Medizinische Ethik Genese, Traditionen und Trends..
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- Bernd Frank
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1 Mariacarla Gadebusch Bondio INSTITUT für GESCHICHTE der MEDIZIN DEPARTMENT of HUMANITIES in LIFE SCIENCES Medizinische Ethik Genese, Traditionen und Trends.. GTE I. Problemfelder und Grundbegriffe: Moral, Ethik, medizinische Ethik II. Zur Genese der medizinischen Ethik: Der hippokratische Eid (Entstehungskontext, Inhalt und Struktur) III. Wirkungsgeschichte
2 LITERATUR ORIENTIERUNGSWERKE Urban Wiesing (Hg.): Ethik in der Medizin, Reclam TB, Stuttgart 2004, 2.Aufl. Stefan Schulz/Klaus Stegleder/Heiner Fangerau/Norbert Paul (Hg.): Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Franfurt a/m Klaus Bergdolt: Das Gewissen der Medizin Ärztliche Moral von der Antike bis heute, München 2004 LEXIKA Encyclopedia of Bioethics, Hg. W. Reich, New York Lexikon der Bioethik, hg. W. Korff u.a., Gütersloh 1998, 3 Bde. ZEITSCHRIFTEN Ethik in der Medizin (Akademie für Ethik in der Medizin) Zeitschrift für medizinische Ethik Bioethics Journal of Medical Philosophy Medical Health Care Philosophy Clinical Ethics KLASSIKER Hippokrates, Der Eid, in: Hippokrates, Ausgewählte Schriften, übersetzt von H. Diller mit einem bibliographischen Anhang von K.-H. Leven, Stuttgart 1994, Aristoteles, Nikomachische Ethik, in: Aristoteles, Philosophische Schriften, 3., Üb: E. Rolfes, Hamburg Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785), hg. von T. Valentiner, Stuttgart Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft (1788) Thomas Percival, Medical Ethics, or a Code of Institutions and Precepts Adapted to the Professional Conduct of Physicians and Surgeons (Reprinted from the 1805 Version), Birmingham Albert Moll: Ärztliche Ethik. Die Pflichten des Arztes in allen Beziehungen seiner Thätigkeit, 3 Bde. Stuttgart 1902.
3 INZWISCHEN KLASSIKER Tom L. Beauchamp/James F. Childress : Principles of Biomedical Ethics (1979), New York (Oliver Rauprich/Florian Steger (Hg.), Prinzipienethik in der Biomedizin. Moralphilosophie und medizinische Praxis, Frankfurt 2005) Edmund D. Pellegrino/David C. Thomasma: The Virtues in Medical Practice, New York, Oxford 1993 Jürgen Habermas: Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt am Main Peter Singer : Praktische Ethik, Stuttgart I. Problemfelder und Grundbegriffe: Moral, Ethik, medizinische Ethik
4 Der Fall Jonas, 5 Jahre, gehörlos geboren und behindert Hirnstammimplantat (ABI) als medizinisch indiziert Invalidenversicherung verweigert die Kostenübernahme: Es sei nicht bewiesen, dass ein ABI bei Kindern indiziert sei. Die Eltern klagen vor dem Kantonsgericht Basel Medizinische Gutachter ABI-OPs seien nicht experimentell und kaum komplikationsanfällig Befriedigende Ergebnisse: Kinder können leichter von den Lippen lesen : Das Versicherungsgericht in Luzern lehnt die Finanzierung ab. Cochlea-Implantate (CI) Vermittlung akustischer Empfindungen bei erworbener oder angeborener Taubheit aufgrund cochleärer Störungen 1. Mikrophon, 2. Sprachprozessor 3. Sender 4. Empfänger und Elektrode 5. Hörnerven 6. Gehirn J. Müller, Lar.-Rhin.-Otol. 84, 2005,
