Wissenswert. Zahlen und Töne: Musik und Mathematik. (1) Zwischen Verstand und Emotion?

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1 Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius Wissenswert Zahlen und Töne: Musik und Mathematik (1) Zwischen Verstand und Emotion? Von Niels Kaiser , Uhr, hr2-kultur Sprecher/in: Sprecher/in: Niels Kaiser COPYRIGHT: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Ver-wendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/ der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks.

2 Seite 2 GLASS: Einstein on the beach O-TON-COLLAGE über Musik: BEHRENDS: Mathematik hat durchaus etwas mit Emotionen, mit Ästhetik, mit Kreativität zu tun. Mathematik kann auch glücklich machen, genau so wie die Musik glücklich machen kann. Musik und Mathematik sind sehr eng miteinander verwandt. Das kann niemand leugnen, der sich damit näher befasst. GLASS: Einstein on the beach (endet) Kann Mathematik schön sein? Und hat Musik etwas mit nüchterner Zahlenschieberei zu tun? Nein, werden hier die meisten spontan antworten. Ganz im Gegenteil! Mathematik steht für kühle Logik, für Verstand und Kalkül. In der Musik hingegen walten Gefühl und Intuition. Für Mathematiker und Musiker ist die strenge Grenzziehung zwischen ihren beiden Disziplinen aber längst keine ausgemachte Sache. So sprach bereits Leonardo da Vinci von der Musik als Mathematik der Seele, und Wolfgang Amadeus Mozart soll oft Zettel in seiner Tasche mit sich geführt haben, auf denen er, wenn er nichts zu tun hatte, Rechenspiele durchführte. Die Bilder vom streng kalkulierenden Mathematiker und vom emotionsgesteuerten Komponisten sind für Albrecht Beutelspacher, Leiter und Gründer des Mathematikums in Gießen, längst überholte Klischees. Ich glaube, beide Haltungen, beide Ansichten, sind so in dieser Ausschließlichkeit falsch. Auch die Musik hat ganz viel von Handwerk und von Kalkül und auch sehr präziser Arbeit an sich. Andererseits ist die Mathematik auch nicht ein völlig kalkülhaftes Vorsichhinabarbeiten von Formeln, sondern da geht es um Ideen, da geht s um Fantasie. Jeder, der eine Knobelaufgabe löst, jeder der ein Sudoku löst, was Mathematik pur ist, merkt den Moment, in dem er merkt: Es geht auf. Und das gibt es auch auf höherer Ebene, wenn man Forschung treibt. Und das sind sehr emotionale

