Dr. Michael Kilchling. Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung. Sanktionenrecht #101. Michael Kilchling Vorlesung Sanktionenrecht I SS 2018
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1 Dr. Michael Kilchling Fotonachweis: Münsterländische Volkszeitung Sanktionenrecht #101
2 Sicherungsverwahrung 2
3 Geschichte Ausgangspunkt: eingeführt im Dritten Reich durch das Gewohnheitsverbrechergesetz vom 24. November 1933 Strafschärfung für gefährliche Gewohnheitsverbrecher Maßregeln der Sicherung und Besserung Unmittelbar nach Ende des zweiten Weltkrieges teilweise suspendiert vom Alliierten Kontrollrat als nationalsozialistisches Unrecht In Westdeutschland beibehalten und 1970 grundlegend reformiert Maßregeln der Besserung und Sicherung Sicherungsverwahrung galt als "Auslaufmodell" Als Alternative war die Maßregel der Sozialtherapie geplant ( 65 a.f.; nie in Kraft getreten) In Ostdeutschland (ehem. DDR) 1952 vom Obersten Gerichtshof als "inhaltlich faschistisch" aufgehoben 3
4 Geschichte Nach der deutschen Vereinigung zunächst weiterhin auf die alten Bundesländer (ehem. Westdeutschland) beschränkt und erst ab 2006 sukzessive auf die neuen Bundesländer ausgedehnt Die ursprüngliche Form der Sicherungsverwahrung ( 66 StGB) wurde ab 1998 sukzessive um neue Varianten ergänzt, zudem wurde die Höchstverwahrdauer von 10 Jahren abgeschafft. Der Fristwegfall galt rückwirkend auch für Altfälle (dazu BVerfG, NJW 2004, S. 739 = JuS 2004, S. 527) Beanstandet vom EGMR (siehe unten) Ferner wurden neue Formen der Sicherungsverwahrung eingeführt 2002: vorbehaltene Sicherungsverwahrung ( 66a) 2003: Ausdehnung auf Heranwachsende ( 106 JGG) 2004: Nachträgliche Sicherungsverwahrung ( 66b), auch für Heranwachsende ( 106 JGG), und ab 2008: auch für Jugendliche ( 7 JGG) 4
5 Geschichte Sicherungsverwahrung in den neuen Bundesländern Aufgrund von prinzipiellen Vorbehalten der damaligen DDR-Regierung wurde die Sicherungsverwahrung gemäß Einigungsvertrag ursprünglich nicht für das Gebiet der ehem. DDR übernommen, Art. 315 Abs. 1 S. 2 EGStGB Gesetz vom : Eine Variante der Sicherungsverwahrung ( 66 Abs. 2) auch in den neuen Bundesländern möglich, auch für früher begangene Taten, Art. 316 Abs. 1 EGStGB Gesetz vom (FührAufsRuaÄndG): auch alle anderen Varianten der Sicherungsverwahrung einschließlich der vorbehaltenen u. nachträglichen werden anwendbar, Art. 315 Abs. 1 S. 2 EGStGB wird komplett gestrichen 5
6 Geschichte Grundsatzentscheidung des EGMR v (M. v. Germany, 19359/04, NJW 2010, S ff., JuS 2010, S ff., EuGRZ 2010, S. 25 ff, u.a.) Die deutsche Sicherungsverwahrung ist "Strafe" gem. Art. 7 EMRK, da sie sich inhaltlich nicht substanziell von einer regulären Freiheitsstrafe unterscheidet Daher gilt das Rückwirkungsverbot: keine rückwirkende Verlängerung der Vollzugsdauer erlaubt Weitere Ausführungen zur Problematik der nachträglichen Sicherungsverwahrung (daher hält ganz h.m. die nachträgliche SV für konventionswidrig im Hinblick auf Art. 5 Abs. 1 lit. a EMRK; in dem konkreten Fall nicht Verfahrensgegenstand,) Beschwerde der Bundesregierung von der großen Kammer verworfen, weitere Verurteilungen Deutschlands in 2010 und
7 Geschichte 7
