Beitrag: Schutzlose Kinder Personalnot im Jugendamt
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- Ingrid Seidel
- vor 8 Jahren
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1 Manuskript Beitrag: Schutzlose Kinder Personalnot im Jugendamt Sendung vom 30. September 2014 von Beate Frenkel Anmoderation: Jedes sechste Kind ist schlimmsten Schlägen ausgesetzt. Jedem zehnten Mädchen wird sexuell Gewalt angetan. Das ist die grausame Wirklichkeit in neuen Zahlen, erhoben weltweit vom Kinderhilfswerk UNICEF, und eigentlich unfassbar: Für viele Kinder ist ihr Zuhause eine Folterkammer. Sie werden getreten, verbrüht, geschüttelt, vergewaltigt. Auch in Deutschland. Mitten unter uns, und meistens übersehen. Denn die Kinder leiden still. Erst wenn ein Kind stirbt, werden seine Qualen für alle unerträglich offensichtlich, und alle stellen sich zu spät die Frage, wie das passieren konnte. Beate Frenkel war bei denen, auf die dann alle mit dem Finger zeigen: Die Mitarbeiter vom Jugendamt. Sie sollen Kindern in Not helfen. Doch die Helfer rufen selbst um Hilfe. Text: Von hier soll Hilfe kommen. Das Jugendamt Berlin-Mitte, Stadtteil Wedding. Alle die hier arbeiten, kümmern sich um Familien in Not. Vor allem um den Schutz von Kindern. Doch nur ein Büro steht offen. Heute sind Sie alleine hier? Ja, rein theoretisch arbeiten in meinem Team zehn Sozialarbeiter, davon sind ich will nichts Falsches sagen aber zwei Stellen gar nicht besetzt. Wir sind zu acht, und wir haben Krankheit, wir haben Urlaub. Das heißt: Olaf Lembke macht hier alles selbst. Kurz und per Telefon. Lembke, Jugendamt Mitte. Guten Tag.
2 Eine Mutter ist in Panik, sucht Hilfe vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Da gibt es ganz viele Schutzmöglichkeiten. Lemke empfiehlt ihr ein Frauenhaus, diktiert die Nummer. Mehr geht nicht, sagt der Sozialarbeiter. Er betreut knapp 100 Familien. Viel Erfolg. Tschüss. Wie will er da jeden einzelnen Fall, jedes Kind im Auge behalten? Ich hatte auch schon tote Kinder und das fällt nicht immer leicht, das nicht mit nach Hause zu nehmen. Aber es ist schon es geht an die Grenze, es geht an die Grenze. Die Angst ist permanent da. Die Angst ist berechtigt, weiß der Neuköllner Stadtrat Falco Liecke. Vor genau zwei Jahren starb ein Baby in seinem Bezirk. Lena, sieben Monate alt, wurde von ihrem Vater misshandelt, zu Tode geschüttelt. Das Jugendamt hatte Mutter und Kind betreut. Es gab einen öffentlichen Aufschrei. O-Ton Falco Liecke, CDU, Jugendstadtrat Neukölln, Berlin: Es hat mich emotional sehr stark belastet. Und ich habe gesagt, das möchte ich zum Anlass nahmen, dass wir was verändern. Das Kind darf nicht umsonst gestorben sein. Totgeprügelt vom eigenen Vater. Unter den Augen des Jugendamtes. Lena war der zweite Fall innerhalb weniger Monate in Berlin. Liecke erinnert sich: Damals waren sich in der Politik alle einig - mehr Personal für den Kinderschutz. O-Ton Falco Liecke, CDU, Jugendstadtrat Neukölln, Berlin: Es ist so, dass in solchen Fällen denn häufig die große Betroffenheit auch gezeigt wird und gesagt wird, ja, wie schrecklich. Auf der anderen Seite dann das ganz Konkrete, wo man sagt: Okay, wir ziehen jetzt unseren Lehren, unsere Konsequenzen daraus, wir wollen das aufarbeiten und wir wollen auch die notwendige Unterstützung geben, nicht nur mit warmen Worten, sondern ganz praktisch mit Ausstattung, mit Personal, mit Sachmitteln. Das hat mir gefehlt und das ist ein Punkt, den ich nach wie vor auch einfordere. Von wegen mehr Personal. - Wir sind chronisch unterbesetzt, sagt Verena Buchwald vom Jugendamt Mitte. Sie ist alarmiert. Gemeinsam mit ihrer Kollegin vom Gesundheitsdienst muss sie eine alleinerziehende Mutter überprüfen.