3 Seite 3 Momente, sehr glückliche Momente. Mathematik kann auch glücklich machen, genau so wie die Musik glücklich machen kann. Wenn man nach Berührungspunkten zwischen Musik und Mathematik sucht, braucht man nur einmal eine Partiturseite aufzuschlagen. Was hat man dort anderes vor sich als ein mathematisches Koordinatensystem mit einer Zeitachse für den Rhythmus und einer Akkordachse für die Tonhöhen? Der Komponist bedient sich beim Notieren seiner Ideen einer mathematischen Sprache. Dass umgekehrt mathematische Fähigkeiten durch den Umgang mit Musik gefördert werden, zeigen musikpsychologische Untersuchungen, die in den 90er Jahren in Kanada stattfanden. Kinder, die zwei Jahre lang Klavierunterricht hatten, wurden auf ihre mathematische Intelligenz getestet genauso wie Kinder, die keinen Klavierunterricht hatten. ALTENMÜLLER: Da zeigte sich eben, dass die Klavierkinder einen verbesserten mathematischen IQ hatten nach zwei Jahren Klavierspiel. Allerdings muss man einschränkend sagen, dass die Kontrollkinder, die keinen Klavierunterricht bekommen haben, nach drei Jahren dann wiederum die Klavierkinder eingeholt hatten, so dass man sagen kann, dieser Klavierunterricht, der eben auch genau diese einfachen binären Verhältnisse von Zeiten, also Halbe, Viertel, Sechzehntel, Achtel enthalten hat, dass dieser Klavierunterricht eine Entwicklung beschleunigt hatte. Der Umgang mit den musikalischen Zeitproportionen fördert also offenbar das Verständnis für Zahlenverhältnisse überhaupt und somit für Mathematik, folgert Eckhart Altenmüller. Er ist Direktor des Instituts für Musikphysiologie und Musikermedizin an der Musikhochschule Hannover und beschäftigt sich mit der Wahrnehmung und Wirkung von Musik. Musik kann das mathematische Verständnis fördern. Das zeigt sich für ihn auch in dem berühmten Mozart-Effekt, der 1992 von der amerikanischen Psychologin Frances Rauscher entdeckt wurde. Das räumliche Vorstellungsvermögen, das für geometrische Operationen notwendig ist, funktionierte bei den Testpersonen am besten, die während eines IQ-Tests mit einer Mozart-Klaviersonate beschallt wurden. ALTENMÜLLER: Es sieht wohl so aus: Wenn ich die Musikstücke ansprechend finde und die mich aktivieren, dann wird meine rechte Hirnhälfte wohl etwas stärker durchblutet, und das führt dann auch zu einem Überschwappen der Leistungsfähigkeit auf konstruktive räumlich-zeitliche Denkvorgänge.

4 Seite 4 Der Mozarteffekt funktioniert aber auch mit Heavy Metal oder Hiphop, Hauptsache, die Musik gefällt. Dass wir intuitiv von der mathematischen Stimulierung wissen, die durch Musik möglich ist, schließt Eckart Altenmüller auch aus der Erfahrung, dass Schüler gerade beim Ausführen ihrer Mathematikaufgaben häufig Musik auflegen. ALTENMÜLLER: Es ist denkbar, dass die intuitiv ihre Emotionen dadurch anheben, positiver tönen und dann auch ihre mathematische Kreativität und Leistungskraft zunimmt. Es ist denkbar, dass hier ein weiterer Kanal eingeschaltet wird, der dann auf irgend eine rätselhafte Weise ebenso wie der Mozarteffekt eine bestimmte Erleichterung der neuronalen Vorgänge mit sich bringt. GLASS: Einstein on the beach Musikalischer Genuss ist mathematisch, sagte Novalis und Leibniz nannte die Musik eine verborgene arithmetische Übung der Seele, die nicht weiß, dass sie mit Zahlen umgeht. Sind Musik und Mathematik also vielleicht gar nicht so weit voneinander entfernt, wie es die Lehrpläne von Schulen und Hochschulen suggerieren, wenn sie die beiden Fächer streng voneinander trennen, indem sie die Musik dem künstlerischen und die Mathematik dem naturwissenschaftlichen Bereich zuordnen? Von einer solchen Trennung hält der Mainzer Komponist und Musiktheoretiker Lutz Dreyer überhaupt nichts. Heute wird die Mathematik als Naturwissenschaft gewissermaßen gesehen. Da hab ich meine Zweifel, ob das so ist, denn letzten Endes ist die Motivation, die der Mathematiker hat, eigentlich eine rein künstlerische, nämlich etwas zur Stimmigkeit zu bringen, eine Form zu finden und eine einfache Lösung zu finden. E mal M gleich C Quadrat. Also, etwas Schöneres gibt es eigentlich für einen Mathematiker nicht als diese einfache Formel, die eben alles auf einen Nenner bringt. BEHRENDS: Für viele Mathematiker ist Mathematik doch eher mit Kunst zu vergleichen, dass sie kreativ sind, dass sie versuchen das Material neu zu sehen und neue eigene Ergebnisse zu finden. Das hat durchaus Parallelen zu dem, was Musiker und bildende Künstler machen.

