1. Gesundheitsmanagement im Mittelstand Gabriele Sommer Geschäftsführerin TÜV SÜD Life Service GmbH 72 Mittelständische Unternehmen unterschätzen psychische Belastungen am Arbeitsplatz Expertenbefragung unter überbetrieblich tätigen Sicherheitsfachkräften in kleinen und mittelständischen Unternehmen Die Arbeitswelt ist stetig im Wandel. Der Arbeits- und Gesundheitsschutz muss sich diesen Veränderungen proaktiv anpassen, um seiner Rolle gerecht zu werden und effizient zu sein. Diese Notwendigkeit haben auch zwei Studien aufgezeigt, die wir 2009 und 2010 durchführten. Wir befragten unsere überbetrieblich tätigen Betriebsärzte und Sicherheitsfachkräfte nach ihrer Einschätzung zu psychischen Belastungen von Mitarbeitern in mittelständischen Unternehmen. Beide Befragungen ergeben eine Zunahme psychischer Störungen, wobei die Gefährdung durch psychische Belastungsfaktoren am Arbeitsplatz von vielen Unternehmen noch nicht erkannt wird. Außerdem ist die Bereitschaft der mittelständischen Unternehmen, in Gesundheit zu investieren, noch nicht besonders. Dies führen wir zum Teil auf fehlende Informationen über psychische Belastungsfaktoren zurück, aber auch auf fehlendes Wissen darüber, wie effektives Betriebliches Gesundheitsmanagement im Unternehmen aussehen soll. Den größten Handlungsbedarf sehen unsere Experten in den Problemfeldern Gesundes Führungsverhalten, Konfliktmanagement und verlängerte Lebensarbeitszeit. Anstieg der psychischen Belastungen in kleinen und mittelständischen Unternehmen Psychische Belastungen steigen besonders stark in den Industriestaaten. Viele Menschen sind an ihrem Arbeitsplatz psychisch überlastet. Alle aktuellen Studien zum Thema bestätigen es aufs Neue: In Deutschland steigt die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Belastungen dramatisch. Psychische Erkrankungen stehen an der Spitze der Berufserkrankungen und der Gründe für Frühberentungen. Die Arbeitgeber sind verpflichtet, die Arbeitsbedingungen in den Betrieben zu erfassen und im Hinblick auf Gefahren für die Gesundheit der Beschäftigten zu analysieren. Das 1996 verabschiedete Arbeitsschutzgesetz fordert von den Unternehmen in 5 die Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung.
Die Gefährdungsbeurteilung ging bislang hauptsächlich von den klassischen Gefährdungen (z.b. Gestaltung der Arbeitsstätte, physikalische, chemische und biologische Einwirkungen) aus. Doch auch psychische Belastungen, die sich aus den Arbeitsabläufen und der Qualifikation der Mitarbeiter ergeben, müssen ermittelt werden. Die gesetzlich geforderte Berücksichtigung psychischer Belastungen bleibt in vielen Unternehmen dennoch aus. Wie die Ergebnisse des Corporate Health Awards 2010 zeigen, haben hier selbst die Großunternehmen mit guten betrieblichen Gesundheitssystemen noch Nachholbedarf, werden psychische Belastungen nur in etwa der Hälfte der Gefährdungsbeurteilungen systematisch berücksichtigt. Und das, obwohl inzwischen zahlreiche Studien belegen, dass Investitionen in die physische und auch psychische Gesundheit von Mitarbeitern sowie in gefährdungsarme Arbeitsplätze einen entscheidenden Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens liefern. 73 Ergebnisse der stichprobenhaften Expertenbefragung zu psychischen Belastungen/Erkrankungen im Rahmen der sicherheitstechnischen Betreuung mittelständischer Unternehmen TÜV SÜD Life Service befragte 2009 überbetrieblich tätige Betriebsärzte nach ihren Erfahrungen zu psychischen Belastungen in der Arbeitswelt (siehe Berichtsband Gesundheitsmanagement 2010, S. 101-110). Für das vorliegende Corporate Health Jahrbuch 2011 befragte TÜV SÜD Life Service im September 2010 erfahrene Sicherheitsfachkräfte nach ihrer subjektiven Einschätzung zu psychischen Belastungen und Erkrankungen von Mitarbeitern in mittelständischen Unternehmen mit einer Größenordnung von 20 bis 1.000 Beschäftigten. 47 Experten, die zusammen Hunderte kleine und mittelständische Unternehmen im Bereich der Arbeitssicherheit betreuen, nahmen an der Erhebung teil. 45% 41,3% 40% 35% 30% 25% 19,6% 20% 15% 13,0% 15,2% 10% 5% 2,2% 2,2% 6,5% 0% stark abnehmend abnehmend leicht abnehmend konstant leicht zunehmend zunehmend stark zunehmend n =47 Personen Abbildung 1: Psychische Belastungen in kleinen und mittelständischen Unternehmen