8 Exkurs: Sicherungsverwahrung und EMRK Leitentscheidung: 19359/04 v (M. v. Germany), ( Die deutsche Sicherungsverwahrung stellt eine Strafe gem. Art. 7 EMRK dar, da sie sich inhaltlich nicht substanziell von einer regulären Freiheitsstrafe unterscheidet Art. 5 Abs. 1 lit. a legitimiert nur Freiheitsentziehungen, die in einer substanziellen [und zeitlichen] Verbindung mit der Verurteilung stehen Art. 5 Abs. 1 lit. c ist nicht einschlägig, da die künftige Straftat nicht hinreichend konkret und spezifisch bestimmbar ist Vgl. dazu auch Müller, H.: Die Sicherungsverwahrung, das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention, Strafverteidiger 2010, S. 207 ff.; Kinzig, J.: Das Recht der Sicherungsverwahrung nach dem Urteil des EGMR in Sachen M. gegen Deutschland, NStZ 2010, S. 233 ff. 8
9 Exkurs: Sicherungsverwahrung und EMRK 9
10 Geschichte Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen v , BGBl. I, S Neuregelung der Anlasstaten in 66, 66a Weitreichende Beschränkung der nachträglichen SV gem. 66b Einführung der Therapieunterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz ThUG) Speziell zugeschnitten auf Personen, die aufgrund der Entscheidungen des EGMR freizulassen waren (vgl. 1 Abs. 1 ThUG) Problem: "Psychische Störung" ist keine in der forensischen Psychiatrie bzw. Psychologie anerkannte Kategorie; dazu BVerfG: unbestimmter Rechtsbegriff, der mit den überkommenden Kategorisierungen der Psychiatrie nicht deckungsgleich [sein muss] 10
11 Geschichte Grundsatzentscheidung des BVerfG v. 4. Mai 2011, BVerfGE 128, S. 326 = NJW 2011, S = NStZ 2011, S. 450; u.v.a.m. Sämtliche (früheren) Regelungen zur Sicherungsverwahrung in StGB und JGG sind verfassungswidrig Anordnung der Maßregel bis zur Neuregelung nur noch in Fällen hochgradiger Gefahr schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten möglich Auch bereits Untergebrachte, die diese Kriterien nicht erfüllen, mussten bis Ende 2011 freigelassen werden Neuregelung bis spätestens 31. Mai 2013 Die Freiheitsentziehung muss in deutlichem Abstand zum Strafvollzug ausgestaltet sein (Abstandsgebot). Die Perspektive der Wiedererlangung der Freiheit muss die Praxis der Unterbringung sichtbar bestimmen (Therapiegebot). 11
12 Geschichte Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung v , BGBl. I, S Keine umfassende Neuregelung der Materie, Gesetzgeber beschränkt sich auf einen Kernpunkt der verfassungsgerichtlichen Reformvorgaben: das Abstandsgebot Problem: inhaltlich eine strafvollzugsrechtliche Materie; hierfür hat der Bundesgesetzgeber 2006 die Gesetzgebungskompetenz verloren Bundesrechtliche Rahmenvorschrift: 66c» Annexkompetenz» Auftrag des BVerfG, ein für die Länder verbindliches Konzept vorzulegen Konkrete Ausgestaltung durch landesrechtliche Bestimmungen zum Vollzug der Sicherungsverwahrung» In Ba.-Wü.: JVollzGB V 12
13 Geschichte Gesetz zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung v , BGBl. I, S Keine Veränderungen bei dem Katalog der Anlasstaten Verdichtete gerichtliche Kontrolle Komplizierte Übergangsvorschriften Insbes. im Hinblick auf den Zeitpunkt der Anlasstaten, vgl. Art. 316e u. 316f EGStGB Für "Altfälle" (Sicherungsverwahrung oder nachträgliche Sicherungsverwahrung wurden nach altem Recht angeordnet) gelten die vom BVerfG aufgestellten erhöhten Anforderungen an die Gefahrenprognose (psychische Störung + aus konkreten Umständen abgeleitete hochgradige Gefahr für die Begehung schwerster Gewalt- oder Sexualstraftaten infolge dieser Störung), vgl. Art 316f Abs. 2 S. 2 EGStGB, dazu auch BGH, NStZ 2014, S. 263 ff. 13