5 Hirnstamm- und Mittelhirnimplantate (ABI / AMI) Neurale Hörschädigung durch Zerstörung bzw. Fehlen des Hörnervs (Hörnervenaplasien / cochleäre Ossifikation / Neurofibromatose Typ 2.) ABI Auditory Brainstem Implant PABI Penetrierende Hirnstammimplantate AMI S. Roshal, et al. Deutsches Ärzteblatt, 101/4 (2004); T. Lenarz, H. Lim, et al. HNO, 57 (2009) Medizinethische Fragen Indikationsfrage Nichtschadensprinzip 1. Darf eine Operation, deren Ergebnisse umstritten sind, für einen nicht einwilligungsfähigen Patienten als indiziert gelten? 2. Werden die Entscheidungsträger in die Lage versetzt, eine Entscheidung im Sinne des gehörlosen Kindes zu treffen? Aufklärungsfrage Informed Consent
6 Indikationsfrage Die Sicht der medizinischen Experten Neuroprothetische Versorgung bietet die beste Lösung für das gehörlose Kind. Gute Ergebnisse: erhöhte Chancen von Sprachrezeption (Lippenlesen) und Sprachproduktion bei frühem Einsatz der Implantate und lautsprachlichem Training. Aufklärungsfrage Ein klares Ziel: die Behinderung beheben und das Kind in die Gesellschaft integrieren. J. Müller, Lar.-Rhin.-Otol., 84 (2005) Leitlinien der Dt. Gesell. HNO, Cochlear Implant Versorgung Feb Indikationsfrage Die Sicht der nicht-medizinischen Experten Fragwürdige Ergebnisse: vereinfachtes akustisches Informationsangebot, das Kind bleibt schwerhörig und in medizintechnischer Abhängigkeit (Verstoß gegen das Nichtschadensprinzip). Aufklärungsfrage Verstoß gegen das Autonomie-Prinzip: das Recht des gehörlosen Kindes auf ein natürliches Leben wird übergangen. Das Defizitmodell der Medizin ermöglicht nicht, für das Kind zu entscheiden. Der Medizin werden Ausmerzen von Taubheit, Audismus, Oralismus und Perfektionswahn vorgeworfen. Hintermair/Albertini, Jou. Deaf Stud. 10 (2005); Stellungnahme zu CI vom Deutschen Gehörlosenbund 1993
7 Technische Innovationen in der Medizin führen zu Handlungsmöglichkeiten, deren moralische und rechtliche Beurteilung nicht eindeutig ist. Durch pränatale Diagnostik können genetisch bedingte Erkrankungen festgestellt werden. Ist unsere Gesellschaft bereit, Behinderungen zu akzeptieren? Welchen moralischen Status haben Föten/Embryonen? Könnte die Manipulierung des Human-Design durch in-vitro-fertilisation zur Aufgabe der Eltern werden? GATTAKA das (zweite) fehlerfreie Kind
8 Moralische Implikationen der Naturoptimierung Jürgen Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, 2005 Problem der individuellen Freiheit und Selbstbestimmung bei Erweiterung des Optionsspielraums (durch Gentechnik) vom kantschen Reich der Notwendigkeit (Natur) vom Reich des Zufalls (Evolution) zum Reich der Freiheit (Manipulierung der Natur) Anthropologische Wende das Individuum gewinnt an Autonomie und Freiheit Selbsttransformation der menschlichen Gattung Verlust vom normativen Selbstverständnis der Person Moralisches Verhalten verstehe ich als konstruktive Antwort auf Abhängigkeiten und Angewiesenheiten, die in der Unvollkommenheit der organischen Ausstattung und der fortbestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Phasen der Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Moralisch nenne ich Fragen des gerechten Zusammenlebens. Für handelnde Personen, die miteinander in Konflikt geraten können, stellen sich solche Fragen in Hinblick auf den normativen Regelungsbedarf von sozialen Interaktionen. J. Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur, 62-63; 73