5 Seite 5 Das sagt der Mathematiker Ehrhard Behrends von der Freien Universität Berlin. Für ihn ist Mathematik eine kreative Wissenschaft, die sehr wohl mit Emotionen und Ästhetik zu tun hat. Das lässt sich Nicht-Mathematikern allerdings nur schwer vermitteln. BEHRENDS: Der Hauptgrund scheint mir zu sein, dass in der Schule doch dieses Formale zu sehr im Vordergrund steht. Ich will das mal versuchen zu vergleichen: Stellen Sie sich einen Kunstunterricht vor, wo sie Farbenkunde machen und Pinselkunde und wenn s hoch kommt vielleicht mal Malen nach Zahlen. Das wird ja auch niemals zu einer richtigen Begeisterung für den kreativen Teil der Kunst führen können. GLASS: Einstein on the beach Wenn der Mathematiker selbst sich als Künstler versteht, was ist dann mit der Musik? Ist die am Ende eine mathematische Wissenschaft? Selbstverständlich, würde darauf der Gelehrte des Mittelalters antworten, irritiert schon allein wegen der Frage. RENAISSANCE-MUSIK Der Ursprung der Musiktheorie war ja der, dass sie als mathematische Wissenschaft gesehen wurde,......sagt Musiktheoretiker Lutz Dreyer....und zwar in enger Verwandtschaft mit Astronomie, mit Geometrie, mit Arithmetik und insofern bildete also die Musik zusammen mit diesen drei mathematischen Wissenschaften einen großen Wissenskomplex, den man im Mittelalter als Quadrivium bezeichnete, als den Vierweg, der sich unterschied vom Dreiweg, vom Trivium, also von den sprachlichen Wissenschaften Rethorik, Grammatik und Logik. Und so war es bis weit ins 17. Jahrhundert hinein. Was damals als Musik galt, würden wir heute vielleicht eher als Musiktheorie bezeichnen. Albrecht Beutelspacher vom Mathematikum Gießen:

6 Seite 6 Im Grunde war alles von dem Quadrivium aus heutiger Sicht Mathematik. Die haben nicht gelernt Geige zu spielen oder Klavier zu spielen oder zu singen, sondern die haben Intervalle und deren zugehörige Zahlenverhältnisse studiert. Und interessant ist wirklich, dass das als Grundlage für alles angesehen wurde. Jeder, der überhaupt etwas werden wollte, egal in welchem Fach, musste dieses Quadrivium durchmachen und hat dabei viel traditionelle Mathematik und diese ganz spezielle Art der Musiktheorie gelernt. Die Intervalle, also die Beziehungen der Töne zueinander, waren ein Hauptgegenstand der Musikbeschäftigung. Das harmonische Verhältnis, das zwischen zwei Tönen herrscht, etwa der Wohlklang einer Oktave oder einer Quinte, diese Harmonie ließ sich in Zahlen ausdrücken. Das wussten schon die alten Griechen. Da die Zahlenverhältnisse in der Musik für Harmonie sorgten, so folgerten die Griechen und mit ihnen die mittelalterlichen Theoretiker, müssten sie sich auch in anderen Bereichen finden lassen, überall dort eben, wo Ordnung, wo Harmonie herrscht. Die Musik wurde zum Ausgangspunkt bei der Suche nach der Harmonie der Welt. MUSICA MUNDANA Keplers große Idee war die Harmonie der Welt zu erkennen. Die Harmonie der Welt sah Kepler gestört durch die Planetenbewegungen, die einfach nicht erklärbar waren mit ihren merkwürdigen Schleifenbewegungen. Das entsprach in keiner Weise dem, was ein Mathematiker als harmonisch empfinden kann. Auch Johannes Kepler hat als Mathematiker und Astronom den Bildungskanon des Quadriviums durchlaufen, kannte sich also mit Musik respektive der Musiktheorie seiner Zeit bestens aus. Wie besessen suchte er am Beginn des 17. Jahrhunderts in den Planetenbahnen nach musikalischen Zahlenproportionen. Mit ihnen, so war seine Hoffnung, ließen sich die unkreisförmigen Wege der Himmelskörper vielleicht erklären, die die Harmonie der Welt doch so sehr störten. Mathematisches Geschick und musikalischer Sachverstand brachten Kepler den erhofften Erfolg. Aus dem Verhältnis zwischen dem sonnennächsten und dem sonnenfernsten Punkt, da hat er für die einzelnen Planeten Proportionen gefunden, die musikalischen Intervallen entsprachen, d.h. für den Saturn eine große Terz, für den Jupiter eine kleine Terz, für den Mars eine Quinte,