3 O-Ton Verena Buchwald, Jugendamt Mitte, Berlin: Da gab es eine Meldung, dass das Kind, dass die Ausstattung nicht okay sei, dass nicht genügend Nahrungsmittel, nicht genügend Pflegemittel da seien und die Mutter eben nicht in der Lage sein sollte, das Kind adäquat zu versorgen. Doch keiner macht auf. Und jetzt? O-Ton Verena Buchwald, Jugendamt Mitte, Berlin : Wir haben jetzt nicht so ein besonders gutes Gefühl, um es mal so zu formulieren, und werden auf jeden Fall so schnell wie möglich, gegebenenfalls heute Nachmittag noch einmal hingehen. O-Ton Barbara Birkenmeier, Jugendgesundheitsdienst Mitte, Berlin: Es handelt sich, um das zu ergänzen, ja nun auch um ein sehr kleines Baby noch. Und deswegen ist es dann natürlich auch dringlicher. Je kleiner das Kind, umso schwieriger wird die Situation. Im vergangenen Jahr wurden Kinder misshandelt, sagt die Polizeiliche Kriminalstatistik. 153 Kinder wurden getötet. Viele dieser Tragödien hätten verhindert werden können, sagt uns der Berliner Rechtsmediziner Michael Tsokos. Seit 20 Jahren obduziert er Kinder, die an den Folgen von Gewalt und Misshandlung sterben mussten. Ein Großteil der kleinen Opfer sei jünger als fünf Jahre alt. Viele der Verletzungen, stellt der Mediziner fest, wurden nachweislich über einen langen Zeitraum zugefügt. Tsokos zieht eine bittere Bilanz: Wir sehen natürlich schon einen Großteil von Fällen, bei denen man im Nachhinein sagen kann, wenn hier genauer hingeschaut worden wäre, wenn hier schneller reagiert worden wäre, wenn hier Warnsymptome erkannt worden wären, dann würde das Kind noch leben. Und das ist der Großteil der Fälle, die wir sehen. Der Rechtsmediziner spricht von einem schweren politischen Versagen. Sein Vorwurf: In Deutschland seien die Jugendämter schlecht gerüstet, die Mitarbeiter oft nicht ausreichend geschult. Verena Buchwald und ihre Kollegin starten einen neuen Versuch. Diesmal wird ihnen geöffnet. Die beiden sind nervös, wissen nicht, was sie erwartet. Hinter verschlossener Tür versucht sich die Sozialarbeiterin ein Bild zu machen. Ist die Mutter überfordert? Wie geht es dem Kind? Nach einer halben Stunde, Erleichterung. Das Baby scheint wohlauf.
