Humboldt-Universität Berlin Institut für Philosophie Wintersemester 2010-2011 Veranstaltung: Tutorin: Tutorium Theoretische Philosophie Hannah Riniker Titel der Arbeit: Zu Gettiers Problematisierung des Wissensbegriffs Autor: Nils Dagsson Moskopp Anschrift: Olafstraße 67 13467 Berlin-Hermsdorf Email-Adresse: nils@dieweltistgarnichtso.net Matrikelnummer: 531466 Fächerkombination: Philosophie (K), Informatik (Z) Semesterzahl: 4 / 4 Abgabedatum: 09.01.2011
Die Frage, was Wissen ausmacht, ist eine der grundlegenden Fragestellungen der theoretischen Philosophie. Gerade heutzutage ist sie bedeutender als je zuvor, maßgeblich aufgrund von Fortschritten in der Informationsverarbeitung: So haben Datenbanken von Staat und Unternehmen nicht selten einen Wissensanspruch, aus dem weitreichende Handlungsvorschriften abgeleitet werden; prominente Beispiele sind die von der Polizei Nordrhein-Westfalen geführte Datei Gewalttäter Sport sowie Datensätze der Schufa 1, mit denen unter Anderem Einschränkungen der Reisefreiheit bzw. Nichtabschlüsse von Verträgen begründet werden. Auch Einzelpersonen haben durchaus Wissensansprüche oft, ohne sich der Existenz dieser bewusst zu sein: Neuartige Mobiltelefone ermöglichen es nicht nur, Individuen und Organisationen Kontaktdaten zuzuordnen, sondern auch, die aktuellen Aufenthaltsorte von Freunden auf einer Karte anzuzeigen (etwa Google Latitude 2 ). Das Abfragen des Beziehungsstatus im Bekanntenkreis ( Verlobt, It s complicated usw.) ist eine beliebte Freizeitbeschäftigung von Nutzern der Internetplattform Facebook 3 ; zumindest bei (vom Anspruch her) strikt monogamen Paarbeziehungen ist abzusehen, dass Konsequenzen niemals wieder die selben sein werden. Ob eine Proposition als Wissen eingeordnet wird, ist also keine rein akademische Frage, sondern kann bedeutende Auswirkungen auf das Alltagsleben haben; eine (abstrakte) Beschäftigung mit möglichen Kriterien ist insofern geboten, als dass sie ermöglicht, (konkrete) Einordnungen nachzuvollziehen sowie im Einzelfall auftretende Unklarheiten und Fehler zu erkennen. Im Artikel Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen? problematisiert Edmund L. Gettier einige häufige Kriterien von Wissensdefinitionen; ich werde im folgenden versuchen, diese Argumentation nachzuvollziehen, sie wiederum zu problematisieren und weitere Ansätze für entsprechende Kriterien erörtern. 1 Schutzgemeinschaft für allgemeine Kreditsicherung 2 <http://google.com/latitude> 3 <http://facebook.com>
Gettier nennt zunächst eine Liste von drei Kriterien, die er in dieser ungefähr [en] [ ] Form als häufiges Ergebnis von Überlegungen bezüglich notwendige [r] und hinreichende[r] Bedingungen [ ], dass jemand Wissen von einer [ ] Proposition hat darstellt (S. 1); er bemerkt hierzu, dass diese bereits bei Platon genannt und eventuell sogar akzeptiert werden (vgl. Endnote i): Ein Akteur S habe genau dann Wissen von einer Proposition P, wenn P wahr ist, S glaubt, dass P [wahr ist] und S darin gerechtfertigt ist, zu glauben, dass P [wahr ist] (S. 1). Zwei weitere, ähnliche Listen für den gleichen Anwendungsfall folgen: Eine unterscheidet sich maßgeblich dadurch, dass das letztgenannte Kriterium durch S [verfügt] über angemessene Evidenz für P [ ] ersetzt wird (S. 1, vgl. Endnote ii); die andere nennt an dieser Stelle die unspefizischere Formulierung S [hat] das Recht [ ], sicher zu sein, dass P wahr ist (S. 1, vgl. Endnote iii). Gettier hält in Bezug auf seine Argumentation beide für äquivalent zur ersten Auflistung. Sein Argument beginnt mit der Bemerkung, dass Rechtfertigungen durchaus auch für Propositionen möglich sein können, die falsch sind (vgl. S. 1). Wenngleich dies nicht konkret ausgeführt wird, existieren dafür einfache Beispiele: Raumänderungen