MAGERSUCHT!- Zu perfekt, um gesund zu sein

Transkript

1 MAGERSUCHT!- Zu perfekt, um gesund zu sein Disziplin, Fleiß und Selbstkontrolle sind Tugenden, die unsere Gesellschaft mit Anerkennung und Erfolg belohnt. Im Extremfall führen sie in die Magersucht. Anfangs frühstückte sie noch jeden Morgen eine große Schale Müsli mit Banane. Die Portionen wurden kleiner. Nach einiger Zeit gab es statt der Banane einen Apfel, denn der hatte weniger Kalorien. Bald war nicht mehr jeder Apfel gut genug. Nur noch die sauren. Die haben weniger Zucker. Irgendwann bestand das Frühstück nur noch aus einem Apfel. Bis dieser Apfel zu dem Einzigen wurde, was Franka B. an einem ganzen Tag zu sich nehmen sollte. Psychisch krank Die Teile der Serie Millionen von Menschen in Deutschland sind psychisch krank. Ob Depression, Sucht oder Angststörungen, die Zahl derer, die wegen seelischer Leiden Hilfe suchen, nimmt zu. Einige Studien gehen sogar davon aus, dass fast jeder im Laufe seines Lebens einmal davon betroffen ist entweder selbst oder als Verwandter oder Freund eines Menschen, der erkrankt. Vor allem junge Menschen trifft es. Betroffene und deren Angehörige beschreiben, wie die Erkrankung ihr Leben verändert hat, wie sie erkannten, dass sie krank sind und

2 wie sie nun damit umgehen. Experten geben Tipps, wie man mit psychischen Leiden zurechtkommt und welche Hilfsangebote es gibt. "Mit 18 hätte ich noch gesagt, dass mir so etwas nie passieren kann, Gewicht war für mich nie ein Thema, ich war immer diejenige, die fünf Nutellabrote zum Frühstück essen konnte", sagt sie heute. "Und Joggen habe ich gehasst." Damals wog sie 67 Kilogramm bei einer Körpergröße von 1,80 Metern. Mit ihrem Aussehen war sie sehr zufrieden und bekam von allen Seiten zu hören: "Du kannst ja sowieso essen, was du möchtest." Nur eineinhalb Jahre später, aber um 20 Kilogramm herunter gehungert, muss sie sich eingestehen, dass sie an einer schweren Essstörung leidet. Am Ende kam Franka B. nur noch auf einen Body Mass Index (BMI) von unter 17,5. Eindeutige Diagnose: Magersucht. "Mich hat es total schockiert, dass ich da reingerutscht bin, obwohl ich so zufrieden war", sagt sie heute. Um eine Magersucht zu entwickeln, braucht es als Auslöser weder schlechte Familienverhältnisse noch nach außen sichtbare Probleme. Gerade zielstrebige, ehrgeizige und erfolgreiche Mädchen oder junge Frauen gehören zur Magersucht- Risikogruppe. Mehr als ein Prozent aller 14- bis 25-jährigen Frauen erkranken daran, besagen Studien. Bei Männern äußern sich Essstörungen anders Männer können ebenfalls betroffen sein. Unter ihnen kommen Essstörungen aber zehnmal seltener vor. Diejenigen, die es trifft, treiben häufig auch übermäßig

3 Sport, bauen viel Muskelmasse auf. Warum das so ist, daran forschen Wissenschaftler weltweit. Offenbar spielen das Umfeld, gesellschaftliche Faktoren und die Gene eine Rolle. Ist ein Zwilling magersüchtig, beträgt das Risiko des anderen, ebenfalls zu erkranken, immerhin 50 Prozent. Kinder von Betroffenen erwischt es zehnmal so oft, wie solche, bei denen kein Elternteil je eine Essstörung hatte. Viele junge Frauen, die in die Magersucht hineinschlittern, haben schon als Mädchen gelernt, Probleme im Leben einfach wegzuschuften. Angepasst, diszipliniert, fleißig und unkompliziert beeindrucken diese jungen Frauen Außenstehende. Meist sind sie beliebt, bekommen viel Lob, sind in der Schule, im Studium oder im Job erfolgreich. Doch mit der Zeit kann so ein Perfektionismus ein regelrechtes Eigenleben entwickeln. Plötzlich wird alles im Alltag kontrolliert, gesteuert, geplant. Auch das, was die Betroffenen essen, wie viel Kalorien sie verbrennen, wie viel Sport sie treiben. Kontrolle als Kick Wer sich ständig anpasst, sich keine Fehler erlaubt und so auch der echten Konfliktbewältigung ausweicht, gerät auf Dauer unter gewaltigen Druck. Und je größer der wird,