9 I. Bio-psycho-soziale Dimension der Medizin Patientenbetreuung Gutes tun/ unterlassen Sterben Tod Gesellschaft Institutionen Ärztin / Arzt Krankheit Patient / Patientin Familie heilen / therapieren Gesundwerden Leben Macht Forschung Machtlosigkeit Medizin = téchne + epistéme = Handlungswissenschaft PROBLEMFELDER Arzt-Patient-Beziehung Forschung am Menschen Kommunikation Aufklärung Patientenautonomie Informed-consent Schweigepflicht Schutz der Menschenrechte Schwangerschaftsabbruch Definition von Leben Reproduktionsmedizin Anfang und Grenzen des Lebens Embryonenschutz Genmanipulation Forschungsfreiheit Humangenetik Gentechnologie: Chancen und Risiken Wert des Lebens Designer Babies Recht auf Anderssein
10 Ethik in der Psychiatrie Ethik in der Kinderheilkunde Mittelverteilung im Gesundheitswesen Gerechtigkeitsfragen Rechte auf Gesundheitsversorgung Allokation /ärztliche Verantwortung bei Allokation Transplantationsmedizin Hirntod und Todesbegriff Modalitäten der Organsspende, -Entnahme Übertragung von Organen Verteilungsentscheidungen Sterbebegleitung Tun und Unterlassen Sterben/ Sterbenlassen Tod, Tötung, Euthanasie Ethik in der Medizin (Medizinische Ethik Bioethik) Gesundheitsvorsorge Patientenaufklärung Diagnostische Untersuchung Therapeutisches Handeln Palliative Begleitung Medizinische Forschung Wie kann die Medizin etwas gutes tun? Darf die Medizin, was sie kann? Kann die Medizin, was sie darf?
11 3 Gründe für einen interdisziplinären Ansatz 1. Grund Der Umgang mit Gesundheit und Krankheit sowie mit Normalität und Abweichung wird durch das medizinische Menschenbild stark geprägt. Dies ist zeit- und kulturabhängig: in einer pluralistischen Gesellschaft müssen medizinische Konzepte vom Menschen hinterfragt und reflektiert werden. 2. Grund Ein medizinethisches Problem zeichnet sich ab, wenn Dissens über Wertorientierungen besteht. Die Entwicklung konsensfähiger Normen stellt einen diskursiven Prozess dar. Für eine moralisch angemessene Entscheidungsfindung sind Kommunikationsdefizite zu beheben. J. Habermas, Die Zukunft der menschlicher Natur, 2001 Ders., Zwischen Naturalismus und Religion, 2005.
12 3. Grund Für einen achtsamen und nachhaltigen Umgang mit den höchsten Werten (Leben, Gesundheit, Umweltressourcen, etc.) ist die Medizin zur kritischen Vergewisserung ihrer Moral verpflichtet. D.h. die Unschärfe von Begriffen wie das Gute in ihrer individuellen, kulturellen, historischen Bedingtheit in Kauf zu nehmen. L. Wittgenstein, Phil. Untersuchungen, I,77 H. Blumenberg, Theorie der Unbegrifflichkeit, Begriffe Ethik Gegenstand / Ziel Aristoteles ( v Chr.) Bereich der praktischen Philosophie Eudemische Ethik Nikomachische Ethik Große Ethik das Gute tagathón, gr. das, wonach alles strebt (relativ aufgefasst) Nik. Eth a3 Weg éthos, gr. Sitte, Gewohnheit, Brauch (œqoj /éthos) Charakter = geübtes sittliches Handeln (Ãqoj / éthous)
13 mos, moris, lat. Sitte, Charakter, Temperament Moral Ethik/ Moralphilosophie Moraltheorie gelebte Sittlichkeit: nach historisch u. kulturell bedingten Normen handeln Was ist moralisch gut, richtig, angemessen oder nicht? Wie soll ich handeln? Gegenstand: moralische Fragen und deren Begründung Warum ist etwas moralisch richtig, geboten oder nicht? Warum soll ich in dieser Art handeln? Aristoteles Praktische Wissenschaften Ethik Rhetorik Ökonomik Staatslehre Sie verschreiben im Dienst ihrer Zwecke, was man zu tun, und was man zu lassen hat [Nik. Eth. 1094b] Die Genauigkeit darf man nicht bei allen Untersuchungen in gleichem Maße anstreben, so wenig als man das bei den verschiedenen Erzeugnissen der Künste und des Handwerks tut. Das sittlich Gute und das Gerechte, zeigt solche Gegensätze und solche Unbeständigkeit, dass es scheinen könnte, als ob es nur auf dem Gesetz, nicht auf der Natur beruhe.