bei universitären Veranstaltungen zeigen ebenso wie irrtümliches Falschablesen von Öffnungszeiten, dass Rechtfertigungen schon umgangssprachlich nicht strikt am Wahrheitswert orientiert sind; rechtsstaatliche Justizsysteme erkennen die Möglichkeit von von Irrtümern bezüglich der Wirklichkeit abgeleiteten Fehlurteilen an. Auch wissenschaftliches Vorgehen im Allgemeinen wäre ohne das entsprechende Zugeständnis, dass eine Schlussfolgerung bzw. eine Theorie akzeptabel begründet, aber dennoch falsch sein kann, kaum denkbar zum Einen, da neuere Erkenntnisse überkommene wissenschaftliche Arbeiten als solche (und mit ihnen die beteiligten Personen) rückwirkend vollständig entwerten würden; weiterhin, da allein die Existenz verschiedener möglicher Modelle zur Erklärung eines Sachverhalts eine schwer überwindbare kognitive Dissonanz zur Folge hätte. Gettiers zweite Prämisse ist, dass aus der Rechtfertigung einer Proposition die Rechtfertigung einer weiteren Proposition abgeleitet werden kann, falls aus der
ersten Proposition die zweite folgt und dieser Schluss von dem die Rechtfertigung habenden Akteur nachvollzogen und akzeptiert wird (vgl. S. 1). Eine Akzeptanz dieses Prinzips vereinfacht die Erlangung von Wissen enorm; entgegenstehende Intuitionen, nach denen scheinbar aus einer (intuitiv) ausreichenden Rechtfertigung einer Proposition eine (intuitiv) nicht ausreichende Rechtfertigung einer weiteren Proposition folgt, lassen sich dann nur zurückführen auf unzureichende Rechtfertigung der zu Beginn verwendeten Proposition und die daraus folgende Beliebigkeit des Ergebnisses der Wenn- Dann-Relation ( ex falso quodlibet ). Weist man die Möglichkeit eines derartigen Zustandekommens von Rechtfertigungen jedoch vollständig zurück, können auf Wissen im Sinne der vorhergehenden Kriterien aufbauende logische Schlüsse keine weiteren Rechtfertigungen schaffen und somit kein weiteres Wissens begründen; Wissen kann dann nur mittels unmittelbarer (nicht übertragbarer) Rechtfertigungen erlangt werden. Gettier nennt nun im Hauptteil seines Arguments zwei Situationen, die mit denen er die Angemessenheit der eingangs erwähnten Kriterien für den Wissensbegriff beispielhaft widerlegen möchte. Das erste Szenario ist vor der Vergabe einer Arbeitsstelle angesiedelt, Bewerber sind die Protagonisten Smith und Jones. Smith hat nun Rechtfertigungen für die Propositionen Jones erhält die Stelle und Jones hat zehn Münzen in der Hosentasche (vgl. S. 1), hieraus schließt er (nach Maßgabe der zweiten Vorbemerkung), dass der Bewerber, der die Stelle bekommen wird, zehn Münzen in der Hosentasche hat (vgl. S. 2). Nun erhält Smith allerdings unerwartet die Stelle und hat ebenfalls zehn Münzen in der Hosentasche; ein Problem ergibt sich nun daraus, dass folgt man der genannten Wissensdefinition Smiths Überzeugung bezüglich seiner Schlussfolgerung nun als Wissen bezeichnet werden kann, während eine starke Intuition dem entgegen steht (vgl. S. 2, Doch ebenso offensichtlich ist, dass Smith nicht weiß ). Es existieren mehrere naheliegende Möglichkeiten, die eingangs erwähnten Kriterien für Wissen soweit zu verändern, dass die Anwendung des dadurch konkretisierten Wissensbegriffs der erwähnten Intuition entspricht: Zunächst