1. Gesundheitsmanagement im Mittelstand Mehr als 60 Prozent der befragten Sicherheitsfachkräfte berichten von einem Anstieg psychischer Störungen bei Mitarbeitern kleiner und mittelständischer Unternehmen. Wir fragten unsere Sicherheitsfachkräfte, über welche Sachverhalte die Mitarbeiter in den betreuten Unternehmen ihnen gegenüber schon einmal geklagt hätten. Dies sind in erster Linie steigender Zeitdruck und damit einhergehend zu enge Terminvorgaben, Konflikte mit Führungskräften oder Kollegen und Überstunden. Folgende weitere Themen wurden benannt: 74 Häufiger Wechsel der Arbeitsinhalte Viele Fehlermöglichkeiten Technisierung und Digitalisierung der Arbeit Unvereinbarkeit von Beruf und Privatleben Monotonie Lange Anfahrtszeiten zur Arbeit Fehlende Erholungsphasen Hohe Flexibiliät/Anpassungsfähigkeit Wenig Autonomie/Gestaltungsfreiräume Mobbing Umstrukturierungen Hoher Kostendruck Wenig Anerkennung von Leistungen Kommunikationsstörungen Angst vor Arbeitsplatzverlust Überstunden Konflikte mit Führungskräften/Kollegen Zeitdruck/enge Terminvorgaben Als gefährdetste Zielgruppe werden hierbei die Führungskräfte vor den Schichtarbeitern und den Mitarbeitern im Außendienst und Vertrieb gesehen. Jedoch wird die Gefährdung durch psychische Belastungsfaktoren von vielen Unternehmen noch nicht erkannt. So besitzen nach Auffassung der befragten Sicherheitsfachkräfte mehr als die Hälfte der betreuten Unternehmen ein schwaches Bewusstsein für die psychischen Belastungsfaktoren und Erkrankungen in ihrem Unternehmen.
50% 47,8% 45% 40% 35% 32,6% 30% 25% 20% 15% 15,3% 75 10% 4,3% 5% 0,0% 0% nicht vorhanden gering teilweise eher stark n =47 Personen Abbildung 2: Nach Auffassung der befragten Sicherheitsfachkräfte hat mehr als die Hälfte der Unternehmer ein schwaches Bewusstsein für die psychischen Belastungsfaktoren und Erkrankungen in ihren Unternehmen. Geringe Bereitschaft zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungsfaktoren Von weniger als einem Drittel der betreuten Unternehmen wurden die TÜV SÜD Experten schon einmal auf das Thema Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungsfaktoren angesprochen. Nicht einmal jedes zehnte Unternehmen hat die Gefährdungsbeurteilung dann auch durchgeführt und dokumentiert. Als Gründe für die Nichtdurchführung der Gefährdungsbeurteilung nannten die Sicherheitsfachkräfte an erster Stelle die Tatsache, dass das Wissen zur Umsetzung in den Unternehmen fehlte. Ein weiterer wichtiger Punkt sind immanente Bedenken vor den Konsequenzen der Ergebnisse. Auf eine Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungsfaktoren wird schließlich auch verzichtet, weil oftmals der finanzielle Nutzen unterschätzt wird. Bei den Unternehmen, die die Gefährdungsbeurteilung durchgeführt haben, wurde laut Einschätzung der Sicherheitsfachkräfte lediglich ein kleiner Teil (knapp 20%) der empfohlenen Maßnahmen umgesetzt. Der Großteil der Maßnahmen blieb in den kleinen und mittelständischen Unternehmen bislang unberücksichtigt. Über 70 Prozent der Befragten teilen die Beobachtung, dass die Bereitschaft der Unternehmen zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung der psychischen Belastungsfaktoren in den letzten drei Jahren nicht zugenommen hat. Zwei Drittel der befragten Experten schätzen zudem die Bereitschaft der kleinen und mittelständischen Unternehmen, mehr in die Verbesserung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zu investieren, als gering ein.