7 Seite 7 für die Erde eine kleine Sekunde und für den Merkur eine kleine Dezime, so dass er also zu einem kompletten Tonsystem gekommen ist. MUSICA MUNDANA Johannes Kepler war einer der letzten Naturwissenschaftler, für die die Beschäftigung mit der Theorie der Musik noch zum Handwerk gehörte. Bald schon trennten sich die Wege von Musik und Mathematik. Wissenschaft und Kunst wurden jetzt streng auseinander gehalten. Die Musik verwandelte sich von einer mathematischen Disziplin in eine Kunst des Gefühlsausdrucks. Italienische Opernarie Wir sehen die Musik ja heute nicht primär von der Theorie bestimmt, sondern wir sehen Musik, und zwar schon seit Jahrhunderten, eigentlich eher von der Praxis bestimmt. Musik hatte einen gewissen Zweck im kirchlichen Leben, im weltlichen Leben, heute spielt sie eine unglaubliche Rolle in der Unterhaltungswelt. Und da kommen wir zunächst nicht von der Theorie her und konstruieren irgendetwas, jedenfalls nicht als Hörer, sondern wir erleben etwas. Musik erfüllt uns mit Freude oder mit Trauer, je nachdem. Und wir brauchen dazu, jedenfalls zunächst, keine Theorie. Wo liegen heute die Berührungspunkte zwischen Musik und Mathematik? Früher war es die Musik, mit deren Hilfe man versuchte die Welt zu erklären. Heute zieht man die Mathematik zu Rate, um dem Phänomen Musik auf die Spur zu kommen. Aber kann die Mathematik uns auch für das, was an der Musik begrifflich so schwer zu fassen ist, für Ausdruck, Gefühl und Emotion, eine quasi naturwissenschaftliche Erklärung liefern? Das bezweifeln sogar die Mathematiker selbst. Ehrhard Behrends: BEHRENDS: Sie kann vieles über die Struktur aussagen, sie kann interessante Zusammenhänge aufzeigen, aber das, was das Allerwichtigste an Musik ist, dass man sich von der Stimmung her stark beeinflussen kann, da ist die Mathematik sicher nicht die richtige Wissenschaft dafür. Für Mathematiker spannender sind eigentlich Sachverhalte, die das Akustische an sich betreffen, Mathematik, die etwas zu tun hat mit akustischen Wahrnehmungen, was ein bisschen allgemeiner ist als die Musik.

8 Seite 8 GLASS: Einstein on the beach (über Musik:) Es bleibt das Bild von zwei Disziplinen, die längst nicht so weit von einander entfernt sind, wie man im ersten Moment meint und die im Laufe ihrer Geschichte schon oft miteinander zu tun hatten. Bei den Begegnungen zwischen Musik und Mathematik kommt es letztlich nur auf die Perspektive an. Musik hoch Ende Und ich denke: Auch Musik hören heißt nicht sich bewusstlos dem Genuss hingeben, sondern ich glaube auch, wenn man Musik ein bisschen von der Theorie her kennt, hört man mehr. Ich halte die Mathematik heute noch für eine Kunst und nicht so sehr für eine Wissenschaft. Für den Mathematiker gilt die einfache Proportion, die Klarheit als Schönheit. Und für den Musiker eigentlich dasselbe.