4 desto stärker reagieren Magersüchtige damit, ihre bewährte Strategie auszuleben: Noch disziplinierter sein, noch fleißiger, noch kontrollierter das erscheint ihnen als die schlauste Lösung. Innere Unsicherheit kompensieren sie durch Ehrgeiz und Leistungsorientierung. So lange, bis der Körper nicht mehr mitmacht. Bedürfnisse, wie Hunger, unterdrücken zu können, verschafft Magersüchtigen sogar einen Adrenalinkick, vergleichbar mit dem Gefühl, das Botenstoffe im Gehirn nach tollen Erfolgserlebnissen im Job oder im Sport auslösen. Körpergewicht und Selbstwertgefühl verknüpfen sich im Kopf essgestörter Menschen mit der Zeit immer stärker. Über das Ventil der Selbstkontrolle und der Herrschaft über das eigene Gewicht, versuchen sie, auch ihr Umfeld zu kontrollieren. Unvorhergesehenes und Unbeherrschbares, wie etwa ein Jobwechsel, die Trennung der Eltern, ein Umzug oder Stress im Job, verstärkt die Symptome der Magersucht. Magersucht! Zu perfekt, um gesund zu sein Die Zuschaustellung ausgehungert wirkender Models, die ebenfalls einen BMI haben, der die Kriterien einer Magersucht erfüllt, ist zwar meist nicht der Auslöser, trägt aber dazu bei, die Betroffenen im ihrem Hungerdrang anzustacheln. "Ich habe in allen Phasen meiner Erkrankung Komplimente bekommen, gerade von Fremden, die mich als schlanke, große Frau bewunderten", erzählt Franka B.

5 Kontrolle und Unabhängigkeit sind auch für sie zwei wichtige Stichwörter. "Ich wollte nie jemandem zur Last fallen und alles alleine hinbekommen", sagt sie. "Deswegen war es für mich umso schlimmer, als ich festgestellt habe, dass ich mit meiner Krankheit gerade die Menschen, die ich entlasten wollte, tief mit in meine Probleme hineingezogen habe." Erst als sie das erkannt hatte, konnte sie sich Hilfe holen. Bei ihr kam die Krankheit schleichend, aber schnell. "Es fing mit Langeweile und Einsamkeit an", sagt sie. Das war, als sie nach dem Abi für ein Jahr ins Ausland ging. "Dort hatte ich zwar meine Arbeitskollegen, aber sonst wenig Beschäftigung und kaum Anschluss." Vieles kam in jener Zeit zusammen. Heute kann sie keinen genauen auslösenden Faktor mehr festmachen. Hilfe für Betroffene Hilfe für Angehörige Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) bietet auf ihrer Seite eine deutschlandweite Suche an, mit der Betroffene und Angehörige herausfinden können, welche Selbsthilfegruppen und Anlaufstellen es in der Nähe ihres Wohnorts gibt. Betroffene können sich dort kostenlos die Broschüre Essgestört? Übergewichtig? So findest du Hilfe als pdf-datei herunterladen. Der Bundesfachverband Essstörungen hat auf seiner Webseite ebenfalls eine nach Postleitzahlen geordnete Aufstellung von Beratungsstellen, Kliniken, niedergelassenen Therapeuten, und Wohngruppen.