14 Geschichte Aufgrund der häufigen Änderungen können rückwirkend für die jüngere Vergangenheit nicht weniger als neun Phasen des Rechts der Sicherungsverwahrung unterschieden werden:» bis » » » » » » » seit » seit
15 Varianten der Sicherungsverwahrung 1. Variante: obligatorisch ( 66 Abs. 1, "klassische" SV) Formelle Voraussetzungen (Abs. 1 Nr. 1 bis 3) Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Katalogstraftat gem. Nr. 1 lit. a bis c zu mindestens zwei Jahren Freiheitsstrafe (Anlasstat) Wegen vorsätzlicher Straftaten gem. Nr. 1 lit. a bis c bereits zweimal zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt (Vorstrafen) wegen einer oder mehrerer dieser Taten mindestens zwei Jahre Freiheitsstrafe verbüßt oder zwei Jahre Unterbringung in einer freiheitsentziehenden Maßregel Materielle Voraussetzungen (Abs. 1 Nr. 4) Hang zu erheblichen Straftaten, namentl. solchen, durch die Opfer seelisch od. körperl. schwer geschädigt werden Gefährlichkeit 15
16 Varianten der Sicherungsverwahrung 1. Variante: obligatorisch ( 66 Abs. 1, "klassische" SV) Katalogtaten gem. Abs. 1: a) Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, b) Straftaten aus dem 1., 7., 20. oder 28. Abschnitt des BT, aus dem Völkerstrafgesetzbuch oder dem Betäubungsmittelgesetz, wenn die Tat im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mindestens zehn Jahren bedroht ist, c) Verstoß gegen Weisungen während der Führungsaufsicht gem. 145a, soweit die Führungsaufsicht auf Grund einer Straftat der in den Buchstaben a oder b genannten Art eingetreten ist, oder 'Vollrausch' gem. 323a, soweit die im Rausch begangene rechtswidrige Tat eine solche der in den Buchstaben a oder b genannten Art ist. 16
17 Varianten der Sicherungsverwahrung 2. Variante: im Ermessen des Gerichts ( 66 Abs. 2) drei vorsätzliche Katalogstraftaten gem. Abs. 1, für die Strafen von jeweils mindestens einem Jahr verwirkt sind Verurteilung wegen einer oder mehrerer dieser Taten zu Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren (Anlasstat/-en) Hang und Gefährlichkeit Keine vorherigen Verurteilungen erforderlich! 17
18 Varianten der Sicherungsverwahrung 3. Variante: im Ermessen des Gerichts ( 66 Abs. 3 S. 1) Verurteilung wegen eines Verbrechens gem. Abs. 1 Nr. 1 lit. a oder b oder einer der in Abs. 3 S. 1 genannten Straftaten [Sexualdelikte, gefährliche Körperverletzung, Katalogtat im Vollrausch] zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren (Anlasstat) Seit 1. Juli 2017 auch terroristische Straftaten: 89a Abs. 1 bis 3, 89c Abs. 1 bis 3, 129a Abs. 5 Satz 1 erste Alternative, auch in Verbindung mit 129b Abs. 1 (53. Gesetz zur Änderung des StBG Ausweitung des Maßregelrechts bei extremistischen Straftätern, BGBl. I, S. 1612) eine vorherige Verurteilung wegen einer solchen Straftat zu einer Freiheitsstrafe von mindestens 3 Jahren davon mindestens 2 Jahre verbüßt Hang und Gefährlichkeit 18
