Fälle liegt eine cytogenetisch sichtbare Deletion des Chromosomenabschnittes 22q11.2 vor, in > 90% der Fälle läßt sich mittels FISH eine Deletion nachweisen. Der Phänotyp kann sehr milde ausgeprägt sein (Gaumenspalte, Lernschwierigkeit), so dass in einigen Familien ein Elternteil unwissentlich betroffen ist. Die Mikrodeletion 22q11.2 ist die häufigste bekannte Mikrodeletion (Inzidenz ca. 1:2.000 Geburten; Größe 1,5 oder 3 Mb) und gehört zusammen mit Downund Turner-Syndrom zu den häufigsten genetischen Ursachen eines angeborenen Herzfehlers (www.kids-22q11.de /www.kompetenznetz-ahf.de). Die Mikrodeletion 22q11 entsteht durch nicht-allelische homologe Rekombination (gestrichelte Pfeile) zwischen sequenz-verwandten low copy repeats (LCR). (durchgezogene Pfeile: normales Rekombinationsmuster.) Die beiden am häufigsten vorkommenden Mikrodeletionen (3 Mb bzw. 1,5 Mb groß) werden durch eine käufliche FISH-Sonde erfasst. Kommerzielle FISH-Sonde TUPLE1 DGS Nature Reviews Genetics 2; 858-868 (2001) Seite 7 von 9
Fall 5 Fehlgeburten Fetale Aneuploidien sine mit über 60% die häufigste Ursache früher Fehlgeburten (vor der 10. SSW). Unter allen Chromosomenanomalien stellen autosomale Trisomien mit mehr als 50% die Mehrzahl der Fälle dar. Zwischen mütterlichem Alter und der Wahrscheinlichkeit eines trisomen Embros besteht eine strenge Assoziation: Je höher das mütterliche Alter, desto höher das Risiko für eine meiotische Non- Disjunction bei der Entstehung der Eizelle. Diesen Effkt erklärt z.t. das jahrzehntelange Vorliegen der Keimzellen in der Prophase I. von allen autosomalen Triomien wird die Trisomie 16 am häufigsten in Abortmaterial gefunden (in bis zu 30%). Chromosomenstörungen als Abort-Ursache (aus Basiswissen Humangenetik, Springer 2018) Habituelle Aborte Habituelle Aborte liegen vor, wenn bei einer Frau mindestens 3 Schwangerschaften in einer spontanen Fehlgeburt endeten. Dies betrifft etwa 1-2% aller Paare. Bei 3 oder mehr Aborten ohne bekannte gynäkologische Ursache (z.b. Uterusfehlbildungen, Zervixinsuffizienz) sollte immer eine humangenetische Beratung beider Partner erfolgen. Elterliche Chromosomenstörungen können zu habituellen Aborten führen. Bei 5,5% aller Paare mit 3 oder mehr Fehlgeburten ist eine balancierte Chromosomenstörung bei einem Elternteil nachweisbar (0,5% der Allgemeinbevölkerung). Meist handelt es sich um reziproke oder Robertson-Translokationen, die dann das Risiko auf eine unbalancierte Situation beim Embryo mit sich bringen. Seite 8 von 9
Zusammenfassung Konventionelle Karyotypisierung ( Chromosomenanalyse mit Bänderung): erfasst große Anomalien (numerisch und strukturell, > 5 Mb). FISH (Fluoreszenz in -situ Hybridisierung): spezifische Diagnostik chromosomaler Anomalien, nicht geeignet zum Screening des ganzen Genoms. Chromosomen Microarray Analyse 1) Array CGH (comparative genomic hybridization) 2) SNP (single nucleotide polymorphism) Array Erfasst feinstrukturelle Anomalien (Auflösung 5-50 kb). Test der ersten Wahl bei angeborenen Fehlbildungen, geistiger Behinderung, Autismus, etc., weil deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, zu einer Diagnose zu führen, als die traditionelle Chromosomenanalyse. Eine Herausforderung stellen copy number variations (CNVs) von unklarer klinischer Relevanz (Variants of uncertain significance VUS) dar. Seite 9 von 9