6 Auf magersucht.de gibt es eine Datenbank mit Kontaktdaten von Selbsthilfegruppen, Beratungsstellen und Kliniken. Außerdem findet sich auf der Seite ein Überblick über die verschiedenen Therapieformen. Die Seite essfrust.de bietet eine Online-Beratung bei Essstörungen an. Im Einzel- oder Gruppen-Chat können Betroffene Beratung in Anspruch nehmen. Es gibt auch die Möglichkeit, per beraten zu werden. Gleichzeitig zu ihren schrumpfenden Mahlzeiten und der schwindenden Silhouette wurde auch Bs. Lebensradius immer schmaler. "Ich konnte irgendwann nichts mehr machen, mein Tagesablauf wurde starrer und unflexibler. Alles konzentriert sich auf die Nahrungsaufnahme und darauf, den anderen gegenüber ein gut konstruiertes Gerüst an Ausreden aufzutischen." Im Ausland war Franka B. weit weg von ihrer Familie und guten Freunden. So bemerkte niemand, wie sie sich veränderte. 15 Kilogramm nahm sie in einem halben Jahr ab. Sie freute sich, bei ihrer Rückkehr nach Hause ihr Wunschgewicht erreicht zu haben. Eigentlich wollte sie mit der "Diät" wieder aufhören. "Aber so leicht kommt man leider nicht mehr aus der Situation heraus. Das eigene Körpergewicht und die damit verbundene Selbstkontrolle sind eine Sucht", weiß B. heute. Über den Wunsch, einem Schönheitsideal zu gleichen, geht die Erkrankung weit hinaus. Die Erkrankten haben kein Gefühl mehr für ihren eigenen Körper, fühlen sich immer zu dick, unabhängig davon, wie unterernährt sie sind. Der reale Blick für die eigene Figur geht verloren. Sie haben ein

7 verzerrtes Bild von sich selbst, während sie die Umwelt normal beurteilen können. Auch Franka B. hatte bei jedem Bissen Angst, sofort zuzunehmen: "Ich musste meine Sportsachen immer dabei haben. Ich dachte, sonst überlebe ich nicht." Magersucht ist die tödlichste psychische Erkrankung Erst als sie schon weniger als 50 Kilogramm wog, bemerkte sie auf der Straße immer häufiger, dass Fremde sie kritisch musterten. "Auf Partys wurde ich von anderen Mädchen angesprochen, die mir ihre Hilfe angeboten haben. Es hat tatsächlich geholfen, mit Fremden darüber zu sprechen. Da hatte ich das Gefühl, sie nicht so sehr mit meinen Problemen zu belasten." Zu Hause hingegen, wo bereits einige Freunde Sorgen äußerten, hatte B. stets absolute Autonomie demonstriert. "Mein überzeugendes Auftreten war mir hier ein Nachteil, ich konnte gut erklären, dass es mir gut gehe und ich ja gerade woanders bereits gegessen hätte." Das soziale Umfeld hat hier nicht gegriffen, an einer Stelle, an der es überlebenswichtig sein kann. Denn Magersucht ist die psychische Erkrankung mit der höchsten Sterblichkeit. Zehn bis 20 Prozent der Betroffenen sterben an den Folgen. Irgendwann kann der Körper den Nährstoffmangel nicht mehr kompensieren. Herzrhythmusstörungen, Ohnmachtsanfälle, Haarausfall, Karies und Verstopfung sind typische Symptome. Auch Nahrungsmittelunverträglichkeiten können auftreten. Die Erkrankten frieren ständig, bekommen trockene und fahle Haut und Knochenschwund. Sogar die Nerven schädigt das

8 dauerhafte Hungern. Magersüchtige leiden an Empfindungsstörungen, bei Frauen setzt die Periode aus. "Mir war einfach wahnsinnig kalt, ich habe überall und immer gefroren", sagt B.. "Und von Sexualität muss man zu so einer Zeit gar nicht mehr reden. Ich war regelrecht asexuell, hatte kein Körpergefühl mehr." Umso wichtiger ist das frühe Eingreifen von Freunden und Bekannten. Zwar reagieren Betroffene darauf meist sauer und undankbar und sind durch ihren schlechten körperlichen Zustand zusätzlich aggressiv und reizbar. Das sollten Angehörige in diesem Moment aushalten. "Es ist die Aufgabe eines guten Freundes, sich zu trauen auch zu kritisieren", wünscht sich B.. "Die Menschen, die einem am wichtigsten sind, können am meisten beeinflussen." Magersucht Zu perfekt, um gesund zu sein Je häufiger B. auf die Magersucht angesprochen wurde, umso mehr Gedanken habe sie sich gemacht. Nach außen hin habe sie zwar so gewirkt, als würde alles an ihr abprallen. "Nach innen war die Wirkung aber voll da", sagt sie. "Am schlimmsten war es für mich, meine Mutter leiden zu sehen. Da habe ich gemerkt, dass das nicht mehr nur meine Sache ist." Ein Jahre nachdem alles begonnen hatte, bemerkte B., dass sie alles genauso gemacht hatte, wie die Betroffenen in den Büchern über Magersucht. Da habe sie gesehen, dass sie nicht die einzige "Dumme" war. Bis dahin hatte sie die Krankheit für eine absurde und ferne Modeerscheinung gehalten. "Magersucht hatte für mich bis dahin immer etwas