14 Aristoteles weiche Normen und Exaktheitsgrad Und eine ähnliche Unbeständigkeit haftet auch den verschiedenen Gütern und Vorzügen an, indem viele durch sie zu schaden kommen. Schon mancher ist wegen seines Reichtums und mancher wegen seines Mutes zugrunde gegangen. So muss man sich denn, wo die Darstellung es mit einem solchen Gegenstand zu tun hat und von solchen Voraussetzungen ausgeht, damit zufrieden geben, die Wahrheit in gröberen Umrissen zu beschreiben. Und ebenso muss man, wo nur das häufiger Vorkommende behandelt und vorausgesetzt werden kann, auch nur solches folgern wollen. Ganz ebenso hat aber auch der Hörer die einzelnen Sätze aufzunehmen. Darin zeigt sich der Kenner, dass man in den einzelnen Gebieten je nach Grad von Genauigkeit verlangt, den die Natur der Sache zulässt, und es wäre genau so verfehlt, wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen, wie wenn man von einem Redner in einer Ratsversammlung strenge Beweise fordern wollte. [Nik. Eth. 1094b] Begriffsunschärfe Ethik und Ästhetik
15 Wittgenstein Begriffsunschärfe denk dir, du solltest zu einem verschwommenen Bild ein ihm entsprechendes scharfes entwerfen. In jenem ist ein unscharfes rotes Rechteck; du setzt dafür ein scharfes. Freilich es ließen sich ja mehrere solche scharfe Rechtecke ziehen, die dem unscharfen entsprächen. Wenn aber im Original die Farben ohne die Spur einer Grenze ineinander fließen, - wird es dann nicht eine hoffnungslose Aufgabe werden, ein dem verschwommenen entsprechendes scharfes Bild zu zeichnen? Wirst du dann nicht sagen müssen: Hier könnte ich ebenso gut einen Kreis, wie ein Rechteck, oder eine Herzform zeichnen; es fließen ja alle Farben durcheinander. Es stimmt alles und nichts. Und in dieser Lage befindet sich z.b. der, der in der Ästhetik, oder Ethik nach Definition sucht, die unseren Begriffen entsprechen. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M. 2001, IV, 77. Metaethik Klärt Begriffe und Strukturen ethischer Argumentationen Deontologie deon gr. die Pflicht betreffend Konsequentialistische Ethik Fragt, ob die Handlung den moralischen Pflichten entspricht Fragt nach der moralischen Qualität der Folgen einer Handlung Tugendethik Klugheit Gerechtigkeit Tapferkeit Besonnenheit Stellt den Charakter des Handelnden - als entscheidende Grundlage für Handlungsorientierung - in den Vordergrund
16 II. Zur Genese medizinischer Ethik Der hippokratische Eid (Entstehungskontext, Inhalt und Struktur) II. DIE BEDEUTUNG DES EIDES Erste ethisch-moralische Selbstverpflichtung von Ärzten Wirkung des Eides vom 5 Jh. v. Chr. bis heute Schwer zu interpretierender, dichter Text Adaptierungen Zahllose Metamorphosen des Eides Vorstellung einer humanen Medizin, die über sich reflektiert, die ihre eigenen Grenzen festlegt.