4 O-Ton Verena Buchwald, Jugendamt Mitte, Berlin: Auf jeden Fall haben wir da appelliert, wir kontrollieren natürlich, wir rufen immer wieder an. Ich werde auch so einen Rhythmus einhalten, um immer wieder Kontakt aufzunehmen, aber das Thema bleibt natürlich. Das ist schon mühsam, oder? O-Ton Verena Buchwald, Jugendamt Mitte, Berlin: Ja, ist mühsam. Auch Stadtrat Liecke aus Neukölln tut was er kann. Er hat eine Schulung für die Mitarbeiter des Jugendamts organisiert. Michael Tsokos ist eingeladen. Der Rechtsmediziner zeigt Beispiele, woran man eine Misshandlung erkennen kann. Striemen, die eindeutig für Schläge sprechen. Oder hier auch geformte Verletzungen, von diesem Handyladekabel, mit dem das Kind ausgepeitscht wurde. Er berichtet von grauenvollen Fällen. Zeigt Dokumente von Kindern: vernachlässigt, gequält, verhungert. In diesem Zimmer haben sechs Kinder gelebt, sechs Geschwister haben in diesem einen Zimmer gelebt. Sie hatten keine Matratzen, sie sehen, dass der Kot bis an die Wände hochgeschmiert ist. Und das Erstaunliche ist, dass hier fünf Jahre lang jede Woche einmal eine Frau aus der Jugendhilfe in dieser Wohnung war. Eigentlich unvorstellbar. Wie kann das sein? Tsokos liefert die Erklärung: Weil sie nie in dieses Zimmer gegangen ist. Die ist immer durchgeführt worden, in das Wohnzimmer, das sehen wir hier, was nur noch leidlich in Ordnung war. Und da lag dann aber eines Tages dieses zweijährige Mädchen tot im Wohnzimmer. Die Sozialarbeiter müssen alles genau prüfen. Immer. Ohne Ausnahme. Wie soll das gehen in der Praxis? Zurück im Jugendamt Mitte. Ältere Kollegen lassen sich versetzen, die jüngeren springen ab. Die, die bleiben wie Diana Storr bekommen noch mehr auf den Tisch. Ein Fall, geerbt
5 von einer kranken Kollegin. Was ist das denn für ein Fall? O-Ton Diana Storr, Jugendamt Mitte, Berlin: Ja, das ist eine ganz lang bekannte Familie, also dem Jugendamt bekannt. Ich habe den Fall jetzt erst übernommen. Es sind 16 Bände. Es sind irgendwie fünf Jungs, soweit ich weiß, ein Mädchen und alle massiv auffällig. Die sogenannten Aktendullis lassen auf eine lange Vorgeschichte schließen. O-Ton Diana Storr, Jugendamt Mitte, Berlin: Die roten Aktendullis sind quasi stationäre Unterbringungen, ja. außerhalb der Herkunftsfamilie. Grüne Aktendullis sind ambulante Hilfen, ja, die sich im häuslichen Rahmen bewegen. Und das gelbe sind Familiengerichtsakten, ja. Und das ist ein gutes Potpourri aus allem hier. Sie können schon lange nicht mehr im Winter hissten die Mitarbeiter die weiße Fahne, als Zeichen ihrer Kapitulation. Kinderschutz braucht Kinderschützer steht auf dem Plakat. O-Ton Diana Storr, Jugendamt Mitte, Berlin: Es gab in der Vergangenheit schon einzelne Aktionen, ja, und man kann nicht aufhören damit, ja, weil momentan hat sich noch nichts verändert. Auch die Kollegen von Jugendhilfeausschuss haben immer wieder öffentlich gewarnt. Presseerklärungen, Dokumente, Pressemitteilungen. Thema, alles? Alles, die prekäre Situation im Kinderschutz. Was hat sich seitdem faktisch an der Arbeitsbelastung geändert?
6 Also, bestenfalls nichts. Wie finden Sie das? Wenn dann wieder mal ein Kind aus dem Fenster fliegt, dann ist die ganze Stadt erbost. Und wer hat das nicht verhindert und was hat das Jugendamt versäumt? Aber wie die Beschäftigten in den Jugendämtern überlastet sind und wie die eben nicht alle Fälle so betreuen können, wie sie gerne tun würden, das müsste einfach von den Strukturen und von der Finanzierung anders ausgestattet werden. Und das geschieht kaum. Wir fragen nach bei der Sozialsenatorin. Die lässt uns schriftlich mitteilen: Die Bezirke seien zuständig. Es ist wie fast überall in Deutschland: Für den Notstand in deutschen Jugendämtern will keiner verantwortlich sein. Haushaltsgespräch in Berlin-Mitte: Es geht um die Jugendämter und es geht wie immer - ums Geld und um Stellen. Können Sie fürs nächste Jahr Ihren Mitarbeitern im Jugendamt mehr Stellen versprechen? O-Ton: Sabine Smentek, SPD, Jugendstadträtin Mitte, Berlin: Nein, kann ich nicht. Ich kann ihnen aber versprechen, dass wir keine weiteren Stellen abbauen und dass wir daran arbeiten, dass es vielleicht im übernächsten Jahr klappt. Bittere Aussichten für Olaf Lembke und seine Kollegen - und für die vielen Kinder in Deutschland, die ihren Schutz brauchen. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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