könnte man das in Gettiers zweiter Vorbemerkung erwähnte Prinzip der Erlangung (bzw. Erzeugung) von Rechtfertigungen durch logische Schlüsse ablehnen, da es in diesem Fall wohl weitgehend wertlos ist. In diesem Fall wäre eine Überzeugung, dass der erfolgreiche Bewerber 10 Münzen in der Hosentasche hat, ungerechtfertigt, daher kein Wissen und insofern in Übereinstimmung mit der entsprechenden Intuition selbst wenn man die Ergebnissituation dahingehend verändert, dass Jones tatsächlich die Stelle bekommt. Deutlich wird allerdings, dass durch diese Maßgabe eine große Menge möglichen Wissens sämtliches, dessen Rechtfertigung nicht direkt erlangt wurde (möglicherweise unnötig) ausgeschlossen werden; möchte man dies vermeiden, muss feiner vorgegangen werden. Möglich wäre hier etwa das Hinzufügen eines weiteren Kriteriums, das festlegt, dass eine durch logischen Schluss erlangte Rechtfertigung nur dann hinreichend für den Wissensbegriff ist, wenn die durch sie gerechtfertigte Proposition nur dann wahr werden kann, wenn die durch die ursprüngliche Rechtfertigung begründete Proposition ebenfalls wahr wird. Gettiers zweites Szenario ebenfalls mit den Protagonisten Smith und Jones, zusätzlich noch Brown beginnt damit, dass Smith eine Rechtfertigung für die Proposition Jones besitzt einen Ford hat (vgl. S. 2). Hieraus leitet er nun mehrere Propositionen der Form Entweder hat Jones einen Ford oder Brown ist in X. ab, wobei X beliebige Städtenamen sind (vgl. S. 2); da die ursprüngliche Proposition gerechtfertigt ist, kann er nun auch entsprechende Rechtfertigungen erzeugen. Besitzt Jones allerdings nun keinen Ford und Brown ist tatsächlich in einer der genannten Städte, wird ein Problem deutlich: Den eingangs erwähnten Kriterien entsprechend hat Smith nun wiederum Wissen, obwohl Smith nicht weiß, wo Brown sich tatsächlich befindet; die Intuition steht erneut dem formalisierten Wissensbegriff entgegen. Das zweite Szenario unterscheidet sich vom ersten in der Hinsicht, dass hier nicht aus einer zusammengesetzten Proposition eine nicht weiter aufteilbare Proposition abgeleitet wird, sondern aus einer nicht weiter aufteilbaren
Proposition eine zusammengesetzte Proposition. Auch in diesem Fall lässt sich Übereinstimmung mit der Intuition schaffen, indem man die Erlangung (bzw. Erzeugung) von Rechtfertigungen durch logische Schlüsse ablehnt; eine weniger umfassende Alternative wäre das Hinzufügen eines weiteren Kriteriums, nach dem eine durch logischen Schluss erlangte Rechtfertigung für eine teilbare Proposition (etwa eine Konjunktion) nur dann hinreichend für den Wissensbegriff ist, wenn Rechtfertigungen für alle Teile der die durch sie gerechtfertigte Proposition unabhängig voneinander aus der ursprünglichen Rechtfertigung erlangbar sind. Eine Beachtung dieses Kriteriums schlösse die Teil-Proposition Brown ist in X aus. Eine weitere Konkretisierungsmöglichkeit wäre, jegliche Zusammensetzung von Teil-Propositionen, die Tautologien ergeben (etwa: Z oder nicht Z ), von dieser Analyse auszuschließen, um zusammengesetzte Propositionen, die diese enthalten, nicht auszuschließen. Gettier folgert aus der bei Anwendung der in seinen beiden Vorbemerkung beschriebenen Prinzipien deutlich werdenden Unzulänglichkeit der eingangs genannten Kriterien für die beiden genannten Szenarien, dass diese nicht hinreichend für die Charakterisierung von Wissen sind (vgl. S. 2); dies ist durchaus plausibel. Im behandelten Artikel erörtert er allerdings keine Veränderung der Kriterien oder ihrer Anwendung. Es ist nicht schwierig, Gettiers konkrete Beispielszenarien durch entsprechende Hinzufügung weiterer notwendiger Kriterien vom Wissensbegriff auszuschließen. Jedoch kann von dieser beim Einzelfall ansetzende Maßnahme nicht hinreichend belegt werden, dass durch sie die Kriterien bezüglich notwendige[r] und hinreichende[r] Bedingungen [ ], dass jemand Wissen von einer [ ] Proposition hat (S. 1) widerstandsfähiger gegen weitere, anders strukturierte Gegenbeispiele werden. Der hierbei hervortretende fehlende Tiefgang der Analyse des Wissensbegriffs ist so allerdings auch bei Gettier zu finden. Literatur: EDMUND L. GETTIER, Ist gerechtfertigte, wahre Meinung Wissen? (Orig.: Is Justified True Belief Knowledge? Analysis 23 (1963): 121-3.)