17 II. ENTSTEHUNGSKONTEXT Der Eid gehört zu den ca. 70 Schriften des Corpus hippocraticum Unsichere Datierung und Autorenschaft um 500/425 v. Chr. in Kos Hippokrates oder seine Schüler Hippokrates 1. Jh. v. Ch., Ephesos II. FUNKTION Ungeregeltes Gesundheitssystem in der griechischen Antike Ärzte, Priesterärzte, Hebammen, Magier und Scharlatane Eid als Instrument der Abgrenzung und Interessenvertretung Gruppe standesbewusster Ärzte fachinterne Qualifizierung und Disziplinierung Medizin = techne: erlernbare Kunstfertigkeit mit Regeln, Zielen und Berufsethos
18 Eid als Selbstverpflichtung des Arztes gegenüber: Göttern Lehrern und Schülern Patienten Normierung von Beruf und Leben des Arztes: Professionalität Vertrauensbildung Ansehen Weihrelief, Asklepieion Athen, Ende 4. Jh. v. Chr. Der individuelle Patient im Fokus ärztlichen Interesses Gesundheit und Krankheit als Kontinuum Gesundheit als der individuell angemessene gute Zustand Der Arzt soll in der Lage sein, dem individuellen Kranksein gerecht zu werden GESUNDHEIT CH: De arte, III KRANKHEIT
19 II. Ringkomposition Götteranrufung [1] Gebot / Lehrvertrag [2] Gebot [3] Verbot [4] Lauterkeitsgebot [5] Verbot [6] Gebot [7] Gebot [8] Selbstverfluchung [9] II Religiöse Inhalte [1, 5, 9] 1. Ich schwöre und rufe Apollon den Arzt und Asklepios und Hygieia und Panakeia und alle Götter und Göttinnen zu Zeugen an, dass ich diesen Eid und diesen Vertrag nach meiner Fähigkeit und nach meiner Einsicht erfüllen werde. 5. Rein (hagnòs = integer*) und fromm (hosìos gesetzestreu *) werde ich mein Leben und meine Kunst bewahren. 9. Wenn ich diesen Eid erfülle und nicht breche, so sei mir beschieden, in meinem Leben und in meiner Kunst voranzukommen, indem ich Ansehen bei allen Menschen für alle Zeit gewinne; wenn ich ihn aber übertrete und breche, so geschehe mir das Gegenteil. Übersetzt von Hans Diller, (1962) 1994, S * Kudlien (1978)
20 Götteranrufung [1] Gebot / Lehrvertrag [2] Gebot [3] Verbot [4] Lauterkeitsgebot [5] Verbot [6] Gebot [7] Gebot [8] Selbstverfluchung [9] II Verbote [4, 6] nicht töten 4. Auch werde ich niemandem ein tödliches Mittel geben, auch nicht, wenn ich darum gebeten werde, und werde auch niemanden dabei beraten; auch werde ich keiner Frau ein Abtreibungsmittel [pessòn phtórion, fruchtabtreibendes Zäpfchen*] geben Ich werde nicht schneiden, sogar [oudè mén, jedenfalls nicht**] Steinleidende nicht, sondern werde das den Männern überlassen, die dieses Handwerk ausüben. * Deichgräber (1983); Rütten (1996) ** Kudlien (1978)
21 Götteranrufung [1] Gebot / Lehrvertrag [2] Gebot [3] Verbot [4] Lauterkeitsgebot [5] Verbot [6] Gebot [7] Gebot [8] Selbstverfluchung [9] II Gebote [3, 7] nützen und nicht schaden 3. Ärztliche Verordnungen werde ich treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden. 7. In alle Häuser, in die ich komme, werde ich zum Nutzen der Kranken hineingehen, frei von jedem bewussten Unrecht und jeder Übeltat, besonders von jedem geschlechtlichen Missbrauch an Frauen und Männern, Freien und Sklaven.