19 Varianten der Sicherungsverwahrung 4. Variante: im Ermessen des Gerichts ( 66 Abs. 3 S. 2) Begehung von zwei der in Abs. 3 S. 1 bezeichneten Straftaten Für jede dieser Straftaten ist eine Strafe von wenigstens 2 Jahren Freiheitsentzug verwirkt Verurteilung zu mindestens 3 Jahren Freiheitsentzug (Anlasstat/-en) Hang und Gefährlichkeit Keine vorherigen Verurteilungen erforderlich! 19
20 Varianten der Sicherungsverwahrung 5. Variante: Vorbehaltene Sicherungsverwahrung ( 66a Abs. 1) Im Ermessen des Gerichtes Straftaten und formelle Voraussetzungen wie bei Variante 3 oder 4 Hang und Gefährlichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar aber wahrscheinlich Entscheidung über Anordnung der Sicherungsverwahrung wird vorbehalten und auf den Vorentlassungszeitraum verschoben; sie kann bis zur vollständigen Vollstreckung der Freiheitsstrafe erfolgen, im Falle der Strafrestaussetzung zur Bewährung bis zum Ende der Bewährungszeit (nach früherem Recht spätestens 6 Monate vor der Reststrafenentscheidung gem. 57/57a) Unter Variante 4 wiederum keine vorherigen Verurteilungen erforderlich! 20
21 Varianten der Sicherungsverwahrung 6. Variante: Vorbehaltene Sicherungsverwahrung ( 66a Abs. 2) Im Ermessen des Gerichtes Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren wegen eines oder mehrerer Verbrechen gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung, nach dem 28. Abschnitt oder gem. 250, 251, 252, 255 Hang und Gefährlichkeit nicht mit hinreichender Sicherheit feststellbar aber wahrscheinlich Entscheidung über Anordnung der Sicherungsverwahrung wird wie bei Variante 5 vorbehalten Auch für Ersttäter! Entspricht im Wesentlichen den Konstellationen der weggefallenen nachträglichen Sicherungsverwahrung ( 66b a.f.) 21
22 Varianten der Sicherungsverwahrung 7. Variante: Nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung ( 66b) Untergebrachte können aus der psychiatrischen Anstalt in die Sicherungsverwahrung überstellt werden Unterbringung erfolgte wegen einer oder mehrerer Katalogstraftaten gem. 66 Abs. 3 Alternativ: vorherige Verurteilung wegen einer oder mehrerer solcher Straftaten zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren oder Unterbringung (vor der aktuellen Unterbringung) Unterbringungsvoraussetzungen liegen nicht mehr vor Hohe Wahrscheinlichkeit weiterer erheblicher Straftaten, durch welche Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden 22
23 Formelle Voraussetzungen, Zusammenfassung 1. Variante: 66 Abs. 1 (obligatorisch) 1 Anlasstat und 2 Vorverurteilungen (mind. je 1 J.) 2. Variante: 66 Abs. 2 (fakultativ) 3 (Anlass-) Taten 3. Variante: 66 Abs. 3 S. 1 (fakultativ) 1 Anlasstat und 1 Vorverurteilung (mind. 2 J.) 4. Variante: 66 Abs. 3 S. 2 (fakultativ) 2 (Anlass-) Taten 5. Variante: vorbehaltene Sicherungsverw., 66a Abs. 1 (fakultativ) 1 Anlasstat und 1 Vorverurteilung (mind. 2 J.) oder 2 (Anlass-) Taten 6. Variante: vorbehaltene Sicherungsverw., 66a Abs. 2 (fakultativ) 1 Anlasstat (Verbrechen), auch bei Ersttäter 7. Variante: nachträgliche Sicherungsverw., 66b (fakultativ) im Anschluss an Unterbringung in der Psychiatrie 23
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