1. Gesundheitsmanagement im Mittelstand 60% 56,5% 50% 76 40% 30% 23,9% 20% 8,7% 10,9% 10% 0,0% 0% nicht gering teilweise eher stark n =47 Personen Abbildung 3: Die Bereitschaft der Unternehmen, mehr in die Verbesserung der psychischen Gesundheit am Arbeitsplatz zu investieren, wird von der Mehrheit der befragten Sicherheitsfachkräfte als gering eingeschätzt. Handlungsbedarf in kleinen und mittelständischen Unternehmen Auf die Frage Bei wie viel Prozent der von Ihnen betreuten Unternehmen sehen Sie Handlungsbedarf in folgenden Themenfeldern gaben unsere Sicherheitsfachkräfte folgende Einschätzung: Gleichbehandlung: 21,6% Innere Kündigung: 33,0% Arbeitsmotivation: 37,4% Verlängerte Lebensarbeitszeit: 39,8% Konfliktmanagement: 42,9% Gesundes Führungsverhalten: 46,2% Den größten Handlungsbedarf sehen die Experten für Arbeitssicherheit in den Problemfeldern Gesundes Führungsverhalten, Konfliktmanagement und verlängerte Lebensarbeitszeit. In den meisten Unternehmen fehlen jedoch Konzepte zum Umgang mit diesen Themen.
Betriebliches Gesundheitsmanagement als Kernelement nachhaltigen unternehmerischen Handelns Verpflichtende Maßnahmen zum Arbeits- und Gesundheitsschutz, insbesondere Vorsorgeuntersuchungen für Mitarbeiter oder der Schutz vor Gefahrstoffen und Lärm, existieren seit langer Zeit. Auch ergänzende Maßnahmen wie Grippeschutzimpfungen oder Gesundheitstage haben viele Unternehmen in den vergangenen Jahren etabliert. Das Bewusstsein für psychische Belastungen ist trotz der steigenden dadurch verursachten Kosten in vielen Unternehmen aber noch gering. Häufig fehlt eine Berücksichtigung individueller Erfordernisse im Unternehmen und eine weitsichtige unternehmerische Strategie, um Mitarbeiter physisch und psychisch leistungsfähig und motiviert zu halten. 77 Gerade der Mittelstand ist gefordert, den tradierten Arbeits- und Gesundheitsschutz auf die neuen Anforderungen anzupassen. Um psychische Belastungen am Arbeitsplatz zu vermeiden, ist frühzeitige und umfassende Prävention nötig. Unternehmen sollten die Arbeitsbedingungen nicht nur sicher, sondern auch gesundheitsförderlich gestalten, indem sie über den Rahmen der gesetzlichen Gefährdungsbeurteilung hinaus die Arbeitsbelastungen regelmäßig analysieren. TÜV SÜD Life Service bietet zur Analyse der psychischen Belastungsfaktoren ein Befragungsinstrument, den BalanceCheck an. Diese Form der Belastungsanalyse ist branchenübergreifend für alle kleinen und mittelständischen Unternehmen geeignet, die systematisch das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fördern wollen. Dabei werden die psychischen Belastungen durch schriftliche anonyme Befragungen, idealerweise durch eine externe Institution erhoben. Das schafft Vertrauen und garantiert die Einhaltung des Datenschutzes. Die Mitarbeiter haben die Möglichkeit, ein Rating zu 13 relevanten Themengebieten abzugeben. Die Themen stammen aus dem beruflichen Kontext, wie Handlungsspielräume, Information und Mitsprache, Prozesse und Abläufe etc. Dadurch werden Belastungsherde, aber auch Ressourcen und Stärken sichtbar gemacht. Sowohl das Unternehmen, als auch die einzelnen Abteilungen erhalten im Anschluss eine Auswertung. Aus diesen Daten werden dann Handlungen und Verbesserungsmaßnahmen abgeleitet. Der Vorteil eines solchen Vorgehens: Die Unternehmen bekommen sehr schnell und mit relativ geringem Aufwand die Belastungssituation der Belegschaft differenziert dargestellt. Dadurch können auch besondere Risikogruppen definiert und der Handlungsbedarf abgeleitet werden. Durch anschließend stattfindende sogenannte Lösungs-Workshops können sowohl Belastungsfaktoren differenziert und vermindert, als auch Prozesse und Abläufe optimiert werden. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass durch den BalanceCheck die gesetzliche Forderung (ArbSchG) nach einer Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungsfaktoren erfüllt wird. Wirksame Lösungen zum Umgang mit Stress, zur Förderung der Arbeitsmotivation, bei Suchtgefährdung sowie Über- oder Unterforderung sind also bereits entwickelt worden nun gilt es, sie in der Praxis anzuwenden. Die Mitarbeiter werden dies durch bessere Leistungsfähigkeit honorieren. Betriebliche Gesundheit muss als Führungsaufgabe verankert sein, sich in der Führungskultur und in allen Aktivitäten eines Unternehmens widerspiegeln. Neben fachlichen Qualifizierungsmaßnahmen sollte das Personalmanagement etwa auch die persönliche Weiterentwicklung unterstützen. Ressourcenschonendes, sozial verantwortliches und effizientes unternehmerisches Handeln schließen sich gegenseitig nicht aus. Ganz im Gegenteil: Sie bedingen einander.