22 Götteranrufung [1] Gebot / Lehrvertrag [2] Gebot [3] Verbot [4] Lauterkeitsgebot [5] Verbot [6] Gebot [7] Gebot [8] Selbstverfluchung [9] II Gebote [2, 8] Lehrvertrag / Schweigegebot 2. Ich werde den, der mich diese Kunst gelehrt hat, gleich meinen Eltern achten, ihn an meinem Unterhalt teilnehmen lassen, ihm, wenn er in Not gerät, von dem Meinigen abgeben, seine Nachkommen gleich meinen Brüdern halten und sie diese Kunst lehren, wenn sie sie zu lernen verlangen, ohne Entgelt und Vertrag. Und ich werde an Vorschriften, Vorlesungen und aller übrigen Unterweisung meine Söhne und die meines Lehrers und die vertraglich verpflichteten und nach der ärztlichen Sitte vereidigten Schüler teilnehmen lassen, sonst aber niemanden. 8. Was ich bei der Behandlung oder auch außerhalb meiner Praxis im Umgang mit Menschen sehe und höre, das man nicht weiterreden darf, werde ich verschweigen und als Geheimnis bewahren.
23 II. DEUTUNGEN nützen und nicht schaden primum nil nocere Hauptziel Verbote als pars pro toto? kein tödlich wirkendes Mittel verabreichen kein Gebrauch v. keimtötenden Zäpfchen den Steinschnitt nicht selbst ausführen Euthanasieverbot? Abtreibungsverbot? Chirurgieverbot? III. Wirkungsgeschichte
24 Früheste Erwähnungen bei Ärzten und Nichtärzten (1. Jh. n. Chr.) Christianisierung des Eides Jesus anstatt Asklepios humanitas, charitas, misericordia Mittelalterliche Tradierung und Rezeption des Eides ab dem 9. Jh.: arabische Übersetzungen Renaissance: Neohippokratismus Bestandteil von Promotionseiden 1518 Wittenberg, 1550 Ingolstadt, 1558 Jena, 1570 Basel, 1607 Gießen Konrad von Ammenhausen, "Schachzabelbuch", 1467 Der Eid als autoritative Traditionssicherung Konkurrenz zwischen Laienund Universitätsmedizin Abgrenzungsbedarf von ausgebildeten Ärzten Moralisierung der Medizin Die Keuschheit des Hippokrates wird auf die Probe gestellt
25 Der Nürnberger Prozess 1946/47 Dez Aug.1947 Angeklagte: 23 Ärzte (22 Männer, 1 Frau) Verbrecherische medizinische Experimente Euthanasie Aktionen ( medical killing ) Veröffentlichte Dokumente zum Nürnberger Ärzteprozess: A. Mitscherlich/F. Mielke: Das Diktat der Menschenverachtung, Heidelberg 1947 Mitscherlich / F. Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit, Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses (1. Aufl. 1960) Frankfurt /M. 1995
26 Telford Taylor, Brigadengeneral, Vertreter der Anklage, : All of them violated the Hippocratic commandments which they had solemny sworn to uphold and abide by, including the fundamental principle never do to harm primum non nocere. Annas/Grodin: The Nazi Doctors and the Nuremberg Code, 1992, S. 87 Eid als Fundament der Anklage Richtlinien für neue Heilbehandlung und Versuche an Menschen (Reichsgesundheitsblatt, Bd.6, 1931 S. 174f. Dt. med. W.schr., Bd. 57, S. 509) Eid als zweifelhafter Bezugspunkt für den Arzt als Forscher Gefährliche medizinische Versuche an Freiwilligen würden dem hippokratischen Eid nicht widersprechen Andrew Ivy, Zeuge und Sachverständiger für Medizinische Ethik Eid als überholtes Dogma: Verteidiger und Angeklagte Robert Servatius, Verteidiger Karl Brandts ( ), SS-Generalleutnant, Reichskommissar f. Sanitätsund Gesundheitswesen, Begleitarzt Hitlers): Ob Malaria-Versuche an USA-Gefangenen (1945) mit dem hippokratischen Eid vereinbar seien?