9 mit Schönheitsidealen zu tun, mit Hungern, um eine schöne Figur zu haben. Tatsächlich ist die Krankheit aber viel komplexer." Auszusprechen, dass sie magersüchtig ist, fiel ihr extrem schwer. Paradoxerweise griff an dieser Stelle wieder ihr Ehrgeiz, diesmal um die Sucht zu bekämpfen. "Ich hatte mir das eingebrockt und wollte da auch selbst wieder rauskommen." Gespräche mit Freunden können helfen, vor allem um wieder in den Alltag zurück zu finden, nicht nur auf die Krankheit zu fokussieren, endlich wieder zu leben. "Aber ich wollte nicht ständig hören, dass ich mehr essen solle, wollte einfach wieder die gemeinsame Zeit genießen." Zusätzlich half ihr eine externe Psychotherapie. Wer bemerkt, dass etwas mit dem eigenen Essverhalten nicht stimmt, sollte dringend seinen Therapeuten ansprechen, und wenn nötig, mit diesem zusammen eine Therapie organisieren. Und das möglichst früh die Wartezeit auf einen Platz kann lang sein. Wichtiger und überlebenswichtiger Teil der Behandlung ist ein mit dem Psychotherapeuten vereinbartes Zielgewicht und ein Minimalgewicht, das auf keinen Fall unterschritten werden darf. Im schlimmsten Fall bleibt als lebensrettende Maßnahme sonst nämlich nur noch die Einweisung in eine Klinik zur künstlichen Ernährung am Tropf. Die Therapie macht fit, künftige Probleme besser zu lösen Viele Therapeuten machen mit ihren Patientinnen einen regelrechten Vertrag. Sobald die Betroffenen den erfüllen oder brechen, folgen Belohnungen und Sanktionen. Begleitend dazu ist eine professionelle Ernährungsberatung

10 wichtig. So können Menschen mit Essstörungen wieder ein gesundes Verhältnis zum Essen und zum Sport zu entwickeln und lernen, welche Nährstoffe wertvoll und wichtig sind. Methoden aus der Verhaltenstherapie helfen gegen das verzerrte Selbstbild. Damit Betroffene in einer Lebenskrise oder auch bei kleineren Problemen nicht wieder in ihr altes Fleiß-Disziplin- Kontroll-Muster verfallen, lernen sie andere Strategien, um Konflikte zu bewältigen. In einigen Fällen ist auch eine Familientherapie sinnvoll. Medikamente helfen gegen Magersucht kaum, anders als der mit ihr verwandten Essstörung der Bulimie. Diese Form der Erkrankung äußert sich durch unkontrollierte Essanfälle und anschließendem Erbrechen. Mischformen aus Magersucht und Bulimie sind ebenfalls häufig. Auch andere psychische Erkrankungen, wie Zwangs-, Angst- und Persönlichkeitsstörungen oder depressive Episoden treten oft zusammen mit Essstörungen auf. Leider ist Magersucht eine sehr schwere und nicht immer heilbare Krankheit. Nur ein Drittel der Betroffenen werden wieder gesund, ein weiteres Drittel hat zumindest Rückfälle und muss die Therapie immer wieder aufnehmen. Die besonders schwer Erkrankten kämpfen dauerhaft, und 20 Prozent aller Magersüchtigen verlieren diesen Kampf. Sie verhungern an ihrer krankhaften Selbstdisziplin.

11 Franka B. scheint zu einem der ersten beiden Drittel zu gehören. Die mittlerweile 24-Jährige hat gute Chancen, die Magersucht zu besiegen. Sie studiert und fühlt sich jetzt wieder gesund mit einem Gewicht von 60 Kilogramm, fünf Jahre nachdem alles begonnen hat. "Der Punkt, an dem mir klar wurde, dass es mir wieder besser geht, war als ich zu Weihnachten endlich nicht mehr die Sportsachen mit zu meinen Großeltern nehmen musste. Das Essen gemeinsam zu genießen, war plötzlich wieder möglich". Das mag nach wenig klingen. Angesichts dieser so schweren Erkrankung, sind solche Erfolge Riesenschritte.