27 Karl Brandt (nimmt Bezug auf W. Leibbrand, Zeuge der Anklage) [Zu dem] Abschnitt, durch den der Arzt aufgefordert wird, kein Gift, auch auf Verlangen, einem Kranken zu geben. Es ist ein Dogma, das [ ] in dieser Form sicher nicht mehr aufrecht erhalten werden kann. Ich bin überzeugt, dass, wenn Hippokrates heute leben würde, er seinem Eid eine andere Fassung gäbe [ ] Wenn heute der alte Hippokrates zitiert wird, wird gesagt, man soll Kranken und Schwerleidenden kein Gift geben, und ein Arzt, der so etwas einfach deklamiert und behauptet, ist entweder verlogen, oder es ist das eine Heuchelei. Aus: Mitscherlich / Mielke, Medizin ohne Menschlichkeit, 1995, S. 266 III DEKLARATIONEN Nach dem Nürnberger Ärzteprozess 1947: das amerikanische Gericht (Ärzte und Juristen) formuliert die 10 Grundsätze für zulässige medizinische Versuche Nürnberger Kodex 1948: in der Tradition des Eides, World Medical Association Serment d Hippocrate, Formule de Genève Das Genfer Gelöbnis (Deutsche Berufsordnung)
28 Declaration of Geneva (WMA) AT THE TIME OF BEING ADMITTED AS A MEMBER OF THE MEDICAL PROFESSION: I SOLEMNLY PLEDGE myself to consecrate my life to the service of humanity; I WILL GIVE to my teachers the respect and gratitude which is their due; I WILL PRACTICE my profession with conscience and dignity; THE HEALTH OF MY PATIENT will be my first consideration; I WILL RESPECT the secrets which are confided in me, even after the patient has died; I WILL MAINTAIN by all the means in my power, the honor and the noble traditions of the medical profession; MY COLLEGUES will be my sisters and brothers; I WILL NOT PERMIT considerations of age, disease or disability, creed, ethnic origin, gender, nationality, political affiliation, rece sexual orientation, or social standing to intervene between my duty and my patient; I WILL MAINTAIN the utmost respect for human life from ist beginning even under threat and I will not use my medical knowledge contrary to the laws of humanity; I MAKE THESE PROMISES solemnly, freely and upon my honor. (Muster-)Berufsordnung/Gelöbnis Für jeden Arzt gilt folgendes Gelöbnis: Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse auch über den Tod des Patienten hinaus wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keinen Unterschied machen weder nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht in Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Kollegen die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich auf meine Ehre. III ENDE EINES MYTHOS? Welche Bedeutung für heutige Ärzte? Der Eid ist kein zeitloses Grundgesetz Traditionsbezugspunkt Garant für ethisches Bewusstsein in der Medizin Noch gültige Aussagen: Wohl des Patienten Schadensvermeidung Schweigepflicht Kein Missbrauch ärztlicher Macht
29 Vier Prinzipien der biomedizinischen Ethik Autonomie (respect for autonomie) Schadensvermeidung (nonmaleficence) Fürsorge (beneficence) Gerechtigkeit (justice) Wohl des Patienten Schadensvermeidung Schweigepflicht Kein Missbrauch ärztlicher Macht
30 Der Eid als Protest gegen NS-Medizin Öffentlicher Vortrag des Pathologen Franz Büchner am 18.November 1941: Der Eid des Hippokrates. Die Grundgesetze der ärztlichen Ethik Franz Büchner ( ) Titelblatt der (gekürzten) Erstveröffentlichung 1945 Berufung auf hippokratisches Ethos Protest gegen die Euthanasie Menschenleben als höchster Wert Rhetorische Tarnung: K.Binding / A. Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, 1920 Tötung von Unheilbaren bzw. geistig Toten als nichtstrafbar und als wünschenswertes Ziel für die allgemeine Wohlfahrt erklärt EID-ZITAT: Ich werde niemanden, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur dazu raten
31 Ausschnitt von Blatt 28 des Originalmanuskripts des Vortrags vom in Nürnberg, Familienarchiv Büchner aus Leven, K.-H. (2002), S. 377.
32 Begriffe Palliative Medizin Ich schlief als er starb. Ich hatte im Krankenhaus angerufen, um ein letztes Mal Gute Nacht zu sagen, aber er war weggedämmert, eingehüllt in einem Mantel aus Morphium Patti Smith, Just Kids, 2010
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